Wenn die Familie für Kinder gefährlich wird
Seit 2021 kümmert sich ein Kinderschutzteam um Kindeswohlgefährdungen im Regionalverband – als eine Art schnelle Eingreiftruppe. Gleichzeitig hat sich die Zahl der gemeldeten Kindeswohlgefährdungen zwischen 2020 und 2022 verdoppelt.
Manchmal ist die eigene Familie für Kinder ein gefährlicher Ort. 1198 so genannte „Kindeswohlgefährdungen“wurden im Regionalverband Saarbrücken 2022 gemeldet. In etwas weniger als der Hälfte dieser Fälle konnte das Kinderschutzteam des Regionalverbandes zwar keine Gefährdung feststellen. 100 Kinder jedoch benötigten akut Hilfe, viele von ihnen mussten außerhalb ihrer Familien untergebracht werden. „Inobhutnahme“heißt das dann. Sie ist das letzte Mittel, die letzte bittere Konsequenz, um Kinder zu schützen, die akut gefährdet sind, psychisch oder körperlich Schaden zu nehmen, würden sie in ihren Familien bleiben.
„Seit es das Kinderschutzteam gibt, können wir schneller reagieren“, sagt Teamleiter Heiko Bluth. Sechs Sozialarbeiterinnen kümmern sich seit 2021 ausschließlich um das Kindeswohl. „Früher hatten unsere Partner in Schulen, Sozialraumbüros oder Kliniken im Grunde 100 Leute als potenzielle Ansprechpartner beim Sozialen Dienst“, erklärt er. Durch das neue spezialisierte Team könne man nicht nur schneller, sondern zielgerichteter reagieren und helfen. Eine erste wissenschaftliche Auswertung der Fachhochschule Münster bescheinigt dem Team höhere Effizienz. Denn gerade die Inobhutnahmen gelte es zu vermeiden. Wo möglich und verantwortbar biete man den Familien Hilfe an – durch Beratung und regelmäßige Besuche. Denn es gibt viel zu wenig vollstationäre Plätze. Gleichzeitig steigt der Bedarf, denn die Zahl der gemeldeten Kindeswohlgefährdungen im Regionalverband ist seit 2020 geradezu explodiert: Von 683 Meldungen 2020, auf 1198 im Jahr 2022 – ein Anstieg von rund 57 Prozent. Allen Meldungen wird nachgegangen. Bei knapp 20 Prozent der Fälle besteht Handlungsbedarf. Akut gefährdet waren 2022 100 Kinder (2020: 69; 2021: 47). „Latent gefährdet“wie es im sozialpädagogischen Fachjargon heißt, waren jeweils weitere zehn bis 13 Prozent der gemeldeten Fälle gemäß der Statistik des Sozialen Dienstes des Jugendamtes. 2022 waren das in absoluten Zahlen 153 Kinder oder Jugendliche.
Rund ein Drittel der gemeldeten Fälle braucht Hilfe, Tendenz – auch bundesweit laut Statistischem Bundesamt – steigend. Unterstützungsbedarf zum Beispiel bei der Erziehung hatten 2022 demnach 424 (ohne Kindeswohlgefährdung) der knapp 1200 aktenkundig gewordenen Fälle. Wie ist dieser explosionsartige Anstieg der Meldezahlen zu erklären? Heiko Bluth ist selbst überrascht. Es könne am neuen Datenverarbeitungssystem liegen, sagt er. Man zähle jetzt jedes betroffene Kind. „Als Beispiel: Zwei Fälle von Vermüllung der Wohnung. In Fall 1 lebt dort ein Kind, in Fall 2 leben dort sechs Kinder. Sind sieben Fälle.“Seit der Pandemie sei womöglich auch die Sensibilität für das Thema in der Gesellschaft gestiegen, spekuliert der Sozialarbeiter.
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„Jedenfalls wünsche ich mir das.“Auch die Selbstmeldungen durch Kinder und Jugendliche haben zugenommen, nicht nur im Regionalverband, auch bundesweit.
Ganz wesentlich zur schwierigen Versorgungssituation beigetragen habe zudem die wieder zunehmende Einreise unbegleiteter minderjähriger Migranten. Bluth spricht von um die 50 Jugendlichen, die im Regionalverband untergebracht und betreut werden müssten. „Wo es geht, weichen wir auf Verwandtenpflege aus“, sagt er. Auch für einige asylsuchende Jugendliche ist das eine Option, weil sie bereits Familie im Saarland haben. „Insgesamt haben die Jugendämter bundesweit 2022 die meisten Inobhutnahmen – nämlich rund 29 800 Fälle – wegen
dringender Kindeswohlgefährdungen durchgeführt (40 Prozent mehr als 2021)“, kann man auf den Seiten des Statistischen Bundesamtes nachlesen. „In 28 600 Fällen handelte es sich um Inobhutnahmen nach unbegleiteten Einreisen und in 8000 Fällen hatten die betroffenen Minderjährigen selbst um Inobhutnahme gebeten.“
2022 gab es im Regionalverband insgesamt 259 Inobhutnahmen. Rund 50 davon betrafen unbegleitet nach Deutschland eingereiste Kinder und Jugendliche. Der größte Teil waren Kinder, die aus ihren Familien herausgenommen und entweder in Einrichtungen der Jugendhilfe oder in Pflegefamilien untergebracht wurden. „Vor allem für Kinder im Vorschulalter versuchen wir, Pflege
familien zu finden“, sagt Bluth. Eine große, immer größer werdende Herausforderung. Der soziale Dienst sei schon jetzt überlastet, und die Zahlen hilfsbedürftiger Kinder und Familien steigen. Je jünger die Kinder, desto höher das Gefährdungsrisiko. „Eine Inobhutnahme ist immer gravierend“, erklärt der Kinderschutzteam-Leiter. „Die Kinder bringen ein großes Päckchen mit.“Soweit möglich setzt das Jugendamt auf ambulante Hilfen wie die sozialpädagogische, aufsuchende Familienhilfe. Auch teilstationäre Angebote gibt es, zum Beispiel spezielle Tagesgruppen, die auch die Eltern integrieren. Derzeit leben 402 Pflegekinder in 312 Pflegefamilien. „Um alle Bedarfe zu decken bräuchte man zirka 50 weitere Pflegefamilien“,
teilt der Regionalverband mit. Am Mittwoch, 21. Februar, gibt es dazu wieder eine Info-Veranstaltung im Jugendamt.
76,5 Millionen Euro sind im 666-Millionen-Euro-Haushalt 2024 für den Sozialen Dienst sowie die Sozialraumbüros des Jugendamtes vorgesehen. Teuer ist vor allem die Heim-Unterbringung: Sie kostet im Schnitt 190 Euro pro Tag. 580 Plätze stehen im Regionalverband zur Verfügung.
Pflegefamilien sind gesucht. Info-Veranstaltung am Mittwoch, 21. Februar, 18.30 Uhr, im Jugendamt in der Europaallee 11 am Saarbrücker Eurobahnhof. Anmeldung unter jugendamt-pflegekinder@rvsbr.de oder unter Tel. (06 81)
06-51 12.