Jugendstil und Leichtigkeit
Riga, die mit Kulturdenkmälern reich gesegnete Hauptstadt Lettlands, wird auch als „Perle des Jugendstils“bezeichnet.
Musik ist gewaltig. Der Boden unter den Füßen scheint zu vibrieren, als Bachs Toccata und Fuge im Dom St. Marien in Riga erklingt. Über einen Bildschirm können Zuhörer die Arbeit an der Walcker-Orgel verfolgen. Ja, es ist kein Kinderspiel, den mehr als 7000 Pfeifen, von denen die längste elf Meter und die kleinste acht Millimeter groß sind, diese ergreifende Musik zu entlocken. Der Dom ist das größte Gotteshaus des Baltikums.
Lettland liegt zwischen Estland im Norden und Litauen im Süden. Doch viele Kunstinteressierte zieht es in die Hauptstadt Riga. Sie wird auch als „Perle des Jugendstils“bezeichnet. Die einst mächtige Hansestadt bewahrt ihre Vergangenheit als Unesco-Welterbe. Dabei ist die Zeit dort nicht stehen geblieben. Auch Lettland gehört wie die anderen baltischen Staaten zu denjenigen, in denen die Digitalisierung am weitesten fortgeschritten ist.
„Ja, da staunen Sie. Das hätten Sie in einem Badezimmer aus jener Zeit nicht erwartet: eine Badewanne mit separaten Wasserhähnen für kalt und heiß. Aber dieses Gebäude in der Albert-Straße war eines der ersten in Riga, in das zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Warmwasserleitung eingebaut wurde“, erzählt Maria und führt Besucher durch das Museum Rigaer Jugendstilzentrum in der Alberta iela 20. Sie zitiert aus alten Haushaltsbüchern: „Auch das Badezimmer muss nett sein, dann wird man mehr Freude am Baden haben, das für die Gesundheit sehr nützlich ist!“Eine Ermunterung zu mehr Reinlichkeit war wohl nötig. Einer der bekanntesten Bewohner des Hauses war übrigens Wal
ter Zapp, Erfinder der kompakten Kleinstbildkamera Minox, kleiner als eine Zigarre, die sehr bequem in Agentenhände passte.
Doch nicht nur in der Alberta iela reiht sich ein Haus ans andere mit prunkvoll gestalteten Fassaden, die den wirtschaftlichen Aufschwung Rigas zu Beginn des 20. Jahrhunderts widerspiegeln. Industrie, Handel und neue technische Errungenschaften ließen Rigas Einwohnerzahl Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts auf das Doppelte anwachsen.
Die damals vorwiegend von Deutschen, Letten und Russen bewohnte
Stadt entwickelte sich innerhalb weniger Jahre zum wichtigsten Hafen, der von der Ostsee über die Daugava direkt angesteuert wurde. Aus 300 neuen Fabriken wurde Spielzeug, Schuhe, Fahrräder und Eisenbahnwaggons für das ganze Zarenreich und halb Europa produziert. Konstantins Pekšens war einer der ersten professionellen lettischen Architekten. In Riga wurden nach seinen Entwürfen ungefähr 250 Bauten errichtet. Der Wohlstand sollte für jedermann sichtbar sein. Dabei gingen die Besitzer äußerst fantasievoll vor. Mal starrt ein vor Wut verzerrtes Antlitz auf den Betrachter herab, mal eine üppige Frauengestalt. Motive aus der Natur finden sich hier wieder.
Doch in der Altstadt sind auch Gebäude mit gotischen und romanischen Elementen anzutreffen, oftmals in Verbindung mit Backstein. Beispielsweise der Dom oder das farbenprächtige Schwarzhäupterhaus von 1334. Über mehrere Jahrhunderte ist Lettland Spielball der Nachbarländer Polen und Schweden, und natürlich Russlands. Im Jahr 1940 wird es endgültig der Sowjetunion einverleibt. Erst mit Perestrojka und Glasnost in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre war es möglich, wieder über Selbstständigkeit zu diskutieren. Allen im Gedächtnis geblieben ist die „singende Revolution“, als Panzer bereits an den Grenzen stationiert waren und Tausende von Letten sich in der Liederhalle versammelten und mit Inbrunst ihre Volkslieder sangen. Daraufhin zog sich das Militär zurück. 1991 wurde die Selbstständigkeit ausgerufen. Heute sind noch 30 Prozent der Letten russischstämmig.
Essen gehen in Riga, könnte einem fast Bauchschmerzen bereiten. Allzu vielfältig ist die Auswahl, die für jeden Geschmack etwas bereithält. Im „The Three Chef`s Restaurant” finden wir Zuflucht an diesem heißen Sommertag. „Das braucht man für die Vorspeise“, erklärt Hans, der uns bedient, als er vor uns ein etwa DIN A3 großes Stück Papier ausbreitet. Schwungvoll verteilt er in feinen Linien verschiedenfarbige Pasten, essbare Dekoration für die nachfolgenden Spezialitäten. Ein typisches Beispiel für das moderne, unkonventionelle Riga. Besonders beliebt sind Biergärten am
Livenplatz, wo „man“sich gern im Sommer trifft. „Könnt ihr das fünfstöckige Bücherregal dort oben erkennen?“Juris, der uns durch die Stadt begleitet, deutet auf das futuristisch anmutende Glasgebäude am linken Ufer der Daugava: Die vom lettisch-amerikanischen Architekten Gunnar Gunivaldis Birkerts konzipierte Nationalbibliothek hebt sich auffallend vom Stadtbild ab. Im „Bücherregal des Volkes“stehen etwa 4000 Lieblingsbücher der Letten samt Widmung.
Zwischen den historischen Holzhäuschen im Kalnciema-Viertel herrscht buntes Treiben. Frisches Gemüse vom Bauernmarkt oder lieber ein kühles Bier? Dazu nostalgische Rockmusik, die einer Gitarre entlockt wird. „Zur Zarenzeit durften nur außerhalb der Stadtmauern Holzhäuser gebaut werden“, erklärt Juris, der sich nicht nur in der Geschichte der vergangenen Jahrhunderte auskennt, sondern auch auf Fragen zur Gegenwart stets eine Antwort weiß.
Nur eine gute halbe Stunde von Riga entfernt, reisen Letten in ihre Sommerhauptstadt: Jurmala. Das Seebad hat eine lange Tradition. Die in Kemeri entdeckten Schwefelquellen sorgten für Linderung von allerhand Krankheiten. Charmante Jugendstilvillen und luxuriöse Wellness-Hotels prägen das Stadtbild, eine Flaniermeile mit Boutiquen sorgt für Abwechslung. Ruhiger ist es am Sandstrand. Morgen bauen Kinder hier Sandburgen, verziert mit Muscheln und Treibholz. Die nächste Flutwelle trägt sie wieder hinaus aufs offene Meer.