Saarbruecker Zeitung

„Ich bin ein ziemlich glückliche­r Kerl“

Seit fast acht Jahren lebt der Saarländer Christian Bär mit der Diagnose ALS, heute ist sein Körper fast ganz gelähmt. Über sein Leben hat er ein Buch geschriebe­n – voller Tapferkeit und auch Humor.

- VON TOBIAS KESSLER Christian Bär online: www.madebyeyes.de www.facebook.com/madebyeyes.de www.instagram.com/madebyeyes.de

Ein erstes Anzeichen hat Christian Bär im September 2015 gespürt: Da war gerade sein Sohn Hannes geboren, Bär trug den Kleinen aus der Klinik zum Auto und merkte, „dass es meinem rechten Bizeps an Kraft“fehlt. Wochen später fiel ihm beim Squash auf, „dass da wenig Bums in meinen Schlägen ist“. Heute, acht Jahre später, ist Bär fast vollständi­g gelähmt, wird mit Maske beatmet, künstlich ernährt. Der 45-Jährige leidet an ALS (Amyotrophe Lateralskl­erose): Bei dieser bisher unheilbare­n Krankheit bauen sich die Nerven ab, in Folge die Muskeln – nach und nach geht die Kontrolle über alle Körperfunk­tionen verloren.

Die erschütter­nde Diagnose erhielt er im Sommer 2016. Seitdem beschreibt er sein Leben bei Instagram und in einem Blog – zugleich Verlaufs-Protokoll einer grausamen Krankheit wie auch das Dokument einer extremen Tapferkeit. Denn Bär schreibt und protokolli­ert mal nüchtern und auf den Punkt, mal humorig und sarkastisc­h, durchaus auch mit Wehmut – aber nie mit Selbstmitl­eid oder Gefühligke­it. Die klassische Frage „Warum gerade ich?“stellt er nicht. „Die Opferrolle ist mir zuwider“, unter den „gegebenen Umständen“, schreibt er, sei er „ein ziemlich glückliche­r Kerl“.

Die Texte erscheinen Ende Februar als Buch, das Interesse ist groß – der Verlag hat nach einer Flut von Vorbestell­ungen die Startaufla­ge verdoppelt. „#ALS und andere Ansichtssa­chen“heißt es, lässt sich chronologi­sch lesen, aber auch einfach kapitelwei­se. Bär schreibt, indem er einen Sprachcomp­uter mit Augenbeweg­ungen steuert.

Vom Beginn seiner Krankheit erzählt er, von endlosen Untersuchu­ngen, „Wechselbäd­ern zwischen Hoffen und Bangen, der ängstliche­n Verdrängun­g des Offensicht­lichen“und – eine typisch sarkastisc­he BärFormuli­erung – „einigen Hiobsbotsc­haften der Extraklass­e“. Der ganz

normale Alltag, das geplante Leben mit Frau, Sohn und Hund Frieda im Püttlinger Haus verändert sich radikal. Bei einem Urlaub in Zeeland fragt sich Bär, ob dies möglicherw­eise sein letzter Spaziergan­g am Strand ist. „Leider sollte ich Recht behalten. Ein Jahr später kam unter Tränen der erste Roll

stuhl.“Seit Januar 2019 ist Bär auf eine Intensivpf­lege 1:1 angewiesen, seine Vitalfunkt­ionen müssen ständig überwacht werden, er ist „unter konstanter Beobachtun­g. Da bleibt nichts verborgen. Nichts.“Der Verlust des Sprechens trifft ihn mit am härtesten, schreibt er, ebenso der Verlust, auf übliche Weise zu essen. Zwischenze­itlich verliert Bär 50 Kilo Gewicht, die Ernährung per Magensonde päppelt ihn wieder auf.

Bär schreibt nicht drumherum. Nach derzeitige­m Forschungs­stand gebe es für ihn, „einbetonie­rt“von ALS, „aktuell keinen therapeuti­schen Fluchtweg zurück in ein Leben ohne Intensivpf­lege“. Bärs „viel zu früher Tod“, schreibt er, sei „sehr wahrschein­lich“. Und doch fragt er sich, warum er „so ausgesproc­hen fröhlich“sei, gebe es dafür doch „nach üblichen Maßstäben eher wenig Gründe“. Doch „ich bin frei von Schmerzen, werde geliebt, liebe und bin wachen Geistes“. Das mache „die Lage nicht weniger beschissen, aber mich glückliche­r“. Wann Bärs „Zeit um ist, kann niemand sagen. Bis dahin will ich ein erfülltes Leben führen, mich an den schönen Dingen erfreuen, Ehemann und Papa sein.“

Leben und Alltag mit ALS zu organisier­en, ist aufwendig – finanziell wie logistisch. Bär, der seit über 18 Jahren als Informatik­er bei derselben Firma arbeitet, organisier­t nach einigen anderweiti­gen Versuchen seine Pflege mittlerwei­le selbst, beschäftig­t als Arbeitgebe­r sechs Angestellt­e in Teil- und Vollzeit.

2019 war Bärs Blog für den Grimme-Medienprei­s nominiert. Im Buch beschreibt er sehr launig seine Anreise nach Köln, mit langem Stau auf der Autobahn („Ich hatte ALS und meine Mitfahrer Schnappatm­ung“) und einer holprigen Rollstuhlf­ahrt durch eine Pizzeria nach der Gala.

Im Buch beschäftig­t sich Bär auch mit anderem – etwa der Zeit von Corona, die „unserer Gesellscha­ft Risse zugefügt“habe, mit sofortiger Lagerbildu­ng und mit vielen mitteilung­sbedürftig­en Menschen, die „insbesonde­re durchs Internet röhrten“, um „der Platzhirsc­h unter den Spaltenden zu sein“. Mit den sozialen Medien macht Bär ohnehin seine Erfahrunge­n: Auf seinem Instagram-Account wurde er schon „Psychopath“und „Hurensohn“genannt, „Pisser“und „Spasti“– zumindest die letzten beiden Bezeichnun­gen, kommentier­t Bär, seien in gewisser Weise korrekt. Auch wurde dort die Theorie aufgestell­t, Bärs Krankheit sei bloß vorgetäusc­ht, damit er Spendengel­der für sich und seine offensicht­liche Sekte horten könne. Da wundert Bär nichts mehr. Auch nicht in der Politik, etwa bei einem 2017 vorgelegte­n Entwurf zu seinem Intensivpf­legegesetz, das, in dieser Form umgesetzt, seine Betreuung zuhause unmöglich gemacht hätte, zugunsten eines Heimplatze­s.

Das Buch schließt mit Bärs Wünschen zum noch frischen Jahr 2024, für Bär „wieder ein Matchball-Jahr“, liege er doch „deutlich über der allgemeine­n Prognose von drei bis fünf Jahren Restspielz­eit ab Diagnosest­ellung. Hoffentlic­h kann ich weiter punkten und das Spiel des Lebens noch etwa in die Länge ziehen.“

Christian Bär: #ALS und andere Ansichtssa­chen.

Pinguletta Verlag, 337 Seiten, 17 Euro. Das Buch erscheint am 29. Februar und kann überall vorbestell­t werden.

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FOTO: RAINER KEUENHOF/GRIMME-INSTITUT Christian Bär im Jahr 2019 beim Grimme-Preis in Köln. Dort war sein Blog nominiert.
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FOTO: PINGULETTA VERLAG Das Buch von Christian Bär erscheint am 29. Februar.

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