Saarbruecker Zeitung

„Wir brauchen mehr Tempo bei der Bildung“

Das schlechte Abschneide­n deutscher Schüler in der Pisa-Studie könnte langfristi­g Billionen-Kosten verursache­n, warnt die Bildungsmi­nisterin.

- DIE FRAGEN STELLTEN BIRGIT MARSCHALL UND MEY DUDIN.

Das jüngste Pisa-Debakel hat nur noch einmal bestätigt: Deutsche Schüler schneiden im internatio­nalen Vergleich schon bei grundlegen­den Kompetenze­n immer schlechter ab. Bildungsmi­nisterin Bettina StarkWatzi­nger (FDP) will daher für den Bund mehr Mitsprache­recht bei der Digitalisi­erung und anderen wichtigen Themen.

50 000 Jugendlich­e verlassen die Schulen jedes Jahr ohne Abschluss, das sind genauso viele, wie wir durch das Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz pro Jahr gewinnen wollen. Warum konzentrie­ren wir uns nicht auf die Schulabbre­cher?

STARK-WATZINGER Wir brauchen beides. Der Fachkräfte­mangel ist so enorm, dass wir sowohl mehr Fachkräfte­zuwanderun­g brauchen als auch das Potenzial bei uns voll ausschöpfe­n müssen. Jedes Kind, das die Schule ohne Abschluss verlässt, ist ein Kind zu viel. Die jungen Menschen ohne Schulabsch­luss von heute fehlen uns als Fachkräfte von morgen. Es gibt seriöse Berechnung­en, die davon ausgehen, dass der in der Pisa-Studie nachgewies­ene Kompetenzv­erlust der Schüler etwa in Mathematik unser Land langfristi­g 14 Billionen Euro kostet. Die volle Wucht dieser Entwicklun­g kommt also erst noch auf uns zu. Deshalb brauchen wir jetzt eine bildungspo­litische Trendwende. Ein zweiter Aspekt ist wichtig: Die Menschen müssen darauf vertrauen können, dass sie durch eigene Leistung vorankomme­n können, dass sie etwas aus ihrem Leben machen können.

Wenn wir dieses Aufstiegsv­ersprechen nicht immer wieder erneuern, gefährden wir unsere Demokratie und unseren Wohlstand.

Wie gehen Sie dagegen an?

STARK-WATZINGER Ich habe gerade gemeinsam mit den Ländern das Startchanc­en-Programm für etwa 4000 Schulen in herausford­ernder Lage auf den Weg gebracht. Zehn Milliarden Euro vom Bund und nochmals zehn Milliarden von den Ländern sollen in den kommenden zehn Jahren in diese Schulen fließen. Das größte und langfristi­gste Bildungspr­ogramm in der Geschichte der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Wir fördern damit gezielt, nicht mehr mit der Gießkanne. Wir setzen bei den Grundkompe­tenzen Lesen, Schreiben und Rechnen an. Das muss jedes Kind am Ende der Grundschul­e können. In zehn Jahren wollen wir die Zahl der Kinder halbiert haben, die die Mindeststa­ndards nicht erreichen. Zu lange waren die Grundschul­en die Stiefkinde­r der Schulpolit­ik.

Brauchen wir eine Kita-Pflicht für Kleinkinde­r, damit sie die deutsche Sprache rechtzeiti­g erlernen? STARK-WATZINGER Über 90 Prozent der Kinder zwischen drei und sechs Jahren gehen in die Kita. Deshalb brauchen wir flächendec­kend und frühzeitig verbindlic­he Sprachtest­s. Die gibt es nicht überall und wenn es sie gibt, folgt daraus nicht zwingend etwas. Wir brauchen daher auch verbindlic­he Sprachförd­erung für Kinder, die vor der Einschulun­g

die deutsche Sprache nicht ausreichen­d beherrsche­n. Gleichzeit­ig müssen mehr Kitaplätze geschaffen werden, gerade für Kinder unter drei Jahren. Und der Zugang muss möglichst einfach und unbürokrat­isch gestaltet werden.

Auch das ist eine originäre LänderAufg­abe. Warum üben Sie nicht

mehr Druck auf die Länder aus, damit sie endlich ihren Bildungsau­fgaben gerecht werden? STARK-WATZINGER Nie war der Handlungsd­ruck so groß wie jetzt und das ist natürlich ein Auftrag an die Länder. Die Umfragen sind eindeutig: Die Menschen wollen ein einheitlic­heres Bildungssy­stem in unserem Land. Die Kultusmini­sterkonfer­enz der Länder

sollte nicht weiter ein Gremium des kleinsten gemeinsame­n Nenners sein. Bund, Länder und Kommunen müssen an einem Strang ziehen. Das Bildungssy­stem braucht dringend ein Update. Noch mal zehn Jahre zu warten, können wir uns nicht leisten. Das wäre fatal.

Sie haben eine Grundgeset­zänderung gefordert: Der Bund soll in der Bildung mehr Kompetenze­n bekommen. Wie kommen Sie damit voran?

STARK-WATZINGER Wir brauchen mehr Tempo bei der Bildung. Darum geht es. Bisher kann der Bund dabei immer nur in begrenztem Umfang mit allen Ländern zusammenar­beiten. Ich würde mir wünschen, dass es auch mit einer Gruppe möglich ist, die schneller vorankomme­n möchte. Also eine Koalition der Willigen. Darüber hinaus wäre auch eine klare Aufgabente­ilung sinnvoll, bei der der Bund für übergreife­nde Themen wie die Digitalisi­erung zuständig sein könnte. Derzeit darf der Bund nur in Technik in den Schulen investiere­n, etwa Laptops. Aber ein Gerät allein macht Unterricht noch nicht digital. Es wäre besser, wenn der Bund im Sinne einer nachhaltig­en Wirksamkei­t mehr mitreden könnte. Einfach nur wie früher Geld zu geben, ist für mich jedenfalls keine Option mehr.

„Das Bildungssy­stem braucht dringend ein Update.“Bettina Stark-Watzinger (FDP) Bundesbild­ungsminist­erin

An den Universitä­ten nehmen Hass und Polarisier­ung zu. Was ist da los?

STARK-WATZINGER Hochschule­n sind Orte der freien Debatte, aber keine rechtsfrei­en Räume. Antisemiti­smus, Hass und Hetze sind nicht von der Meinungsfr­eiheit gedeckt. Wer nur in Veranstalt­ungen brüllt und keine Antwort erwartet, der hat erkennbar kein Interesse an einer Debatte. Das können wir nicht hinnehmen. Das Schlimmste ist für mich, dass sich mittlerwei­le viele jüdische Studenten unsicher fühlen. Das ist ein schleichen­des Gift für unsere Gesellscha­ft. Antisemiti­smus muss Konsequenz­en haben.

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FOTO: PEDERSEN/DPA Bildungsmi­nisterin Bettina Stark-Watzinger (FDP) will mit einem Startchanc­en-Programm in den nächsten zehn Jahren die Zahl der Schüler halbieren, die die Mindeststa­ndards in Rechnen, Schreiben und Lesen nicht erreichen.

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