Tausend Kilometer ohne Menschen
Eine Seereise um Grönland, der größten Insel der Welt, bleibt abenteuerlich. Ein Großteil der Küste ist gänzlich unerschlossen.
Dass diese Reise etwas Besonderes wird, zeigt sich schon beim Anflug. Gut zwei Stunden nach dem Start in Keflavik auf Island steuert die Chartermaschine von Atlantic Airways auf die ersten Inseln und Fjorde der grönländischen Ostküste zu. Blaue Buchten, ein paar grüne Täler und viel Geröll ziehen unter dem Fenster dahin. Dann kommt das Eis. Erst in schmalen schmutzigen Zungen, dann in mächtigen Strömen und schließlich in einem kolossalen Buckel, der sich 3000 Meter hoch über die Insel wölbt. In einer steilen Kurve folgt die Maschine fast zwei Stunden lang dem Eisschild, bis auf der anderen Seite ganz unten erneut ein Fjord in der Abendsonne auftaucht, mit einem winzigen Schiff darin.
Der Eisschild, einer der zwei großen Süßwasserspeicher der Erde, prägt das Leben auf Grönland wie nichts anderes. Bis auf schmale Küstensäume ist er fast überall präsent, auch wenn inzwischen jedes Jahr 290 Millionen Tonnen davon schmelzen. Weite Teile vor allem der Ostküste sind deshalb komplett unerschlossen. Nur mit dem Boot kommt man hier weiter – oder mit dem Hubschrauber. In kaum einer Weltgegend macht deshalb eine Kreuzfahrt mehr Sinn als hier. Dabei sollte man sich allerdings nicht mit ein, zwei Häfen samt Folklore, ein paar Happen gegrilltem Moschusochsen und einigen Eisbergen zufriedengeben. Erst eine längere Route an West- und Ostküste lässt Reisende eintauchen in die Erha
benheit dieser Welt am Rand der Zivilisation. Auf einer Küstenlinie von schätzungsweise 400.000 Kilometern gibt es schließlich einiges zu entdecken.
Die Seaventure, die frühere „MS Bremen“, ist genau das richtige Schiff für ein solches Unterfangen. Wendig, schnell und mit ihrer hohen Eisklasse 1A kann sie fast jeden Ort in den Polargebieten erreichen. Sie ist kein Spaßdampfer mit Eislaufbahn und Minigolfplatz, sondern ein maritimes Arbeitspferd mit Wohnkomfort. Für Ablenkung unterwegs sorgen wahlweise der Blick aus den großen Fenstern, Fachvorträge der Lektoren oder das nordisch geprägte Essen.
In der Bucht von Kangerlussuaq nehmen Kapitän Nino Radic und Cruise Leader Bernd Bierbaum die 113 Gäste für die Tour an Bord. An dieser geschützten Stelle haben die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg
einen Militärflugplatz gebaut. Demnächst wird er von der Nato übernommen. Eine staubige Piste führt vom Rollfeld direkt zum kleinen Hafen. 30 Minuten nach der Landung sitzen alle mit Schwimmwesten in den Schlauchbooten und rauschen zum Schiff. Die Koffer kommen später in einem Seecontainer auf einem Ponton hinterher. Auch das macht man nicht alle Tage.
Am nächsten Morgen wird es dann richtig spannend. Die Seaventure kämpft sich durch hohe Dünung und anhaltenden Sturm. Besorgt verfolgen alle die elektronischen Wetterkarten. Weil der erste Hafen unerreichbar ist, bleibt Zeit genug, die Namen der Orte unterwegs zu lernen: Kangerlussuaq, Queqertarsuaq, Uummannaq, Ilulissat, Tasiilaq.
Alles klingt verwunschen für deutsche Ohren. Zu Recht. Ein Ort wie Uummannaq auf der gleichna
migen kleinen Insel weit oberhalb des Polarkreises liegt bis heute im Dornröschenschlaf. Alfred Wegener startete von diesem Außenposten zu seiner legendären Expedition aufs Inlandeis. Der winzige Hafen ist selbst für die kleine Seaventure zu eng, das Ausbooten eine ziemliche Schaukelei. Das alte Hotel liegt verlassen. Dabei wirkt das Städtchen unter dem herzförmigen Berg (einer Robbe versteht sich) mit seinen bunten Häusern und dem Kirchlein aus Holz wie eine Postkartenidylle. Der Fischfang ist hier bis heute wichtig und mitten im Ort steht ein riesiger roter Briefkasten. Man kann Wunschzettel für den Weihnachtsmann einwerfen. Der Adressat verbringt angeblich in einer Steinhütte auf der anderen Seite der Insel den Sommer. Jedenfalls war das in einem dänischen Kinderfilm so.
Ilulissat punktet mit dem gewaltigen Eisfjord, in dem riesige Eisberge vor einer Unterwasserbarriere treiben. Man kann bequem einen langen Spaziergang dorthin unternehmen. In Sisimiut finden wir alte Ruinen von Erdhäusern der Eiskimos und erfahren, dass man diesen Namen inzwischen wieder verwenden darf. Er war nur fälschlich als „Aasfresser“übersetzt worden. Eigentlich bezeichnet das Wort „Leute, die auf Schneeschuhen unterwegs sind“. In der Hauptstadt Nuuk gibt es inzwischen mehrere Ampeln, ein Shoppingcenter und moderne Kunst im Museum. Dabei ist ein Kunstwerk in der Landessprache übersetzt etwas „Nutzloses, das hübsch zurechtgemacht ist“.
Davon gibt es auch bei Magdalena eine ganze Menge, die uns am Nachmittag in Nuuk zum Kaffemik in ihre moderne Etagenwohnung in einem der großen Mietshäuser eingeladen hat, die die Stadt direkt auf die blanken Felsen gesetzt hat. Kaffemiks zu allen passenden Gelegenheiten vom ersten Zahn und der ersten erlegten Robbe bis zur Beerdigung würden in den Dörfern im Radio angekündigt, erzählt die alte Dame. „Und auf die Frage, wie viele kommen, gibt es nur eine Antwort: Alle“. Magdalena selbst stammt aus einer kleinen Siedlung an der Küste und hat inzwischen fünf Kinder, 13 Enkel und neun Urenkel. Um ihren verstorbenen Mann trauert sie nicht. Das verzögere nur die Seelenwanderung, sagt sie.
Die Seaventure nimmt jetzt Kurs auf die Südspitze Grönlands. Vorsichtig schiebt sie sich durch den Nebel hinter dem berüchtigten Kap Farvel in die Einfahrt zum 64
Kilometer langen geschützten Prins Christian Sund oder Ikerasassuaq. Aappilatoq am Steilhang eines schroffen Bergrückens ist linkerhand die letzte bewohnte Siedlung vor der endlosen Weite der Ostküste. 93 Menschen leben dort. Danach gibt es nur noch Landschaftskino: Kalbende Gletscher, treibende Eisberge, neugierige Seehunde und eine Schule blasender Finnwale.
Es ist das Reich der Eishaie, die 500 Jahre alt werden können, und der Grönlandwale mit dem größten Maul im Tierreich. Eine fragile Welt, die den Klimakollaps fürchtet. Denn mehr Wärme heißt hier nicht unbedingt mehr Leben. Der Polardorsch, eine wichtige Grundlage der Nahrungskette, laicht maximal in drei Grad warmem Wasser. Andererseits haben sich einige Eisbären in dieser Gegend vom Meereis verabschiedet und leben inzwischen in einer erst kürzlich entdeckten Population auf den Gletschern. Könnten sie so überleben?
Am Nachmittag parkt Kapitän Radic die Seaventure nur 150 Meter vor einem kalbenden Gletscher. Jemand fährt mit dem Schlauchboot raus, um frisches Eis für Drinks zu holen. Das ist so unwirtlich, dass man dafür kaum Worte finden kann. Ebenso wie die Dimensionen. Bis zum nächsten Hafen in Tasiilaq sind es in direkter Linie fast 1100 Kilometer. Und wer weiß, welcher Eisberg einem unterwegs vor den Bug schwimmt.