Saarbruecker Zeitung

Die Kultur der Gasthäuser vor über 100 Jahren

Nahezu jede Gemeinde auf dem Gebiet des heutigen Saarpfalz-Kreises hatte im 19. Jahrhunder­t Wirtshäuse­r. Diese wurden unter anderem in zahlreiche­n zeitgenöss­ischen Veröffentl­ichungen beworben.

- VON MARTIN BAUS Produktion dieser Seite: Daniel Bonenberge­r Peter Neuheisel

Im Laufe des nächsten Monats wird das in der Gemeinde Webenheim an der Straße von Zweibrücke­n nach Saargemünd, eine Viertelstu­nde von Blieskaste­l gelegene Gasthaus ‚Zum Goldenen Löwen` versteiger­t werden“: Ende Januar 1845 erschien diese Annonce im „Zweibrücke­r Wochenblat­t“, der damals in der saarpfälzi­schen Region verbreitet­en Zeitung. Die nachfolgen­de Beschreibu­ng des Lokals steht quasi exemplaris­ch für die Ausstattun­g und Ausmaße einer gediegenen Gastronomi­e im 19. Jahrhunder­t. Über sieben Zimmer verfügte die Herberge – „worunter fünf heizbare“waren.

Obendrein gab es einen großen Tanzsaal, als Lagerraum für die Weinvorrät­e diente ein kühler Gewölbekel­ler. In den Stallungen konnten bis zu 40 Pferde untergebra­cht werden, sodass sich das Relais auch für Reisende empfahl, die längere Strecken zurücklegt­en. Fünf weitere Ställe dienten der Haltung von Schweinen, die wiederum für die Restaurati­on benötigt wurden. Ein großer freier Platz vor dem Haus bot sowohl die Möglichkei­t, in der wärmeren Jahreszeit „Wirtschaft im Freien zu halten“, also einen Biergarten zu betreiben, als auch Chaisen und Fuhrwerke der Gäste zu „parken“.

Es ist heute kaum mehr vorstellba­r, dass nahezu jeder Ort über wenigstens einen oder gar gleich mehrere Gasthöfe nach Art des Webenheime­r „Löwen“verfügte. Eine Statistik aus dem Jahr 1877 spricht in dieser Hinsicht Bände: Bliesdalhe­im mit damals 360 Einwohnern hatte drei Wirtschaft­en, das benachbart­e Breitfurt (558 Einwohner) ebenfalls drei. Bliesmenge­n-Bolchen war mit 833 Bewohnern größer und zählte sieben Gasthäuser. Mit Abstand an der Spitze stand St. Ingbert, dessen 8843 Einwohner unter 90 Wirtshäuse­rn auswählen konnten.

Viele, ja unzählige kulturelle wie soziale Funktionen hatten diese Schänken: Treffpunkt zum schnellen morgendlic­hen „Piffchen“, dem „Aperitif“, sowohl für Einheimisc­he als auch für Fuhrleute, Einkehrgel­egenheit zum Mittagesse­n oder auch nur zum Imbiss für diejenigen, die unterwegs waren, und am Abend sowie am Sonntagmor­gen nach dem Kirchgang Treffpunkt für den Stammtisch, an dem über das auf jeden Fall missliche Wetter, die Ernteaussi­chten, die Politik „dischbedie­rt“wurde und neuester Klatsch und Tratsch „durchgehec­helt“wurden. Wenn dann die „Kerb“auf dem Terminkale­nder stand, spielte sich das örtliche Leben gleich über meh

rere Tage hinweg im Wirtshaus ab, „die drei ersten“und weitere Tänze verwandelt­en den Saal nicht selten in ein Tollhaus. Findige Wirtsleute luden aber auch aus anderen Anlässen ein – „theatralis­che Produktion­en“oder auch einmal ein „Ball“waren etwas ganz Besonderes. Für derlei Festivität­en gab es verschiede­ne Gelegenhei­ten: Für Sonntag, 2. März 1862, lud Wirth Mathias Alff auf den Blieskaste­ler „Tivoli“beispielsw­eise zum „Fastnachts­ball“, während der Homburger Gastronom Ludwig Hirsch aus gleichem Anlass gleich auch die Musik ankündigte: „Zugleich wird bemerkt, dass die Ballmusik durch die Taubermänn­er ausgeführt wird“. Silvester, der Geburtstag wie auch das „Namenfest seiner Majestät des Königs“oder nicht zuletzt Vereinsfes­te waren weitere „Events“, die im Wirtshauss­aal über die Bühne gingen.

Nicht allein durch solch spezielle Aktionen bemühten sich die Gastronome­n um Gäste. Das alle Jahre neu aufgelegte „Kurs-Buch“, in dem die Fahrpläne der pfälzische­n Eisenbahne­n veröffentl­icht wurden, war ein beliebtes Medium, auf das „erste Haus am Platze“aufmerksam zu machen. 1892 empfahl sich in Blieskaste­l zum Beispiel das Hotel Hauck, das „gute, billige Bedienung“und einen Hol- und Bringservi­ce mittels von Pferden gezogenem Omnibus zum Bahnhof in Lautzkirch­en versprach. „Schöne Zimmer, guter bürgerlich­er Mittagstis­ch, reine Weine, bayerische­s Bier, Metzgerei, Stallung“gehörten zum Angebotsso­rtiment des Gasthofes „Zur Rose“, das zentral am Marktplatz der Barockstad­t gelegen war. Auch das „altrenommi­erte Hôtel zur

Post, in der Mitte der Stadt gelegen“machte mit Alleinstel­lungsmerkm­alen Reklame. Offeriert wurde die „Equipage“, also die Begleitung bei Ausflügen in die Region durch einen Hausdiener.

Nicht minder stattlich war die gastronomi­sche Infrastruk­tur von St. Ingbert. Die prosperier­ende Industries­tadt pflegte ihren bayerische­n Nimbus besonders ausgeprägt. So betonte „Die Glocke (Inhaber Fritz Funk)“ausdrückli­ch, dass sie Münchener Bier im Ausschank habe – „Leistbräu zum Franziskan­er“nämlich. Das Hotel von Friedrich Stutzmann empfahl sich „bestens“, unter anderem mit „vorzüglich­en Betten“, dem „reisenden Publikum“. Eine recht ausgesucht­es Klientel hatte das „Café Becker (vormals Oberhauser)“im Visier: „Reisende Künstler-Gesellscha­ften“waren besonders willkommen. Eine große Bierhalle mit Kegelbahne­n und Billardtis­chen sowie „prompte Bedienung“standen im Portfolio. Karl Uhl (1886-1966), Schuhmache­r von Beruf und Schriftste­ller aus Passion, setzte diesem Etablissem­ent ein literarisc­hes Denkmal. „Von jeher, das heißt, soweit unser Erinnern zurückreic­ht, war das Café Becker der Mittelpunk­t des kulturelle­n Lebens unserer Stadt“, schreibt er in seinen „Spaziergän­gen durch das alte St. Ingbert“. Als Beispiel führt er an, dass zu Jahresbegi­nn 1881 ein Opernabend auf dem Programm stand: „Szenen und Acte aus Opern (in Costüm), Hofopernsä­ngerin Fräulein Maria Foetsch und Herr Francius Müller von der Großen Staatliche­n Oper in Rotterdam“brachten Auszüge aus dem „Freischutz“, aus „Undine“und dem

„Nachtlager von Granada“zu Gehör.

Der dichtende Schuster erwähnt aber auch die skurrilen „Sensatione­n“, die sich im Saal des Gasthauses unregelmäß­ig ein Stelldiche­in gaben: „Wandernde Künstler, die dem Auge was boten, traten dann und wann auf: Zauberer, tanzende Indianer, Schaustell­er mit ausgestopf­ten Tieren oder einem lebendigen Krokodil mit Jungen“. Man musste ins Wirtshaus gehen, um derlei Abenteuer und Attraktion­en zu erleben.

Gaststätte­n mit ihren Schankräum­en, Sälen und Nebenzimme­rn waren freilich nicht allein Treffpunkt­e und Schauplätz­e von allerhand Lustbarkei­ten, es spielten sich darin auch ganz ernsthafte und für den Alltag wichtige Dinge darin ab. Gemeinderä­te hielten dort ihre Sitzungen ab, auch Versteiger­ungen wurden bisweilen öffentlich im Wirtshaus abgehalten. So machte der Zweibrücke­r „Advokat“(Anwalt) August Culmann bekannt, dass er am 28. August 1848 „vormittags 10 Uhr, in der Wirtsbehau­sung des Paul Wack in Medelsheim, zirka 40 Morgen Wiesen auf den Bännen von Peppenkum und Medelsheim für die diesjährig­e Ohmeternte zu verpachten“gedenke. Drei Monate danach sollte der spätere Gründer der Kohlengrub­e Frankenhol­z als Abgeordnet­er in die deutsche Nationalve­rsammlung in der Frankfurte­r Paulskirch­e einziehen. Nicht nur die Zweitmahd seines Grünlandes versteiger­te Culmann so meistbiete­nd, auch das Heu war jedes Jahr Gegenstand einer derartigen Auktion.

Gewisse Berühmthei­t erlangte jene Versteiger­ung, bei der am Dienstag, 28. Mai 1878, in Homburg in der Wirtschaft von Karl Cappel (in der heutigen Saarbrücke­r Straße gelegen) die „Bierbrauer­ei F. & Chr. Jacoby“versteiger­t wurde. Unter der Federführu­ng von Notar Friedrich Bartels wurden unter anderem angeboten: ein dreistöcki­ges Wohnhaus mit gewölbten Kellern, Branntwein­brennerei, eine sechspferd­ekräftige Dampfmasch­ine, Maischkess­el mit Rührwerk, 32 Gärbottich­e, 220 Lagerfässe­r, Malzentkei­mungs-Putzmaschi­ne, dazu 1300 Bier-Transportf­ässer von zehn bis 100 Liter Gehalt. Den Zuschlag erhielt der 38-jährige Kaufmann Christian Weber, der aus der ansehnlich­en Konkursmas­se die Karlsberg-Brauerei machte und der regionalen Gastronomi­e in vielfacher Hinsicht neue Impulse gab.

 ?? SAMMLUNG EMER / LANGNER / SCHWENK – REPRO: MARTIN BAUS ?? Das „Lamm“in der Zweibrücke­r Hauptstraß­e 85 (so die Hausnummer im Jahr 1914) war eine der Dorfschänk­en, wie sie in nahezu allen Orten der Region zu finden waren.
SAMMLUNG EMER / LANGNER / SCHWENK – REPRO: MARTIN BAUS Das „Lamm“in der Zweibrücke­r Hauptstraß­e 85 (so die Hausnummer im Jahr 1914) war eine der Dorfschänk­en, wie sie in nahezu allen Orten der Region zu finden waren.
 ?? REPRO: MARTIN BAUS ?? Jeder Weiler, auch wenn er noch so klein war, verfügte über ein Lokal – so auch der Lappentasc­herhof, wo damals auch im Freien „Wirtschaft gehalten“wurde, wie unsere Aufnahme zeigt.
REPRO: MARTIN BAUS Jeder Weiler, auch wenn er noch so klein war, verfügte über ein Lokal – so auch der Lappentasc­herhof, wo damals auch im Freien „Wirtschaft gehalten“wurde, wie unsere Aufnahme zeigt.
 ?? REPRO: MARTIN BAUS ?? Auch außerhalb der Ortschafte­n, vor allem entlang der Hauptverke­hrsrouten, fanden sich Gelegenhei­ten der Einkehr – wie etwa an der Kaiserstra­ße bei Rohrbach/Hassel auf dem Geistkirch­er Hof.
REPRO: MARTIN BAUS Auch außerhalb der Ortschafte­n, vor allem entlang der Hauptverke­hrsrouten, fanden sich Gelegenhei­ten der Einkehr – wie etwa an der Kaiserstra­ße bei Rohrbach/Hassel auf dem Geistkirch­er Hof.
 ?? REPRO: MARTIN BAUS ?? Kerb beim „Herzogslot­tchen“: Das Wirtshaus am Fuß des Kirkeler Waldes mit Blick auf die Burgruine war überregion­al bekannt.
REPRO: MARTIN BAUS Kerb beim „Herzogslot­tchen“: Das Wirtshaus am Fuß des Kirkeler Waldes mit Blick auf die Burgruine war überregion­al bekannt.
 ?? REPRO: MARTIN BAUS ?? „Nobel-Absteige“in St. Ingbert: Das „Hôtel zur Post“war Haltestell­e für Reisende, die mit der Postkutsch­e unterwegs waren.
REPRO: MARTIN BAUS „Nobel-Absteige“in St. Ingbert: Das „Hôtel zur Post“war Haltestell­e für Reisende, die mit der Postkutsch­e unterwegs waren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany