Von der Leyen traut sich aus der Deckung
Seit sie sich den Rückhalt der Regierungen sichert, zweifelt niemand daran, dass Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin ansteuert. Doch offiziell hielt sie sich bislang zurück. Am Montag ändert sich das.
22 Jahre ist es nun her: Die gerade frisch gewählte Vizebürgermeisterin ihres 5000-Seelen-Heimatdorfes Ilten drängt mit Macht in den Landtag Niedersachsens, muss dafür den angestammten Wahlkreisbewerber beiseite schieben. Eine einzige Stimme mehr bekommt sie bei der Aufstellung, aber das CDULandesschiedsgericht entscheidet, dass sie ihr fälschlich zugerechnet wurde. Wochenlang muss sie zittern und kämpfen, dann klappt die Nominierung für den sicheren Wahlkreis. Es ist ihre letzte erfolgreiche Kandidatur. Als sie 2009, 2013 und 2017 für den Bundestag antritt, unterliegt sie ihrem örtlichen SPDKonkurrenten, schafft es nur über die Landesliste, ins Parlament einzuziehen. Am 9. Juni 2024 dürfte das anders laufen, wenn sie als europaweite Spitzenkandidatin der EVP-Familie den Sieg bei den Europawahlen will. Und auch wieder nicht.
Denn auch dieses Mal wird sie nicht ins Parlament gewählt. Kann sie es nicht. Denn sie hat alle Erwartungen durchkreuzt, ihre Ambitionen auf eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin spätestens bei der Aufstellung der niedersächsischen Europakandidatenliste offiziell zu machen. David McAllister wurde Spitzenkandidat in Niedersachsen, Manfred Weber in Bayern, Peter Liese in NRW, Christine Schneider in Rheinland-Pfalz, Andrea Wechsler in Baden-Württemberg. Ihre Namen werden auf den Wahlzetteln stehen. Der von der Leyens nicht. Nirgendwo.
Es ist die verquere Konstruktion einer Europäischen Union, in der bei den wichtigsten europaweiten Entscheidungen die nationalen Regierungen den Ton angeben. So sind denn europäische Spitzenkandidaturen nur theoretischer Natur. Es kann keinen europaweiten Wahlsieger geben, der dann mit einer Mehrheit im Parlament automatisch so etwas wie der Regierungschef Europas wird. Und doch hat die stärkste Partei den Anspruch, auch die neue EUKommission anzuführen. Machen die EU-Wähler also die Sozialdemokraten, Liberalen oder Grünen zur stärksten Kraft, kann von der Leyen ihre Karriere knicken. Es sei denn, es läuft so wie 2019. Da war Manfred Weber europaweiter Spitzenkandidat, bekam seine EVP die meisten Stimmen. Doch die anderen Fraktionen unterstützten ihn im Parlament nicht, und der Rat entschied sich unter Betreiben von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für Ursula von der Leyen.
Sie kennt das, seit sie als Tochter des langjährigen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht und Mutter von sieben Kindern selbst in die Politik
wechselte. Gar nicht erst parlamentarisch bewähren, sondern gleich Familienministerin. Zwei Jahre später ist sie bereits Familienministerin im Bund, vier Jahre später Arbeits- und Sozialministerin, weitere vier Jahre später tritt sie an die Spitze der Bundeswehr, kommt mit dem Prinzip von Befehl und Gehorsam bestens klar. So lange sie befiehlt.
Auch die Brüsseler Institutionen mögen zupackende Persönlichkeiten. Sie kommt nach Hause. Im doppelten Sinne: Hier wurde sie 1958 geboren, ging sie bis 1971 zur Schule,
musste sie Englisch und Französisch nicht erst lernen. Wie man eine Organisation auf sich konzentriert, macht sie schnell klar. Mancher Kommissar fremdelt damit, wie schwer er öffentlich durchdringt, weil die Spitze so vieles an sich zieht. Zumindest das, was die Präsidentin gut aussehen lassen könnte. Zudem fällt der gelernten Ärztin die Pandemie administrativ in den Schoß. Eigentlich hat die EU bei Corona nichts zu sagen. Doch von der Leyen holt sich das Okay aus den Mitgliedsländern und ordert Milliarden Impfdosen. Was seinerzeit
als ruckelnd wahrgenommen wird, erscheint in der Rückschau und im globalen Vergleich als nahezu genial.
Jedenfalls füllt es von der Leyens Erfolgskonto. Mehr noch ihre Krisendiplomatie rund um die UkraineRettung. Europa hier immer wieder zusammenzubringen, das hat viel mit ihrem Wirken zu tun. Sie macht Fehler, schiebt Sanktionspakete auf die Rampe, ohne sie ausreichend abgestimmt zu haben. Doch verglichen mit der Performance eines Ratspräsidenten Charles Michel oder eines Außenbeauftragten Josep Borrell spielt von der Leyen in der Krise in einer anderen Liga. Bereits 2022 erklärt das US-Magazin Forbes sie zur „mächtigsten Frau der Welt“. Mögen die anderen 27 Gipfelteilnehmer nach dem Gipfel mit der 50-Milliarden-Euro-Hilfszusage für die Ukraine ihre Rolle vor ihren nationalen Medien schildern, von der Leyen berichtet kurz darauf, sie habe darüber gerade „mit Joe Biden ein gutes Gespräch“gehabt.
Wer derart global glänzt, muss auf seine Bodenhaftung achten. Beinahe wäre ihr die verloren gegangen. In der Union lästerten viele über „Flintenuschi“und trugen ihr die unschöne Erpressung mit der Frauenquote von 2013 nach, als sie der eigenen Regierungsfraktion damit drohte, einem Oppositionsantrag zur Mehrheit zu verhelfen. Auch jetzt fremdelte die EVP mit vielen grünen Kommissionsprojekten. Dass die Chefin selbst jüngst die Pestizidverordnung nach dem Scheitern im Parlament ausdrücklich wieder vom Tisch nahm, wird als Versuch gewertet, sich klarer als Unionspolitikerin zu positionieren.
Doch sie braucht auch die anderen. Nur neun Stimmen betrug ihre Mehrheit 2019. Fünf Jahre später dürfte dies noch knapper sein. Es gibt bei ihrer Wahl zur EVP-Spitzenkandidatin zwar keine Konkurrenz, aber der Weg in eine zweite Amtszeit kann an vielen Stellen in eine Sackgasse führen. Vielleicht hat sie auch deshalb so lange gezögert, ihre Ambitionen offiziell zu machen und sich von der Präsidentin zur Kandidatin zu degradieren. Am Montag soll es in Berlin bei der Tagung der CDUSpitze so weit sein. Schon in den vergangenen Tagen war sie in Europa mit viel Power unterwegs, wirkte fast alterslos. Es ist ihr ganz spezielles Projekt „Rente mit 71“.
Schon in den vergangenen Tagen war sie in Europa mit viel Power unterwegs, wirkte fast alterslos.