Politische Forschung am Nabel der Zeit
Seit gut einem Jahr hat Georg Wenzelburger die neue Saarbrücker Professur für kompetitive Europaforschung inne. Gerade beginnt er ein EU-finanziertes Forschungsprojekt zu der spannenden Frage, wie Politik auf Emotionen in der Bevölkerung reagiert. Aktueller könnte das Thema kaum sein.
SAARBRÜCKEN Wer bewusst in einer Blase lebt, schirmt sich gezielt gegen andere Meinungen ab. Je mehr Leute die Bubble umfasst, desto leichter erhitzen sich der geteilte Raum und die Gemüter darin und alles heizt sich, wenn man so will, emotional auf. Ein Stück weit verweist das Bild – Stichwort Wutbürger – auf Grundbefindlichkeiten von Teilen der heutigen Gesellschaft. Ein Bild hat sich da zuletzt nachdrücklich eingeprägt: Bauern, die mit ihrer übergriffigen Blockade einer Fähre Bundeswirtschaftsminister Habeck am Ausstieg hinderten.
Manchmal ist die Wissenschaft im Versuch, solchen als „affektive Polarisierung“bekannten Phänomenen auf den Grund zu gehen, am Nabel der Zeit: An der Universität des Saarlandes (UdS) ist im Januar am Lehrstuhl des Politikwissenschaftlers Prof. Georg Wenzelburger ein Forschungsprojekt angelaufen, das die Reaktionen der Politik auf markante emotionale Stimmungen in der Bevölkerung untersucht. „Protemo“, wie das mit knapp drei Millionen Euro von der EU geförderte, dreijährige Projekt heißt, wird von universitären Kooperationspartnern aus fünf Ländern unter Saarbrücker Leitung getragen. In der politischen Forschung, erzählt Wenzelburger, spiele die Wahrnehmung und Analyse von gesellschaftlichen Emotionen als Auslöser und Antrieb politischen Handelns bislang nur eine untergeordnete Rolle. Vor allem wurden die emotionalen Komponenten von politischen Willensbildungen bislang nicht systematisch erforscht. Gerade deshalb interessiert ihn das Feld umso mehr.
Im Rahmen von „Protemo“, wo auch Psychologen und Ethnografen mit im Forschungsboot sitzen, würden etwa die Migrations- und Grenzpolitik sowie sozialpolitische Maßnahmen infolge veränderter Stimmungslagen in den jeweiligen Ländern untersucht, umreißt Wenzelburger den Horizont. Üblicherweise liege der Fokus eher auf dem Vergleich von Regierungs- und Parteiprogrammen und dem Grad ihrer praktischen Umsetzung. Oder auf der Frage, ob die Politik auf den vermeintlichen Volkswillen in Steuer- oder Umweltfragen reagiere oder nicht. „So etwas wie Wut und Protest lässt sich darüber jedoch nicht fassen“, skizziert er den Forschungsansatz. „Unerfasste Ecken“hat er schon häufiger auszuleuchten versucht. Der 42-Jährige hat seit September 2022 den neuen Lehrstuhl für komparative Europaforschung inne – eine von drei Professuren, die im Zuge der Reanimation der beiden jahrelang verwaisten Grunddisziplinen Politikwissenschaft und Soziologie in Saarbrücken wieder geschaffen wurden.
In einem weiteren Kooperationsprojekt Wenzelburgers mit der Uni
Odense (Dänemark) wird etwa evaluiert, ob und wie sich soziale Befindlichkeiten (etwa ein sich breitmachendes Gefühl der Verunsicherung) in der Sozial- und Strafrechtspolitik europäischer Länder niederschlagen. Begünstigen sie dabei eine „Law & Order“-Politik oder behält der Liberalismus dennoch die Oberhand? Je nach der politischen Kultur und dem Zuschnitt der Parteienlandschaft im EU-Raum falle die Antwort sehr unterschiedlich aus, so Wenzelburger. Auch müsse man Veränderungen über eine gewisse Zeitschiene betrachten, um zu erkennen, wie manifest sie sind. Als Wenzelburger vor Jahren die als „Schröder-Blair-Papier“bekanntgewordene neoliberal angehauchte „New Labour“-Politik von Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland anhand ihres jeweiligen Niederschlags in Gesetzgebungsverfahren sowie Interviews mit Verantwortlichen (Referatsleiter oder Staatssekretäre) analysierte, stellte der Politikwissenschaftler etwa markante Unterschiede fest: In Great Britain kam es zu zahlreichen Strafrechtsverschärfungen, während ähnliche Pläne des Innenministers Otto Schily vom Justizministerium (unter Herta Däubler-Gmelin, beide SPD) erfolgreich torpediert wurden.
Quantitative und qualitative Analysemethoden gehen für Georg Wenzelburger in der Politikforschung vorzugsweise Hand in Hand. Was heißt das? Bei seinen „Law & Order“-Untersuchungen – einem seiner Forschungsschwerpunkte und daher auch, wenig verwunderlich, Thema in seiner jüngsten Monografie – greifen er und sein Team zum einen auf vorhandene Datenanalysen zurück. Etwa zu den Staatsausgaben europäischer Länder für die innere Sicherheit sowie einschlägigen Gesetzgebungsverfahren. Facts, die empirische Grundlagen liefern, aus denen Arbeitshypothesen abgeleitet werden. Anschließend werden dann etwa Parlamentsreden, Pressetexte, Koalitionsverträge oder Interviews nach festgelegten Parametern ausgewertet. Konkret werden die Dokumente etwa daraufhin seziert, welche jeweiligen Gründe für die Maßnahmen angeführt werden. „Man steigt da sehr tief ein“und baue zugleich, so Wenzelburger, sogenannte Reliabilitätsprüfungen ein. Heißt: Zwei Projektbeteiligte codieren denselben Text und kontrollieren die Deckungsgleichheit der Auswertungen, um Fehlinterpretationen auszuschließen. Eine Software wertet zuletzt die qualitativen Inhaltsanalysen aus. Das Verfahren gleiche zum Teil einer harten journalistischen Recherche, meint Wenzelburger. Er weiß, wovon er redet, studierte er an der LMU München doch zunächst Journalismus, ehe er sich der Politikwissenschaft verschrieb, in Heidelberg dann promoviert wurde und schließlich 2014 mit 33 Jahren eine Junior- und später W2-Professur an der TU Kaiserslautern erhielt, wo er bis zu seinem Ruf nach Saarbrücken neun Jahre blieb. Dass er mit seiner Familie, er hat zwei Kinder, schon zuvor in Saarbrücken gelebt hat, verdankte er seiner französischen Frau, die in Forbach arbeitet. Dass Wenzelburger deutsch-französische Zusammenhänge insoweit auch wissenschaftlich ein Anliegen sind, versteht sich da fast von selbst.
„Meine Forschung ist komparativ angelegt“, sagt Georg Wenzelburger. An der Saarbrücker Uni fühlt er sich auch deshalb wohl, weil er hier eine deckungsgleich aufgestellte gesellschaftswissenschaftliche Europaforschung mit aufbauen kann. Und sich auch bereits erste Brückenschläge zu anderen UdS-Fakultäten auftun. Mit dem Strafrechtsprofessor Dominik Brodowski hat Wenzelburger etwa unlängst auf Basis ihrer jeweiligen Forschungsergebnisse zu nahezu deckungsgleichen Fragen des „Strafrechtspopulismus“einen gemeinsamen Aufsatz verfasst. „Als wir an die Auswertung gingen, habe ich geschwitzt wie selten“, erzählt Wenzelburger. Warum? Würden sich die Ergebnisse von Wenzelburgers qualitativer Auswertung von Gesetzestexten und Brodowskis streng juristische Codierungsmethode von Gesetzesänderungen decken? Die Antwort steht ihm ins Gesicht geschrieben: Es ging alles gut. „Unsere jeweilige ganze Codiererei hat zu den gleichen robusten Ergebnissen geführt.“So kann es weitergehen.
Wenzelburger studierte zunächst Journalismus, ehe er sich der Politikwissenschaft verschrieb.