„Ich bin weniger bissig als früher“
Der Journalist hat das „Charlie Hebdo“-Attentat überlebt. Vor seiner Lesung in Saarbrücken erklärt er, warum er die Redaktion nicht mehr betritt.
„Wir waren eine Gruppe mehr oder weniger enger Freunde in einer mittlerweile völlig ruinierten Zeitung, die praktisch am Ende war. Wir wussten es, aber wir waren frei. Wir waren da, um Spaß zu haben, uns anzuschnauzen und eine trostlose Welt nicht ernst zu nehmen.“So beschreibt der Kulturjournalist und Schriftsteller Philippe Lançon das Treiben in den Büros des Satiremagazins „Charlie Hebdo“.
Doch am 7. Januar 2015 ändert sich alles: Während einer Redaktionskonferenz dringen zwei islamistische Terroristen in die Büros ein und ermorden dort elf Menschen. Lançon ist in der Redaktion; hört, wie die Schüsse aus den Kalaschnikows sich nähern und sieht Sekunden später Kollegen direkt neben ihm sterben. In einem „Raum voller Papier, Blut, Körper und Pulver“überlebt er mit schweren Gesichtsverletzungen und verbringt Monate im Krankenhaus, bis Ärzte seinen Kiefer in 17 Operationen rekonstruiert haben. Über all das hat Lançon „Der Fetzen“veröffentlicht – einen Roman mit Passagen, die in die Magengrube treffen. An diesem Sonntag liest er im Saarländischen Staatstheater.
Sie haben ein Attentat überlebt, das viel Aufsehen erregt hat. In Ihrem Roman „Der Fetzen“steht: „Die meisten Interviews mit Schriftstellern oder Künstlern sind überflüssig. Sie paraphrasieren nur das zugrundeliegende Werk.“Welche Fragen können Sie nicht mehr hören?
LANÇONIch bin Journalist, habe also gelernt, viel zu erdulden, angefangen mit meinen eigenen dummen Fragen, die ich selbst stellen kann. Es kamen viele Fragen, als würde das Buch nicht existieren, und es ärgert mich, wenn das Buch mit dem verwechselt wird, was ich erlebt habe. Ich wollte nicht meine Geschichte erzählen, sondern eine literarische Kreation schaffen, um das, was ich glaube erlebt zu haben, besser verständlich zu machen.
Ein Slogan, der um die Welt ging, war „Je suis Charlie“. Was denken Sie heute über diese Welle der Solidarität?
LANÇON Das ist heute vorbei. Damals erschien mir das wie ein Traum, ich war im Krankenhaus und schwebte zwischen Leben und Tod, und der Lärm drang nicht zu mir vor. Ich glaube nicht, dass heute eine halbe Million Menschen gegen so ein schreckliches Attentat demonstrieren würde. Nicht, dass man daran gewöhnt ist, aber es war auch die Ermordung der sehr populären Zeicher Cabu und Wolinski, die so schockiert hat. Eine ganze Generation war mit ihnen aufgewachsen, aber die neue Generation hat heute andere Referenzen. Das Bewusstsein für Minderheiten hat sich seitdem sehr weiterentwickelt, und vielleicht kommt dieser Humor heute weniger gut an. Aber wenn man, wie ich, so etwas Schlimmes wie den 7. Januar erlebt hat, steht ein Teil der Zeit still. Ein Teil von mir bleibt immer am 7. Januar und unterbricht die Zeit, die danach kommt. Ein anderer Teil
von mir lebt in der Zeit, die vergeht. Ich bin mir der Veränderungen bewusst und habe doch manchmal Probleme, damit zu leben.
Haben Sie Angst, Sie könnten wieder Zeuge oder Überlebender eines Anschlags werden?
LANÇON Nein, ich gehe nicht mehr zu „Charlie“, weil ich fürchte, dass ein Terrorist auftauchen könnte. Nicht in der Redaktion, sie ist sehr gut bewacht, und nur wer dort arbeitet, weiß, wo sie ist, aber vor dem Gebäude. Das ist sehr unwahrscheinlich, aber ich will das Risiko nicht eingehen. Meine Artikel schicke ich, Kollegen treffe ich außerhalb der Redaktion.
Der Anschlag auf den Bataclan hat gezeigt, dass Anschläge überall passieren können.
LANÇON Ja, auch in Schulen. Man kann nicht viel dagegen tun. Man kann Verdächtige überwachen, aber wir leben in einer Demokratie, und man kann niemanden festnehmen, bevor er etwas getan hat. Es gibt einen Preis für die Freiheit, von der wir profitieren. Das muss man akzeptieren.
Sie schreiben in Ihrem Roman, dass „Charlie Hebdo“vor dem Anschlag im Niedergang war. Wie blickt Frankreich heute auf das Satiremagazin?
LANÇON Zum Zeitpunkt des Attentats war die Zeitschrift nicht nur
permanent physisch bedroht, sondern auch verlegerisch, weil sie sich weniger verkaufte. Die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen war nur ein Teil des Problems. Der satirische, libertäre und antiklerikale Geist, den „Charlie“seit den 60ern verbreitet hat, wurde in der französischen Gesellschaft weniger wichtig oder hat andere Formen angenommen. Nach dem Attentat wurde es noch schwieriger, diesen doppeldeutigen Humor rüberzubringen. Karikaturen lassen ja zwei Phänomene aufeinandertreffen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, um die Leute mittels dieser Absurdität zum Lachen zu bringen. Bei „Charlie“gehörten Vulgarität und schlechter Geschmack immer dazu. Dafür wurde „Charlie“von Aktivisten verschiedener kultureller Minderheiten kritisiert, sie teilten diesen Humor nicht oder nahmen die Karikaturen wörtlich. Dabei hat „Charlie“den Islam genauso und aus denselben Gründen angegriffen wie zuvor den Katholizismus. Aber es eckte damit bei jenen Linken an, die glauben, dass man zwar Islamisten angreifen darf, nicht aber den Islam, weil er die Religion von Armen, Minderheiten und Rassismus-Opfern ist. Also warf die Linke „Charlie“verstärkt Rassismus vor. Aber „Charlie“kann einfach Religion, als Opium fürs Volk, per se nicht leiden.
Hat sich die Linke in Frankreich
geändert? LANÇON
Die Welt hat sich seitdem sehr verändert. Viele junge Leute empfinden die Karikaturen als Respektlosigkeit gegenüber den Menschen, die den Religionen angehören, aber um Respekt ging es „Charlie“ja überhaupt nie. Das Magazin lebt in einer Welt, die es nicht ganz versteht.
Müsste „Charlie“seinen Humor ändern?
LANÇON Das wurde schon 2014 mit Charb diskutiert. Aber keiner glaubt, dass sich der Ton von „Charlie“ändern kann, er folgt der französischen Tradition der Karikatur und geht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Wir werden keine Karikatur machen, die jeden respektiert, aufpasst, dass sie niemandem jemals weh tut und sicher geht, auch in ihrer Doppeldeutigkeit verstanden zu werden. Das wäre das Ende. „Charlie“kann gewisse Kompromisse machen, aber muss weitermachen und hoffen, dass bessere Zeiten kommen.
Auf Ihrem Autorenprofil von „Charlie“steht: „Eine Kugel in den Kiefer hat mich weniger aggressiv gemacht“. Sind Sie heute ein anderer Kulturjournalist?
LANÇON Das können andere besser einschätzen. Was mir auffällt, ist, dass ich weniger Effekte im Stil und mehr Einfachheit suche. Ich bin weniger hart und weniger bissig als früher. Ich ermüde schneller und habe mehr das Gefühl, dass meine Zeit gezählt ist. Ich will einfach mehr über Dinge sprechen, die ich gut finde. Vorher musste ich auch die Bücher besprechen, die ich schlecht fand.
Was machen Sie heute mit Büchern, die sich als schlecht herausstellen?
LANÇON Ich lege sie weg und schreibe keine Kritik. Wenn man Lesen als Beruf hat, merkt man sehr schnell, ob ein Buch interessant oder banal ist. Schlechte Bücher erkennt man schnell; sehr gute können kompliziert sein, weil große Autoren mit ihren jeweiligen Sprachen und Universen sehr schwierig sein können, sodass man sich erst daran gewöhnen muss. Das Schlimmste sind mittelmäßige Bücher, weil man sie bis zu Ende lesen kann, ohne dass sie einem etwas geben. Die Literaturkritik in Frankreich scheint mir manchmal Dinge zu feiern, die sie nicht ganz versteht, um nicht als dumm zu gelten. Sie sucht die Avantgarde und will zeigen, dass sie die Gesellschaft gut versteht. Aber man muss Bücher so lesen und empfangen, wie man sie liest und empfängt, und sein eigenes Urteil auch hinterfragen können.
Sie sind Kulturjournalist. Woran arbeiten Sie im Moment?
LANÇON Zum 100. Todestag von Franz Kafka schreibe ich an langen Vorworten zu Neuveröffentlichungen von „Die Verwandlung“und „Der Prozess“im französischen Taschenbuch. Ich habe die Werke und eine Biografie über ihn gelesen und so mehrere Monate mit ihm verbracht.
Sie zitieren Kafka oft in Ihrem Roman. Hat er Ihnen nach dem Anschlag geholfen?
LANÇON Ja, aber nicht wie ein Psychologe oder jemand, der mein Leid lindert, sondern wie einer, der mir erlaubt hat, meinem Leid methodisch und ohne Nachsicht gegenüberzutreten. Kafka ist schwierig, als Person und Schriftsteller, weil er viel von sich und seinen Lesern verlangt. Aber er bringt viel für die Sicht auf das, was man selbst erlebt.
Inwiefern?
LANÇON Er hilft dabei, über uns zu lachen und den Dingen ernst entgegenzutreten, ohne sich ernst zu nehmen. Seine Dialektik ist sehr komplex, aber für mich gibt es nur wenige Schriftsteller, die ihm standhalten. Kafka hilft dabei, sich nicht in der Rolle eines Opfers zu gefallen, oder eben in der Rolle, von der wir glauben, sie in der Gesellschaft oder uns selbst gegenüber zu haben.
Ist es problematisch, sich als Opfer zu fühlen?
LANÇON Es wird gefährlich, wenn es zu Faulheit führt. Zu der Idee, dass alles, was wir tun, sagen und vor allem denken, gerechtfertigt und wahr ist, weil wir leiden. Das heißt keinesfalls, dass man Opfern nicht zuhören soll. Ich habe erfahren, wie wichtig das ist, und glücklicherweise haben mir sehr viele Leute zugehört. Opfer, das ist zu einer gewissen Zeit ein Zustand, aber danach stellt sich die Frage, wie man sich von diesem Zustand befreit, um einfach zu leben. Das ist kein Anprangern, sondern eine Hoffnung auf Befreiung.