Die Kultur der Gasthäuser vor über 100 Jahren
Nahezu jede Gemeinde auf dem Gebiet des heutigen Saarpfalz-Kreises hatte im 19. Jahrhundert Wirtshäuser. Diese wurden unter anderem in zahlreichen zeitgenössischen Veröffentlichungen beworben.
Im Laufe des nächsten Monats wird das in der Gemeinde Webenheim an der Straße von Zweibrücken nach Saargemünd, eine Viertelstunde von Blieskastel gelegene Gasthaus ‚Zum Goldenen Löwen` versteigert werden“: Ende Januar 1845 erschien diese Annonce im „Zweibrücker Wochenblatt“, der damals in der saarpfälzischen Region verbreiteten Zeitung. Die nachfolgende Beschreibung des Lokals steht quasi exemplarisch für die Ausstattung und Ausmaße einer gediegenen Gastronomie im 19. Jahrhundert. Über sieben Zimmer verfügte die Herberge – „worunter fünf heizbare“waren.
Obendrein gab es einen großen Tanzsaal, als Lagerraum für die Weinvorräte diente ein kühler Gewölbekeller. In den Stallungen konnten bis zu 40 Pferde untergebracht werden, sodass sich das Relais auch für Reisende empfahl, die längere Strecken zurücklegten. Fünf weitere Ställe dienten der Haltung von Schweinen, die wiederum für die Restauration benötigt wurden. Ein großer freier Platz vor dem Haus bot sowohl die Möglichkeit, in der wärmeren Jahreszeit „Wirtschaft im Freien zu halten“, also einen Biergarten zu betreiben, als auch Chaisen und Fuhrwerke der Gäste zu „parken“.
Es ist heute kaum mehr vorstellbar, dass nahezu jeder Ort über wenigstens einen oder gar gleich mehrere Gasthöfe nach Art des Webenheimer „Löwen“verfügte. Eine Statistik aus dem Jahr 1877 spricht in dieser Hinsicht Bände: Bliesdalheim mit damals 360 Einwohnern hatte drei Wirtschaften, das benachbarte Breitfurt (558 Einwohner) ebenfalls drei. Bliesmengen-Bolchen war mit 833 Bewohnern größer und zählte sieben Gasthäuser. Mit Abstand an der Spitze stand St. Ingbert, dessen 8843 Einwohner unter 90 Wirtshäusern auswählen konnten.
Viele, ja unzählige kulturelle wie soziale Funktionen hatten diese Schänken: Treffpunkt zum schnellen morgendlichen „Piffchen“, dem „Aperitif“, sowohl für Einheimische als auch für Fuhrleute, Einkehrgelegenheit zum Mittagessen oder auch nur zum Imbiss für diejenigen, die unterwegs waren, und am Abend sowie am Sonntagmorgen nach dem Kirchgang Treffpunkt für den Stammtisch, an dem über das auf jeden Fall missliche Wetter, die Ernteaussichten, die Politik „dischbediert“wurde und neuester Klatsch und Tratsch „durchgehechelt“wurden. Wenn dann die „Kerb“auf dem Terminkalender stand, spielte sich das örtliche Leben gleich über meh
rere Tage hinweg im Wirtshaus ab, „die drei ersten“und weitere Tänze verwandelten den Saal nicht selten in ein Tollhaus. Findige Wirtsleute luden aber auch aus anderen Anlässen ein – „theatralische Produktionen“oder auch einmal ein „Ball“waren etwas ganz Besonderes. Für derlei Festivitäten gab es verschiedene Gelegenheiten: Für Sonntag, 2. März 1862, lud Wirth Mathias Alff auf den Blieskasteler „Tivoli“beispielsweise zum „Fastnachtsball“, während der Homburger Gastronom Ludwig Hirsch aus gleichem Anlass gleich auch die Musik ankündigte: „Zugleich wird bemerkt, dass die Ballmusik durch die Taubermänner ausgeführt wird“. Silvester, der Geburtstag wie auch das „Namenfest seiner Majestät des Königs“oder nicht zuletzt Vereinsfeste waren weitere „Events“, die im Wirtshaussaal über die Bühne gingen.
Nicht allein durch solch spezielle Aktionen bemühten sich die Gastronomen um Gäste. Das alle Jahre neu aufgelegte „Kurs-Buch“, in dem die Fahrpläne der pfälzischen Eisenbahnen veröffentlicht wurden, war ein beliebtes Medium, auf das „erste Haus am Platze“aufmerksam zu machen. 1892 empfahl sich in Blieskastel zum Beispiel das Hotel Hauck, das „gute, billige Bedienung“und einen Hol- und Bringservice mittels von Pferden gezogenem Omnibus zum Bahnhof in Lautzkirchen versprach. „Schöne Zimmer, guter bürgerlicher Mittagstisch, reine Weine, bayerisches Bier, Metzgerei, Stallung“gehörten zum Angebotssortiment des Gasthofes „Zur Rose“, das zentral am Marktplatz der Barockstadt gelegen war. Auch das „altrenommierte Hôtel zur
Post, in der Mitte der Stadt gelegen“machte mit Alleinstellungsmerkmalen Reklame. Offeriert wurde die „Equipage“, also die Begleitung bei Ausflügen in die Region durch einen Hausdiener.
Nicht minder stattlich war die gastronomische Infrastruktur von St. Ingbert. Die prosperierende Industriestadt pflegte ihren bayerischen Nimbus besonders ausgeprägt. So betonte „Die Glocke (Inhaber Fritz Funk)“ausdrücklich, dass sie Münchener Bier im Ausschank habe – „Leistbräu zum Franziskaner“nämlich. Das Hotel von Friedrich Stutzmann empfahl sich „bestens“, unter anderem mit „vorzüglichen Betten“, dem „reisenden Publikum“. Eine recht ausgesuchtes Klientel hatte das „Café Becker (vormals Oberhauser)“im Visier: „Reisende Künstler-Gesellschaften“waren besonders willkommen. Eine große Bierhalle mit Kegelbahnen und Billardtischen sowie „prompte Bedienung“standen im Portfolio. Karl Uhl (1886-1966), Schuhmacher von Beruf und Schriftsteller aus Passion, setzte diesem Etablissement ein literarisches Denkmal. „Von jeher, das heißt, soweit unser Erinnern zurückreicht, war das Café Becker der Mittelpunkt des kulturellen Lebens unserer Stadt“, schreibt er in seinen „Spaziergängen durch das alte St. Ingbert“. Als Beispiel führt er an, dass zu Jahresbeginn 1881 ein Opernabend auf dem Programm stand: „Szenen und Acte aus Opern (in Costüm), Hofopernsängerin Fräulein Maria Foetsch und Herr Francius Müller von der Großen Staatlichen Oper in Rotterdam“brachten Auszüge aus dem „Freischutz“, aus „Undine“und dem
„Nachtlager von Granada“zu Gehör.
Der dichtende Schuster erwähnt aber auch die skurrilen „Sensationen“, die sich im Saal des Gasthauses unregelmäßig ein Stelldichein gaben: „Wandernde Künstler, die dem Auge was boten, traten dann und wann auf: Zauberer, tanzende Indianer, Schausteller mit ausgestopften Tieren oder einem lebendigen Krokodil mit Jungen“. Man musste ins Wirtshaus gehen, um derlei Abenteuer und Attraktionen zu erleben.
Gaststätten mit ihren Schankräumen, Sälen und Nebenzimmern waren freilich nicht allein Treffpunkte und Schauplätze von allerhand Lustbarkeiten, es spielten sich darin auch ganz ernsthafte und für den Alltag wichtige Dinge darin ab. Gemeinderäte hielten dort ihre Sitzungen ab, auch Versteigerungen wurden bisweilen öffentlich im Wirtshaus abgehalten. So machte der Zweibrücker „Advokat“(Anwalt) August Culmann bekannt, dass er am 28. August 1848 „vormittags 10 Uhr, in der Wirtsbehausung des Paul Wack in Medelsheim, zirka 40 Morgen Wiesen auf den Bännen von Peppenkum und Medelsheim für die diesjährige Ohmeternte zu verpachten“gedenke. Drei Monate danach sollte der spätere Gründer der Kohlengrube Frankenholz als Abgeordneter in die deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche einziehen. Nicht nur die Zweitmahd seines Grünlandes versteigerte Culmann so meistbietend, auch das Heu war jedes Jahr Gegenstand einer derartigen Auktion.
Gewisse Berühmtheit erlangte jene Versteigerung, bei der am Dienstag, 28. Mai 1878, in Homburg in der Wirtschaft von Karl Cappel (in der heutigen Saarbrücker Straße gelegen) die „Bierbrauerei F. & Chr. Jacoby“versteigert wurde. Unter der Federführung von Notar Friedrich Bartels wurden unter anderem angeboten: ein dreistöckiges Wohnhaus mit gewölbten Kellern, Branntweinbrennerei, eine sechspferdekräftige Dampfmaschine, Maischkessel mit Rührwerk, 32 Gärbottiche, 220 Lagerfässer, Malzentkeimungs-Putzmaschine, dazu 1300 Bier-Transportfässer von zehn bis 100 Liter Gehalt. Den Zuschlag erhielt der 38-jährige Kaufmann Christian Weber, der aus der ansehnlichen Konkursmasse die Karlsberg-Brauerei machte und der regionalen Gastronomie in vielfacher Hinsicht neue Impulse gab.