Als der Kampf für eine freie Ukraine begann
Wer 2013 und 2014 drei Monate lange mit pro-europäischen Demonstranten in Kiew in der Kälte harrte, hat erfühlt, dass sich ein Volksaufstand wie der Maidan mit keinen Dollars aus Washington bezahlen lässt. Er kennt dafür die Wut der Ukrainer auf Korruption und die Arroganz der Macht.
WARSCHAU/ KIEW Als die ersten Schüsse der Sondereinheiten des Innenministeriums über den Kiewer Maidan peitschen und die ersten Demonstranten niedersacken, soll sich der prorussische Präsident in seiner Villa zufrieden zurückgelehnt haben. So erzählt der Führer durch die einstige Präsidentenvilla. So viel hatte er erreicht in vier Amtsjahren, vom Donezker Kleinkriminellen war er in den Olymp der Macht gestiegen, sogar Putin schien zufrieden über Wiktor Janukowitsch.
Der russische Einfluss über die Ukraine schien gesichert, der raffgierige und korrupte Ostukrainer gekauft. Doch in den vier Tagen danach verlief plötzlich nichts mehr nach Plan, und deshalb spricht Wladimir Putin heute von einem USfinanzierten „Nazi-Staatsstreich“. Dies erklärte Putin gerade wieder Tucker Carlson im TV-Interview.
Moskau hatte damals noch gute, deutsche Lobbyisten in Brüssel. Eine davon lädt Korrespondenten nach Kiew ein zu einem Interview mit Janukowitschs Premier, dem später nach Russland geflohenen Mykola Azarow. Ich fliege Hals über Kopf via Riga hin. Der farblose Premier erklärt im „Blauen Palais“, warum Kiew tags zuvor am EU-Gipfel von Vilnius (29.11.2013) entgegen aller Versprechen doch nicht unterschrieben habe und warum es für die Ukraine „noch zu früh“für das EU-Assoziierungsabkommen sei. Was er verschweigt, sind Kreml
Morddrohungen gegen die ukrainische Führungsriege.
Ein paar Hundert Meter weiter haben sich vor ein paar Tagen Studenten auf dem Maidan mit EU-Flaggen versammelt. Nach dem Interview schlendere ich am Studenten-Protest vorbei zum Europa-Platz, wo eine Pro-EU-Demo der Opposition stattfindet. Dort soll auch die Rockband „Kosak System“auftreten. Doch statt des Konzerts formiert sich ein Marsch, angeführt von Vitali Klitschko, zieht auf den nahen Maidan und verbrüdert sich mit den Studenten.
So wurde am 30. November 2013 der Euro-Maidan gegründet, jener breite Protest der pro-westlichen Zivilgesellschaft, der drei Monate später zu vorgezogenen Präsidentenwahlen und einer neuen pro-europäischen Regierung, aber auch der russischen Annexion der Halbinsel Krim und zum Krieg im Donbass gegen prorussische Separatisten – und acht Jahre später zur russischen Invasion in der ganzen Ukraine führen sollte. Doch das alles war an jenem Spätherbsttag nicht abzusehen. Nur Putin und sein Statthalter Janukowitsch wussten bereits, dass, wenn es zu prowestlich werden sollte, „bestimmt“die USA dahinterstehen. Denn für Politiker ihres Schlages hat das eigene Volk keine eigene Stimme.
Zwei Wochen später wird es erstmals wirklich ernst mit den Protesten, denn eine halbe Million ist auf dem Maidan, und ich bin erneut in Kiew. Reifengummi- und Teer-Luft schwebt nun über der Innenstadt, es brennen die ersten Barrikaden. Zum Regierungsviertel hin haben die Demonstranten eine Steinschleuder wie im Mittelalter aufgebaut. Damit will man sich im Notfall gegen die bewaffneten Berkut-Sondereinheiten wehren. Eher hat Wilhelm Tell diesen Demonstranten geholfen als die Atommacht USA.
Noch ist aber alles eher friedlich. Im Zelt der „Ersten Hundertschaft“lerne ich Anatol kennen, den umtriebigen Anführer, einen Bauingenieur um die Vierzig. Bei Tee und Borschtsch-Suppe diskutieren wir in den folgenden Tagen immer wieder über die Zukunft der Ukraine ohne Korruption und ohne Russen in den Ministerien. Anatols Freundin träumt ganz banal von einer Reise in die EU ohne Visum. Wie einst bei den Kosaken in der Südostukraine wird die Zivilverteidigung des Maidans in Hundertschaften eingeteilt. Als Anarchisten eines Abends eine „Schwarze Hundertschaft“auf die Beine stellen, treffe ich erstmals gewaltbereite Aktivisten, teils des „Rechten Sektors“, die die Staatskritiker vom Maidan vertreiben. Deutsche Korrespondenten wollen in ihnen eine ukrainische Neo-Nazi-Terrortruppe sehen. Putin mag solche Medienberichte.
Bei meinem nächsten Kiew-Besuch im Januar gehe ich dieser Sache auf den Grund. Ich treffe jüdische Maidan-Aktivisten und einen Russen, der mich auf eine Hochzeitsfeier mit einer zierlichen Kämpferin des „Rechten Sektors“einlädt. Geheiratet wird wenige Schritte vom Maidan, die Ukrainerin ehelicht einen sibirischen Ureinwohner; die schlichte Feier danach ist sehr nett. White Pride sieht anders aus. Chaim, mein jüdischer Gewährsmann, ein Kiewer Lokalpatriot, versichert mir, dass dieser Kampf von David gegen Goliath alle Ukrainer eine. Und dass keine Juden auf einem Nazi-Maidan mitmachen würden.
Nun sind auch die ersten Toten zu beklagen, ein von Sicherheitskräften erschossener Armenier und ein Belarusse ( Weißrusse). Betroffenheit und Angst in der Maidan-Zeltstadt sind groß, und Pessimismus macht sich breit. In einem feucht-kalten Zelt der Maidan-Revolutionäre sehe ich Take-away-Fertigsuppen, die aus den USA stammen könnten. Ausländisches Geld kommt tropfenweise an. In der „Ersten Hundertschaft“zeigt mir Anatol heimlich eine Pistole. „Für den Notfall“, sagt er. Patronen hätte er noch keine erwerben können.
Wie immer in Kiew seit dem Jahr 2001 übernachte ich im „Hotel Ukraina“, das nun innerhalb des von der Staatsmacht de facto befreiten Maidan liegt. Wer dort wohnt, muss zwei aufständische Barrikaden passieren. Das Code-Wort bei deren Wächtern heißt „Slawa Ukrainii – Es lebe die Ukraine!“„Ruhm und Ehre den Helden!“, antworten diese. Manchmal wird noch ein Blick in den Reporter-Rucksack geworfen. Es ist wie ein Spiel, doch wir Berichterstatter im „Hotel Ukraina“sind nun auch Teil des Maidans.
In der Lobby des „Hotel Ukraina“wurde in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 2014 ein behelfsmäßiges Lazarett für die Teilnehmer der Maidan-Proteste oder auf Ukrainisch der „Revolution der Würde“eingerichtet. Das Hotelpersonal umsorgte Hunderte von „Berkut“-Truppen angeschossene Demonstranten. Rund 100 Maidan-Teilnehmer wurden von Scharfschützen erschossen. Sie werden heute als „Himmlische Hundertschaft“in der ganzen Ukraine verehrt.
Getötet wurden bis 22. Februar 2014 auch 15 Polizisten. Die meisten Maidan-Morde bleiben unaufgeklärt, teils weil sich Mitglieder von Janukowitschs Sicherheitskräften nach Russland abgesetzt haben. Am 26. Februar übernimmt eine prowestliche Übergangsregierung die Macht, nachdem Janukowitsch zuvor nach Moskau geflohen war. Ende Mai 2014 gewinnt Petro Poroschenko die Präsidentschaftswahlen.
Einige Maidan-Aktivisten ziehen direkt von den Protesten an die von Russen wie Igor Girkin eröffnete Front der Donbass-„Separatisten“. Mein jüdischer Gewährsmann Chaim ist einer von ihnen, er geht zum Freiwilligenbataillon „Asow“. Dabei soll es sich um Nazis und Faschisten handeln, behaupten der Kreml und manche von ihm bezahlte ausländische Journalisten.
Rund 100 MaidanTeilnehmer wurden von Scharfschützen erschossen. Sie werden heute als „Himmlische Hundertschaft“in der ganze Ukraine verehrt.