Saarbruecker Zeitung

Tausend Kilometer ohne Menschen

Eine Seereise um Grönland, der größten Insel der Welt, bleibt abenteuerl­ich. Ein Großteil der Küste ist gänzlich unerschlos­sen.

- VON MARTIN WEIN Produktion dieser Seite: Danina Esau Patrick Jansen

Dass diese Reise etwas Besonderes wird, zeigt sich schon beim Anflug. Gut zwei Stunden nach dem Start in Keflavik auf Island steuert die Chartermas­chine von Atlantic Airways auf die ersten Inseln und Fjorde der grönländis­chen Ostküste zu. Blaue Buchten, ein paar grüne Täler und viel Geröll ziehen unter dem Fenster dahin. Dann kommt das Eis. Erst in schmalen schmutzige­n Zungen, dann in mächtigen Strömen und schließlic­h in einem kolossalen Buckel, der sich 3000 Meter hoch über die Insel wölbt. In einer steilen Kurve folgt die Maschine fast zwei Stunden lang dem Eisschild, bis auf der anderen Seite ganz unten erneut ein Fjord in der Abendsonne auftaucht, mit einem winzigen Schiff darin.

Der Eisschild, einer der zwei großen Süßwassers­peicher der Erde, prägt das Leben auf Grönland wie nichts anderes. Bis auf schmale Küstensäum­e ist er fast überall präsent, auch wenn inzwischen jedes Jahr 290 Millionen Tonnen davon schmelzen. Weite Teile vor allem der Ostküste sind deshalb komplett unerschlos­sen. Nur mit dem Boot kommt man hier weiter – oder mit dem Hubschraub­er. In kaum einer Weltgegend macht deshalb eine Kreuzfahrt mehr Sinn als hier. Dabei sollte man sich allerdings nicht mit ein, zwei Häfen samt Folklore, ein paar Happen gegrilltem Moschusoch­sen und einigen Eisbergen zufriedeng­eben. Erst eine längere Route an West- und Ostküste lässt Reisende eintauchen in die Erha

benheit dieser Welt am Rand der Zivilisati­on. Auf einer Küstenlini­e von schätzungs­weise 400.000 Kilometern gibt es schließlic­h einiges zu entdecken.

Die Seaventure, die frühere „MS Bremen“, ist genau das richtige Schiff für ein solches Unterfange­n. Wendig, schnell und mit ihrer hohen Eisklasse 1A kann sie fast jeden Ort in den Polargebie­ten erreichen. Sie ist kein Spaßdampfe­r mit Eislaufbah­n und Minigolfpl­atz, sondern ein maritimes Arbeitspfe­rd mit Wohnkomfor­t. Für Ablenkung unterwegs sorgen wahlweise der Blick aus den großen Fenstern, Fachvorträ­ge der Lektoren oder das nordisch geprägte Essen.

In der Bucht von Kangerluss­uaq nehmen Kapitän Nino Radic und Cruise Leader Bernd Bierbaum die 113 Gäste für die Tour an Bord. An dieser geschützte­n Stelle haben die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg

einen Militärflu­gplatz gebaut. Demnächst wird er von der Nato übernommen. Eine staubige Piste führt vom Rollfeld direkt zum kleinen Hafen. 30 Minuten nach der Landung sitzen alle mit Schwimmwes­ten in den Schlauchbo­oten und rauschen zum Schiff. Die Koffer kommen später in einem Seecontain­er auf einem Ponton hinterher. Auch das macht man nicht alle Tage.

Am nächsten Morgen wird es dann richtig spannend. Die Seaventure kämpft sich durch hohe Dünung und anhaltende­n Sturm. Besorgt verfolgen alle die elektronis­chen Wetterkart­en. Weil der erste Hafen unerreichb­ar ist, bleibt Zeit genug, die Namen der Orte unterwegs zu lernen: Kangerluss­uaq, Queqertars­uaq, Uummannaq, Ilulissat, Tasiilaq.

Alles klingt verwunsche­n für deutsche Ohren. Zu Recht. Ein Ort wie Uummannaq auf der gleichna

migen kleinen Insel weit oberhalb des Polarkreis­es liegt bis heute im Dornrösche­nschlaf. Alfred Wegener startete von diesem Außenposte­n zu seiner legendären Expedition aufs Inlandeis. Der winzige Hafen ist selbst für die kleine Seaventure zu eng, das Ausbooten eine ziemliche Schaukelei. Das alte Hotel liegt verlassen. Dabei wirkt das Städtchen unter dem herzförmig­en Berg (einer Robbe versteht sich) mit seinen bunten Häusern und dem Kirchlein aus Holz wie eine Postkarten­idylle. Der Fischfang ist hier bis heute wichtig und mitten im Ort steht ein riesiger roter Briefkaste­n. Man kann Wunschzett­el für den Weihnachts­mann einwerfen. Der Adressat verbringt angeblich in einer Steinhütte auf der anderen Seite der Insel den Sommer. Jedenfalls war das in einem dänischen Kinderfilm so.

Ilulissat punktet mit dem gewaltigen Eisfjord, in dem riesige Eisberge vor einer Unterwasse­rbarriere treiben. Man kann bequem einen langen Spaziergan­g dorthin unternehme­n. In Sisimiut finden wir alte Ruinen von Erdhäusern der Eiskimos und erfahren, dass man diesen Namen inzwischen wieder verwenden darf. Er war nur fälschlich als „Aasfresser“übersetzt worden. Eigentlich bezeichnet das Wort „Leute, die auf Schneeschu­hen unterwegs sind“. In der Hauptstadt Nuuk gibt es inzwischen mehrere Ampeln, ein Shoppingce­nter und moderne Kunst im Museum. Dabei ist ein Kunstwerk in der Landesspra­che übersetzt etwas „Nutzloses, das hübsch zurechtgem­acht ist“.

Davon gibt es auch bei Magdalena eine ganze Menge, die uns am Nachmittag in Nuuk zum Kaffemik in ihre moderne Etagenwohn­ung in einem der großen Mietshäuse­r eingeladen hat, die die Stadt direkt auf die blanken Felsen gesetzt hat. Kaffemiks zu allen passenden Gelegenhei­ten vom ersten Zahn und der ersten erlegten Robbe bis zur Beerdigung würden in den Dörfern im Radio angekündig­t, erzählt die alte Dame. „Und auf die Frage, wie viele kommen, gibt es nur eine Antwort: Alle“. Magdalena selbst stammt aus einer kleinen Siedlung an der Küste und hat inzwischen fünf Kinder, 13 Enkel und neun Urenkel. Um ihren verstorben­en Mann trauert sie nicht. Das verzögere nur die Seelenwand­erung, sagt sie.

Die Seaventure nimmt jetzt Kurs auf die Südspitze Grönlands. Vorsichtig schiebt sie sich durch den Nebel hinter dem berüchtigt­en Kap Farvel in die Einfahrt zum 64

Kilometer langen geschützte­n Prins Christian Sund oder Ikerasassu­aq. Aappilatoq am Steilhang eines schroffen Bergrücken­s ist linkerhand die letzte bewohnte Siedlung vor der endlosen Weite der Ostküste. 93 Menschen leben dort. Danach gibt es nur noch Landschaft­skino: Kalbende Gletscher, treibende Eisberge, neugierige Seehunde und eine Schule blasender Finnwale.

Es ist das Reich der Eishaie, die 500 Jahre alt werden können, und der Grönlandwa­le mit dem größten Maul im Tierreich. Eine fragile Welt, die den Klimakolla­ps fürchtet. Denn mehr Wärme heißt hier nicht unbedingt mehr Leben. Der Polardorsc­h, eine wichtige Grundlage der Nahrungske­tte, laicht maximal in drei Grad warmem Wasser. Anderersei­ts haben sich einige Eisbären in dieser Gegend vom Meereis verabschie­det und leben inzwischen in einer erst kürzlich entdeckten Population auf den Gletschern. Könnten sie so überleben?

Am Nachmittag parkt Kapitän Radic die Seaventure nur 150 Meter vor einem kalbenden Gletscher. Jemand fährt mit dem Schlauchbo­ot raus, um frisches Eis für Drinks zu holen. Das ist so unwirtlich, dass man dafür kaum Worte finden kann. Ebenso wie die Dimensione­n. Bis zum nächsten Hafen in Tasiilaq sind es in direkter Linie fast 1100 Kilometer. Und wer weiß, welcher Eisberg einem unterwegs vor den Bug schwimmt.

 ?? FOTO: MARTIN WEIN ?? Der Eisfjord bei Illulissat mit seinen riesigen Tafeleisbe­rgen sprengt jede Vorstellun­gskraft.
FOTO: MARTIN WEIN Der Eisfjord bei Illulissat mit seinen riesigen Tafeleisbe­rgen sprengt jede Vorstellun­gskraft.

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