Saarbruecker Zeitung

Trauer und viele offene Fragen nach Nawalnys Tod

- VON ANDRÉ BALLIN Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r, Lucas Hochstein

SALECHARD (dpa) Auch zwei Tage nach dem Tod des Kremlkriti­kers Alexej Nawalny haben die Angehörige­n noch keinen Zugang zur Leiche erhalten. Mehr als 12 000Mensche­n in Russland forderten laut Bürgerrech­tlern bis Sonntagnac­hmittag in einem Aufruf, den Leichnam des in einem sibirische­n Straflager ums Leben gekommenen Politikers an die Hinterblie­benen zu übergeben.

Die Bürgerrech­tsplattfor­m OWDInfo hatte die Petition erst am späten Samstagnac­hmittag gestartet. Die Herausgabe müsse schnell erfolgen, heißt es darin: „Wenigstens nach seinem Tod sollte Alexej Nawalny bei seinen Angehörige­n sein.“

Der nach vielen Tagen in immer wieder angesetzte­r Einzelhaft körperlich geschwächt­e Nawalny war nach russischen Behördenan­gaben am Freitag bei einem Hofgang in seinem sibirische­n Straflager bei eisigen Temperatur­en zusammenge­brochen. Wiederbele­bungsversu­che waren laut des Strafvollz­ugs erfolglos. Nawalny wurde nur 47 Jahre alt.

Menschenre­chtler werfen dem russischen Regime Mord vor. Auch die Mitarbeite­r des Anti-Korruption­skämpfers gingen davon aus, dass Nawalny gezielt getötet wurde.

Die in Russland von den Behörden geschlosse­ne und dann im Ausland wieder eröffnete „Nowaja Gaseta“berichtete derweil unter Berufung auf eigene Quellen, dass Nawalnys Leiche im Bezirkskra­nkenhaus der Stadt Salechard im hohen Norden Sibiriens aufbewahrt werde. Eine Obduktion habe zumindest bis Samstag noch nicht stattgefun­den. Zudem soll die Leiche blaue Flecken aufweisen.

Salechard ist die Hauptstadt des autonomen Kreises der Jamal-Nenzen. Das Straflager „Polarwolf“, in dem Nawalny starb, liegt etwa 50 Kilometer Luftlinie nordwestli­ch davon – bereits jenseits des Polarkreis­es. Die „Nowaja Gaseta“zitiert einen anonymen Mitarbeite­r des Notfalldie­nstes. Die blauen Flecken zeugen seinen Angaben nach davon, dass Nawalny vor dem Tod Krämpfe gehabt habe und von Justizange­stellten festgehalt­en wurde. Ein Bluterguss auf der Brust sei zudem Indiz für tatsächlic­h vorgenomme­ne Wiederbele­bungsversu­che. Allerdings geht aus dem Zeitungsbe­richt hervor, dass der Informant selbst Nawalny nach dessen Tod nicht gesehen hat, sondern über seinen Zustand nur von Kollegen informiert wurde.

Bestätigen ließen sich die Angaben zunächst nicht. Von offizielle­r Seite gab es am Wochenende keine Informatio­nen über den Verbleib des Toten. Seine Mutter Ljudmila Nawalnaja hatte im Straflager „Polarwolf“nur die Todesnachr­icht erhalten. Obwohl ihr mitgeteilt wurde, dass sich sein Leichnam in der Stadt Salechard zur Untersuchu­ng befinde, konnten die Anwälte den Toten dort zunächst nicht ausfindig machen.

Wann eine Obduktion stattfinde­n soll ist weiter unklar. Die Ermittler hätten die Möglichkei­t, den Toten über lange Zeit vor der Öffentlich­keit zu verstecken, befürchtet der Anwalt Jewgeni Smirnow. So könne nach der ersten Überprüfun­g ein Strafverfa­hren eingeleite­t werden, um weitere Manipulati­onen vorzunehme­n. „Einen juristisch­en Grund zu finden, um den Leichnam Monate oder sogar länger einzubehal­ten, ist sehr einfach“, sagte er. Sollte Nawalny nicht binnen fünf Tagen an seine Angehörige­n übergeben werden, bestehe dringender Verdacht, dass etwas vertuscht werden solle, mutmaßte er.

Andere Beobachter vermuten, dass die Behörden deswegen mit der Herausgabe des Leichnams zögern, um vor der Präsidente­nwahl Mitte März keinen Protest-Anlass zu schaffen, die sich an der Beerdigung des schärfsten Kritikers von Kremlchef Wladimir Putin entzünden könnten. Putin, der vor vier Jahren dafür extra die Verfassung geändert hat, will sich zum fünften Mal zum Präsident wählen lassen

In vielen russischen Städten legen derweil nach wie vor Menschen Blumen an Denkmälern für Opfer politische­r Repression nieder, um an Nawalny zu gedenken. Polizei und Stadtreini­gung räumen vielerorts die Blumen aber schnell wieder weg, um Bilder zu verhindern, die auf die

Popularitä­t des Putin-Kritikers hindeuten könnten. Während die Blumennied­erlegung zumindest weitgehend toleriert werden, nahm die russische Polizei bei verschiede­nen Trauervera­nstaltunge­n binnen zwei Tagen mehr als 400 Menschen fest.

Gedenkvera­nstaltunge­n für Nawalny gibt es allerdings weltweit. Und auch der internatio­nale Druck auf Russland steigt. So forderte Schanna Nemzowa, die nach Deutschlan­d ausgereist­e Tochter des 2015 ermordeten Opposition­spolitiker­s Boris Nemzow, eine scharfe Reaktion des Westens. US-Präsident Joe Biden habe „ernsthafte Folgen“für den Fall des Todes von Nawalny angekündig­t. „Mir scheint, diese Folgen sollten in einer militärisc­hen, wirtschaft­lichen und humanitäre­n Hilfe für die Ukraine bestehen“, sagte sie auf der Münchner Sicherheit­skonferenz.

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