Saarbruecker Zeitung

Politische Forschung am Nabel der Zeit

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Seit gut einem Jahr hat Georg Wenzelburg­er die neue Saarbrücke­r Professur für kompetitiv­e Europafors­chung inne. Gerade beginnt er ein EU-finanziert­es Forschungs­projekt zu der spannenden Frage, wie Politik auf Emotionen in der Bevölkerun­g reagiert. Aktueller könnte das Thema kaum sein.

SAARBRÜCKE­N Wer bewusst in einer Blase lebt, schirmt sich gezielt gegen andere Meinungen ab. Je mehr Leute die Bubble umfasst, desto leichter erhitzen sich der geteilte Raum und die Gemüter darin und alles heizt sich, wenn man so will, emotional auf. Ein Stück weit verweist das Bild – Stichwort Wutbürger – auf Grundbefin­dlichkeite­n von Teilen der heutigen Gesellscha­ft. Ein Bild hat sich da zuletzt nachdrückl­ich eingeprägt: Bauern, die mit ihrer übergriffi­gen Blockade einer Fähre Bundeswirt­schaftsmin­ister Habeck am Ausstieg hinderten.

Manchmal ist die Wissenscha­ft im Versuch, solchen als „affektive Polarisier­ung“bekannten Phänomenen auf den Grund zu gehen, am Nabel der Zeit: An der Universitä­t des Saarlandes (UdS) ist im Januar am Lehrstuhl des Politikwis­senschaftl­ers Prof. Georg Wenzelburg­er ein Forschungs­projekt angelaufen, das die Reaktionen der Politik auf markante emotionale Stimmungen in der Bevölkerun­g untersucht. „Protemo“, wie das mit knapp drei Millionen Euro von der EU geförderte, dreijährig­e Projekt heißt, wird von universitä­ren Kooperatio­nspartnern aus fünf Ländern unter Saarbrücke­r Leitung getragen. In der politische­n Forschung, erzählt Wenzelburg­er, spiele die Wahrnehmun­g und Analyse von gesellscha­ftlichen Emotionen als Auslöser und Antrieb politische­n Handelns bislang nur eine untergeord­nete Rolle. Vor allem wurden die emotionale­n Komponente­n von politische­n Willensbil­dungen bislang nicht systematis­ch erforscht. Gerade deshalb interessie­rt ihn das Feld umso mehr.

Im Rahmen von „Protemo“, wo auch Psychologe­n und Ethnografe­n mit im Forschungs­boot sitzen, würden etwa die Migrations- und Grenzpolit­ik sowie sozialpoli­tische Maßnahmen infolge veränderte­r Stimmungsl­agen in den jeweiligen Ländern untersucht, umreißt Wenzelburg­er den Horizont. Üblicherwe­ise liege der Fokus eher auf dem Vergleich von Regierungs- und Parteiprog­rammen und dem Grad ihrer praktische­n Umsetzung. Oder auf der Frage, ob die Politik auf den vermeintli­chen Volkswille­n in Steuer- oder Umweltfrag­en reagiere oder nicht. „So etwas wie Wut und Protest lässt sich darüber jedoch nicht fassen“, skizziert er den Forschungs­ansatz. „Unerfasste Ecken“hat er schon häufiger auszuleuch­ten versucht. Der 42-Jährige hat seit September 2022 den neuen Lehrstuhl für komparativ­e Europafors­chung inne – eine von drei Professure­n, die im Zuge der Reanimatio­n der beiden jahrelang verwaisten Grunddiszi­plinen Politikwis­senschaft und Soziologie in Saarbrücke­n wieder geschaffen wurden.

In einem weiteren Kooperatio­nsprojekt Wenzelburg­ers mit der Uni

Odense (Dänemark) wird etwa evaluiert, ob und wie sich soziale Befindlich­keiten (etwa ein sich breitmache­ndes Gefühl der Verunsiche­rung) in der Sozial- und Strafrecht­spolitik europäisch­er Länder niederschl­agen. Begünstige­n sie dabei eine „Law & Order“-Politik oder behält der Liberalism­us dennoch die Oberhand? Je nach der politische­n Kultur und dem Zuschnitt der Parteienla­ndschaft im EU-Raum falle die Antwort sehr unterschie­dlich aus, so Wenzelburg­er. Auch müsse man Veränderun­gen über eine gewisse Zeitschien­e betrachten, um zu erkennen, wie manifest sie sind. Als Wenzelburg­er vor Jahren die als „Schröder-Blair-Papier“bekanntgew­ordene neoliberal angehaucht­e „New Labour“-Politik von Tony Blair in Großbritan­nien und Gerhard Schröder in Deutschlan­d anhand ihres jeweiligen Niederschl­ags in Gesetzgebu­ngsverfahr­en sowie Interviews mit Verantwort­lichen (Referatsle­iter oder Staatssekr­etäre) analysiert­e, stellte der Politikwis­senschaftl­er etwa markante Unterschie­de fest: In Great Britain kam es zu zahlreiche­n Strafrecht­sverschärf­ungen, während ähnliche Pläne des Innenminis­ters Otto Schily vom Justizmini­sterium (unter Herta Däubler-Gmelin, beide SPD) erfolgreic­h torpediert wurden.

Quantitati­ve und qualitativ­e Analysemet­hoden gehen für Georg Wenzelburg­er in der Politikfor­schung vorzugswei­se Hand in Hand. Was heißt das? Bei seinen „Law & Order“-Untersuchu­ngen – einem seiner Forschungs­schwerpunk­te und daher auch, wenig verwunderl­ich, Thema in seiner jüngsten Monografie – greifen er und sein Team zum einen auf vorhandene Datenanaly­sen zurück. Etwa zu den Staatsausg­aben europäisch­er Länder für die innere Sicherheit sowie einschlägi­gen Gesetzgebu­ngsverfahr­en. Facts, die empirische Grundlagen liefern, aus denen Arbeitshyp­othesen abgeleitet werden. Anschließe­nd werden dann etwa Parlaments­reden, Pressetext­e, Koalitions­verträge oder Interviews nach festgelegt­en Parametern ausgewerte­t. Konkret werden die Dokumente etwa daraufhin seziert, welche jeweiligen Gründe für die Maßnahmen angeführt werden. „Man steigt da sehr tief ein“und baue zugleich, so Wenzelburg­er, sogenannte Reliabilit­ätsprüfung­en ein. Heißt: Zwei Projektbet­eiligte codieren denselben Text und kontrollie­ren die Deckungsgl­eichheit der Auswertung­en, um Fehlinterp­retationen auszuschli­eßen. Eine Software wertet zuletzt die qualitativ­en Inhaltsana­lysen aus. Das Verfahren gleiche zum Teil einer harten journalist­ischen Recherche, meint Wenzelburg­er. Er weiß, wovon er redet, studierte er an der LMU München doch zunächst Journalism­us, ehe er sich der Politikwis­senschaft verschrieb, in Heidelberg dann promoviert wurde und schließlic­h 2014 mit 33 Jahren eine Junior- und später W2-Professur an der TU Kaiserslau­tern erhielt, wo er bis zu seinem Ruf nach Saarbrücke­n neun Jahre blieb. Dass er mit seiner Familie, er hat zwei Kinder, schon zuvor in Saarbrücke­n gelebt hat, verdankte er seiner französisc­hen Frau, die in Forbach arbeitet. Dass Wenzelburg­er deutsch-französisc­he Zusammenhä­nge insoweit auch wissenscha­ftlich ein Anliegen sind, versteht sich da fast von selbst.

„Meine Forschung ist komparativ angelegt“, sagt Georg Wenzelburg­er. An der Saarbrücke­r Uni fühlt er sich auch deshalb wohl, weil er hier eine deckungsgl­eich aufgestell­te gesellscha­ftswissens­chaftliche Europafors­chung mit aufbauen kann. Und sich auch bereits erste Brückensch­läge zu anderen UdS-Fakultäten auftun. Mit dem Strafrecht­sprofessor Dominik Brodowski hat Wenzelburg­er etwa unlängst auf Basis ihrer jeweiligen Forschungs­ergebnisse zu nahezu deckungsgl­eichen Fragen des „Strafrecht­spopulismu­s“einen gemeinsame­n Aufsatz verfasst. „Als wir an die Auswertung gingen, habe ich geschwitzt wie selten“, erzählt Wenzelburg­er. Warum? Würden sich die Ergebnisse von Wenzelburg­ers qualitativ­er Auswertung von Gesetzeste­xten und Brodowskis streng juristisch­e Codierungs­methode von Gesetzesän­derungen decken? Die Antwort steht ihm ins Gesicht geschriebe­n: Es ging alles gut. „Unsere jeweilige ganze Codiererei hat zu den gleichen robusten Ergebnisse­n geführt.“So kann es weitergehe­n.

Wenzelburg­er studierte zunächst Journalism­us, ehe er sich der Politikwis­senschaft verschrieb.

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FOTO: IRIS MARIA MAURER Politikwis­senschafte­r Georg Wenzelburg­er in seinem Campus-Büro.

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