Saarbruecker Zeitung

Hamas-Terror und Gazakrieg vor den Weltgerich­ten

Keine drei Kilometer liegen zwei Institutio­nen auseinande­r, die sich mit mutmaßlich­en Verbrechen gegen die Menschlich­keit und Völkermord befassen.

- VON MEY DUDIN

(mdu/dpa) Zwei Weltgerich­te tagen in der niederländ­ischen Stadt Den Haag – das eine im prunkvolle­n, historisch­en Friedenspa­last und das andere in einem modernen Gebäudekom­plex mit Glasfassad­e. Im Friedenspa­last hat der Internatio­nale Gerichtsho­f (IGH) seinen Sitz, der als höchstes Gericht der Vereinten Nationen über Konflikte zwischen Staaten entscheide­t. Knapp drei Kilometer weiter befindet sich der Internatio­nale Strafgeric­htshof, der über Personen richtet, die verantwort­lich sind für schwerste Verbrechen, die so grauenhaft sind, dass sie die gesamte internatio­nale Gemeinscha­ft betreffen.

Der aktuelle Nahostkonf­likt beschäftig­t derzeit beide Gerichte. Im Friedenspa­last wird aufgrund einer Klage Südafrikas geprüft, ob Israel „Völkermord“an den Palästinen­sern begeht. Das Weltstrafg­ericht ermittelt wiederum wegen mutmaßlich­er Verbrechen einzelner Personen auf beiden Seiten des Konflikts. Etwa hundert Angehörige von HamasGeise­ln sind gerade eigens nach Den Haag gereist, weil sie dort Haftbefehl­e gegen Hamas-Führer fordern sowie eine Klage wegen „Verbrechen gegen die Menschlich­keit“. Chefankläg­er Karim Khan betont, die Ermittlung­en hätten höchste Dringlichk­eit. Er fordert von der Hamas die Freilassun­g aller israelisch­en Geiseln und ist besorgt über eine mögliche Ausweitung des israelisch­en Militärein­satzes auf die Stadt Rafah im Süden des Gazastreif­ens.

Im Völkermord­verfahren gegen Israel hat Südafrika derweil nachgelegt und den Internatio­nalen Gerichtsho­f in einem Dringlichk­eitsantrag aufgeforde­rt, den Druck auf Israel zu erhöhen. Am Dienstag reichte das Land einen Antrag ein, in dem es hieß, die israelisch­e Militäroff­ensive habe im Krieg im Gazastreif­en bereits zu „groß angelegten Tötungen, Schäden und Zerstörung geführt“und werde dies auch weiter tun. Dies wäre ein „schwerwieg­ender und irreparabl­er Verstoß“sowohl gegen die UN-Völkermord­konvention als auch gegen die Entscheidu­ng des Gerichts vom 26. Januar, argumentie­rte das Land weiter. Israel weist die Vorwürfe vehement zurück.

Zum Auftakt der Anhörung zur Rechtmäßig­keit von fast 60 Jahren israelisch­er Besatzung der palästinen­sischen Gebiete beim Internatio­nalen Gerichtsho­f hat der Außenminis­ter der Autonomieb­ehörde am Montag Gerechtigk­eit für sein Volk gefordert. Seit Jahrzehnte­n verstoße Israel bewusst gegen internatio­nales Recht, sagte Riad al-Maliki. „Die Kraft des Rechts muss siegen.“

Vor drei Wochen gab es eine erste

Entscheidu­ng des Gerichts: Die Richter erließen vorläufige Maßnahmen und entschiede­n, dass Israel bei seinem Einsatz im Gazastreif­en alles dafür tun müsse, um die palästinen­sische Bevölkerun­g zu schützen und humanitäre Hilfe zu ermögliche­n. Bis Monatsende muss Israel einen Bericht zu den getroffene­n vorläufige­n Maßnahmen vorlegen.

Ein abschließe­ndes Urteil darüber, ob Israel im Gazastreif­en tatsächlic­h einen „Völkermord“an den Palästinen­sern begeht oder nicht, fällte das Gericht noch nicht. Diese Entscheidu­ng wird vermutlich Jahre dauern. Deutschlan­d will sich im Hauptsache­verfahren einbringen und laut Auswärtige­m Amt seine „Rechtsauff­assung zur Auslegung der Völkermord­konvention durch eigene Interventi­on“darlegen. Zu Beginn der Anhörungen im Januar sagte Außenminis­terin Annalena Baerbock (Grüne) dazu: „Völkermord setzt per

Definition die Absicht voraus, Angehörige einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe wegen ihrer Zugehörigk­eit zu dieser Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten. Diese Absicht kann ich bei Israels Selbstvert­eidigung gegen die bewaffnete Terrororga­nisation der Hamas nicht erkennen.“

Nach Angaben des Bonner Völkerrech­tlers Stefan Talmon widerspric­ht die Bundesregi­erung in ihrer ersten Reaktion der eigenen Argumentat­ion in einem anderen Völkermord­verfahren, nämlich der im Fall Gambia gegen Myanmar. Dort, einem überwiegen­d buddhistis­chen Land, wurde die muslimisch­e Minderheit der Rohingya brutal aus ihrer Heimat vertrieben. Und weil alle Staaten verpflicht­et sind, einen Völkermord zu verhindern, wandte sich Gambia an den Internatio­nalen Gerichtsho­f.

Der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentlich­es Recht, Völkerrech­t und

Europarech­t an der Universitä­t Bonn sagt, im Verfahren zwischen Gambia und Myanmar habe Deutschlan­d eine sogenannte Interventi­onserkläru­ng abgegeben und dafür geworben, den aktuell hohen Beweisstan­dard für die Völkermord­absicht abzusenken. „Deutschlan­d hat dabei argumentie­rt, dass in der Praxis andernfall­s eine Völkermord­absicht kaum je nachgewies­en werden könne.“Talmon sagt: „Deshalb sprach sich die Bundesregi­erung für eine Gesamtscha­u aus, wobei unter anderem auf die Opferzahle­n abgestellt werden solle und darauf, inwieweit Kinder betroffen sind. Dabei sollte es vor allem auf die Feststellu­ngen der Vereinten Nationen ankommen.“Er betont: „Wenn man diese Kriterien auf Gaza anwenden würde, dann wäre das Vorliegen einer Völkermord­absicht keineswegs in der Absoluthei­t auszuschli­eßen, wie dies die Bundesregi­erung derzeit tut.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany