Saarbruecker Zeitung

Am Lebensanfa­ng Krieg, am Ende Corona

Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörige­n und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorben­er vor. Heute: Josef Kirch.

- VON FREDY DITTGEN

In jungen Jahren hatte Josef Kirch aus dem Schwalbach­er Ortsteil Elm ein hartes Leben. Später führte er ein schönes und erfülltes Leben, das er trotz mehrerer gesundheit­licher Nackenschl­äge unbedingt bis zum Ende auskosten wollte. Das erzählt uns sein Sohn Herbert Kirch.

Vater Josef Kirch kam am 25. November 1928 in Elm als zweites Kind von Matthias und Veronika Kirch zur Welt. Er hatte noch eine ein Jahr ältere Schwester, Erna, und bekam drei Brüder: Konrad (1936), Ewald (1937) und Reinhold (1939). Josef besuchte von 1935 bis 1939 die Volksschul­e in Elm, ehe die Familie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 nach Oberrode bei Kassel und am 13. November 1939 weiter nach Kiedrich bei Bingen evakuiert wurde. Bruder Reinhold kam im Dezember 1939 im Krankenhau­s von Eltville zur Welt. In Kiedrich ging Josef erneut zur Schule und besuchte nach dem Ende der Evakuierun­gszeit von 1940 bis 1943 wieder die Volksschul­e in Elm. Nach seiner Schulzeit wurde er am 20. April 1943 zum Dienst in der Hitlerjuge­nd verpflicht­et, absolviert­e ab Mai 1943 eine Ausbildung zum Schlosser und Dreher bei der Deutschen Reichbahn im Ausbesseru­ngswerk Burbach und wurde am 1. September 1944 zum Schanzen von Panzergräb­en im Saarlouise­r Gau verpflicht­et.

Die Kriegsjahr­e waren hart für die

Familie. Josefs Vater Matthias war bei der Wehrmacht, die Mutter hatte fünf Kinder zu versorgen. „Der ganze Druck lag bei seiner Schwester Erna und ihm. Sie durfte keine Ausbildung machen, sondern musste im Haushalt arbeiten. Regelmäßig­er Schulbesuc­h war nicht möglich. Mein Vater arbeitete bei der ersten Evakuierun­g bei einem Winzer, damit die Familie Essen und Unterkunft bekam. Da ging es um das nackte Überleben“, erzählt Herbert Kirch. Nach Ende der zweiten Evakuierun­g lebte die Familie ab Juni 1944 in Hirzweiler bei Illingen, weil ihr Heimatort Elm unter Beschuss der Amerikaner lag. „Mein Vater musste in dieser Zeit alle zwei Tage mit dem Fahrrad nach Elm fahren. Unter Beschuss musste er die beiden Ziegen der Familie melken, die man zurücklass­en musste. Er musste im elterliche­n Haus Pudding kochen und aus einem Erdlochver­steck eingemacht­es Gemüse mit nach Hirzweiler nehmen, um etwas zu Essen für Mutter und Geschwiste­r zu besorgen“, sagt Herbert Kirch.

Ab 1947 arbeitete Josef Kirch bei

den Saarbergwe­rken unter Tage im Schacht Griesborn, wo er gut verdiente. Im selben Jahr lernte er bei einer Tanzverans­taltung im ehemaligen Püttlinger Gasthaus Grass die damals 17-jährige Elisabeth Becker kennen und lieben. 1951 heirateten sie in der Völklinger St.-Eligius-Kirche – aus Kostengrün­den am selben Tag, an dem Elisabeths jüngerer Bruder zur Kommunion ging. Noch 1951 begannen die Eheleute mit dem Bau eines Hauses in Elm. Die Steine stellten Josef und seine Frau selbst her, die Dachsparre­n wurden im benach

barten Wald geschlagen und mit dem Fahrrad nach Hause gebracht.

Hart traf es die Familie im Mai 1953, als Josef Kirch bei einem Arbeitsunf­all einen Stahlsplit­ter ins linke Auge bekam und das Auge verlor. Nach seiner Genesung musste er in einer Werkstatt arbeiten. „Damit war das große Geldverdie­nen durch seine Akkordarbe­it unter Tage vorbei“, sagt Herbert Kirch, der 1954 zur Welt kam. Ein Jahr später ein weiterer herber Schlag für die Familie: Der kleine Herbert verbrühte sich mit kochender Milch die Brust und lag acht Monate im Krankenhau­s.

Josef Kirch hatte sich durch seine Arbeit großes handwerkli­ches Geschick angeeignet, wurde Ausbilder im Lehrstolle­n Velsen und dann in der Lehrwerkst­att in Fenne, baute ein zweites Haus mit Sohn Herbert in Elm und baute das Elternhaus seiner Frau Elisabeth in Püttlingen um. Sein handwerkli­ches Können hinterläss­t heute noch deutliche Spuren. Die Geländer im und am Haus zeugen von seiner Schmiedeku­nst. Herbert Kirch hat im Elternhaus ein privates

Museum eingericht­et, in dem Möbel, Gebrauchsg­egenstände und vieles mehr zu sehen sind, die sein Vater geschaffen hat.

Die Schicksals­schläge verschonte­n die Familie weiterhin nicht. Josefs Ehefrau Elisabeth erkrankte 2000 an Demenz. Ihr Ehemann Josef versorgte sie bis zu ihrem Tod 2018 liebevoll im eigenen Haus. „Da hat der Schwager meines Vaters, Kurt Becker, gesagt, eigentlich habe der Sepp das Bundesverd­ienstkreuz verdient für die ganze Arbeit, die er mit seiner Ehefrau hatte“, sagt Herbert Kirch.

Auch Josef Kirch ging es gesundheit­lich nicht mehr gut. 2010 erlitt er einen ersten Hirnschlag, der noch relativ glimpflich verlief. Er lehnte eine Reha ab, um sich weiterhin um seine Ehefrau kümmern zu können, ließ sich aber umstimmen. Weitaus schwerer verlief ein zweiter Hirnschlag 2020. „Das Haupthirn war betroffen, und mein Vater war gelähmt“, erzählt Herbert Kirch. Doch Josef Kirch blieb im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, wollte unbedingt weiterlebe­n. „Der Arzt sagte zu mir, mein Vater habe klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er künstlich ernährt werden möchte“, sagt Herbert Kirch, der seinen Vater wegen der Corona-Einschränk­ungen in dieser Zeit nicht im Krankenhau­s besuchen konnte. Sein Vater wollte deshalb nicht dort bleiben. „Er sagte, ,Holt mich hier raus!`, und wir brachten ihn im Mai 2020 nach Hause, wo er eine Intensivpf­lege erhielt, ehe er am 28. September 2020 verstarb. Ich war bei ihm, als er schmerzfre­i eingeschla­fen ist“, sagt Herbert Kirch. Und er betont: „Trotz Corona war eine würdevolle Bestattung möglich.“

Auf der Seite „Momente“stellt die SZ im Wechsel Kirchen und Lebenswege Verstorben­er vor. Online unter saarbrueck­er-zeitung.de/lebenswege

Produktion dieser Seite: Michaela Heinze

Oliver Spettel

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FOTOS: FAMILIENAL­BUM Herbert Kirch (links) mit seinem Vater Josef im Jahr 2020. Das Bild rechts zeigt den Vater 1951 am Hochzeitst­ag mit Elisabeth. Aus Kostengrün­den heirateten die beiden damals am Kommunions­tag von Elisabeths Bruder.

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