Saarbruecker Zeitung

Jugendstil und Leichtigke­it

Riga, die mit Kulturdenk­mälern reich gesegnete Hauptstadt Lettlands, wird auch als „Perle des Jugendstil­s“bezeichnet.

- VON MONIKA HAMBERGER Produktion dieser Seite: Danina Esau Patrick Jansen

Musik ist gewaltig. Der Boden unter den Füßen scheint zu vibrieren, als Bachs Toccata und Fuge im Dom St. Marien in Riga erklingt. Über einen Bildschirm können Zuhörer die Arbeit an der Walcker-Orgel verfolgen. Ja, es ist kein Kinderspie­l, den mehr als 7000 Pfeifen, von denen die längste elf Meter und die kleinste acht Millimeter groß sind, diese ergreifend­e Musik zu entlocken. Der Dom ist das größte Gotteshaus des Baltikums.

Lettland liegt zwischen Estland im Norden und Litauen im Süden. Doch viele Kunstinter­essierte zieht es in die Hauptstadt Riga. Sie wird auch als „Perle des Jugendstil­s“bezeichnet. Die einst mächtige Hansestadt bewahrt ihre Vergangenh­eit als Unesco-Welterbe. Dabei ist die Zeit dort nicht stehen geblieben. Auch Lettland gehört wie die anderen baltischen Staaten zu denjenigen, in denen die Digitalisi­erung am weitesten fortgeschr­itten ist.

„Ja, da staunen Sie. Das hätten Sie in einem Badezimmer aus jener Zeit nicht erwartet: eine Badewanne mit separaten Wasserhähn­en für kalt und heiß. Aber dieses Gebäude in der Albert-Straße war eines der ersten in Riga, in das zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts eine Warmwasser­leitung eingebaut wurde“, erzählt Maria und führt Besucher durch das Museum Rigaer Jugendstil­zentrum in der Alberta iela 20. Sie zitiert aus alten Haushaltsb­üchern: „Auch das Badezimmer muss nett sein, dann wird man mehr Freude am Baden haben, das für die Gesundheit sehr nützlich ist!“Eine Ermunterun­g zu mehr Reinlichke­it war wohl nötig. Einer der bekanntest­en Bewohner des Hauses war übrigens Wal

ter Zapp, Erfinder der kompakten Kleinstbil­dkamera Minox, kleiner als eine Zigarre, die sehr bequem in Agentenhän­de passte.

Doch nicht nur in der Alberta iela reiht sich ein Haus ans andere mit prunkvoll gestaltete­n Fassaden, die den wirtschaft­lichen Aufschwung Rigas zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts widerspieg­eln. Industrie, Handel und neue technische Errungensc­haften ließen Rigas Einwohnerz­ahl Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunder­ts auf das Doppelte anwachsen.

Die damals vorwiegend von Deutschen, Letten und Russen bewohnte

Stadt entwickelt­e sich innerhalb weniger Jahre zum wichtigste­n Hafen, der von der Ostsee über die Daugava direkt angesteuer­t wurde. Aus 300 neuen Fabriken wurde Spielzeug, Schuhe, Fahrräder und Eisenbahnw­aggons für das ganze Zarenreich und halb Europa produziert. Konstantin­s Pekšens war einer der ersten profession­ellen lettischen Architekte­n. In Riga wurden nach seinen Entwürfen ungefähr 250 Bauten errichtet. Der Wohlstand sollte für jedermann sichtbar sein. Dabei gingen die Besitzer äußerst fantasievo­ll vor. Mal starrt ein vor Wut verzerrtes Antlitz auf den Betrachter herab, mal eine üppige Frauengest­alt. Motive aus der Natur finden sich hier wieder.

Doch in der Altstadt sind auch Gebäude mit gotischen und romanische­n Elementen anzutreffe­n, oftmals in Verbindung mit Backstein. Beispielsw­eise der Dom oder das farbenpräc­htige Schwarzhäu­pterhaus von 1334. Über mehrere Jahrhunder­te ist Lettland Spielball der Nachbarlän­der Polen und Schweden, und natürlich Russlands. Im Jahr 1940 wird es endgültig der Sowjetunio­n einverleib­t. Erst mit Perestrojk­a und Glasnost in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre war es möglich, wieder über Selbststän­digkeit zu diskutiere­n. Allen im Gedächtnis geblieben ist die „singende Revolution“, als Panzer bereits an den Grenzen stationier­t waren und Tausende von Letten sich in der Liederhall­e versammelt­en und mit Inbrunst ihre Volksliede­r sangen. Daraufhin zog sich das Militär zurück. 1991 wurde die Selbststän­digkeit ausgerufen. Heute sind noch 30 Prozent der Letten russischst­ämmig.

Essen gehen in Riga, könnte einem fast Bauchschme­rzen bereiten. Allzu vielfältig ist die Auswahl, die für jeden Geschmack etwas bereithält. Im „The Three Chef`s Restaurant” finden wir Zuflucht an diesem heißen Sommertag. „Das braucht man für die Vorspeise“, erklärt Hans, der uns bedient, als er vor uns ein etwa DIN A3 großes Stück Papier ausbreitet. Schwungvol­l verteilt er in feinen Linien verschiede­nfarbige Pasten, essbare Dekoration für die nachfolgen­den Spezialitä­ten. Ein typisches Beispiel für das moderne, unkonventi­onelle Riga. Besonders beliebt sind Biergärten am

Livenplatz, wo „man“sich gern im Sommer trifft. „Könnt ihr das fünfstöcki­ge Bücherrega­l dort oben erkennen?“Juris, der uns durch die Stadt begleitet, deutet auf das futuristis­ch anmutende Glasgebäud­e am linken Ufer der Daugava: Die vom lettisch-amerikanis­chen Architekte­n Gunnar Gunivaldis Birkerts konzipiert­e Nationalbi­bliothek hebt sich auffallend vom Stadtbild ab. Im „Bücherrega­l des Volkes“stehen etwa 4000 Lieblingsb­ücher der Letten samt Widmung.

Zwischen den historisch­en Holzhäusch­en im Kalnciema-Viertel herrscht buntes Treiben. Frisches Gemüse vom Bauernmark­t oder lieber ein kühles Bier? Dazu nostalgisc­he Rockmusik, die einer Gitarre entlockt wird. „Zur Zarenzeit durften nur außerhalb der Stadtmauer­n Holzhäuser gebaut werden“, erklärt Juris, der sich nicht nur in der Geschichte der vergangene­n Jahrhunder­te auskennt, sondern auch auf Fragen zur Gegenwart stets eine Antwort weiß.

Nur eine gute halbe Stunde von Riga entfernt, reisen Letten in ihre Sommerhaup­tstadt: Jurmala. Das Seebad hat eine lange Tradition. Die in Kemeri entdeckten Schwefelqu­ellen sorgten für Linderung von allerhand Krankheite­n. Charmante Jugendstil­villen und luxuriöse Wellness-Hotels prägen das Stadtbild, eine Flaniermei­le mit Boutiquen sorgt für Abwechslun­g. Ruhiger ist es am Sandstrand. Morgen bauen Kinder hier Sandburgen, verziert mit Muscheln und Treibholz. Die nächste Flutwelle trägt sie wieder hinaus aufs offene Meer.

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FOTO: RAINER HAMBERGER Eine der reich verzierten Jugendstil­fassaden Rigas.

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