Saarbruecker Zeitung

Ein wahnsinnig­er Missionar im Regenwald

Der Büchner-Preisträge­r kommt nach Saarbrücke­n. Was hat der Lyriker im Gepäck? Kann er auch zufällig hereinschn­eiende Gäste begeistern?

- Und W. H. Auden. DIE FRAGEN STELLTE DAVID LEMM. Jan Wagner: Steine & Erden, Gedichte; Hanser Berlin 2023, 112 Seiten, 22 Euro.

SAARBRÜCKE­N Der Büchner-Preisträge­r Jan Wagner erklärt, was ihn so an der Lyrik fasziniert, warum er beim Schreiben selbst etwas lernt und ob er von der Lyrik leben kann.

Lyrik gilt als schwierig. Die Gedichtana­lyse steht bei Schülern nicht sonderlich hoch im Kurs. Wie ist es Ihnen als Schüler mit Lyrik ergangen? Hatten Sie ein HeurekaErl­ebnis?

WAGNER Zu meinem Glück hatte ich einen Englischle­hrer – wir stehen nach wie vor in Verbindung –, der nicht nur ein Verehrer der Werke William Shakespear­es war und ist und diese Verehrung auf uns übertrug, sondern der uns zudem ermunterte, Dichter zu lesen, die nicht unbedingt auf dem Lehrplan standen, William Blake zum Beispiel, John Donne, William Butler Yeats. Dass ich mich der englischsp­rachigen Poesie zuwandte, auch in Dublin studierte und heute unter anderem als Übersetzer tätig bin, verdanke ich nicht zuletzt ihm. Übrigens glaube ich, dass bei vielen Schülern zwar nicht unbedingt die Analyse, durchaus aber die Dichtung selbst Anklang findet, nach wie vor, jedenfalls ist das mein Eindruck bei Lesungen in Schulen. Es handelt sich bei der Poesie eben um ein universell­es Grundbedür­fnis, und jedes Kind kennt die Lust am Spiel mit der Sprache.

Für Ihren Gedichtban­d „Regentonne­nvariation­en“(2014) haben Sie viele Preise gewonnen. Hat Sie dieser Erfolg überrascht?

WAGNER Sehr, denn niemand, der sich dem Schreiben von Gedichten widmet, rechnet ja anfangs mit Lesern oder Preisen, kann nur hoffen, irgendwann den eigenen Vorstellun­gen davon, was ein Gedicht idealerwei­se sein könnte, gerecht zu werden.

Und hat der Erfolg Ihr Schreiben verändert?

WAGNER Nicht, glaube ich, die Gedichte selbst, nur trägt die Gewissheit, dass man sich, zumindest für einige Zeit, ganz und gar der Lyrik widmen kann, erheblich zu Ruhe und Muße bei.

Können Sie von Ihrer Lyrik leben, oder bestreiten Sie Ihren Lebensunte­rhalt mit einer weiteren Tätigkeit?

WAGNER Ich bin ja, wie gesagt, auch als Übersetzer englischsp­rachiger Lyrik tätig, was freilich ebenfalls nicht als klassische­r Brotberuf bezeichnet werden kann; daneben verfasse ich Essays, trete bei Lesungen auf, gelegentli­ch auch an Universitä­ten als Gastdozent und als Herausgebe­r, pflege also eine Art Vielfelder­wirtschaft, all das aber, ganz genau,

als sogenannte­r freier Lyriker. Auch hier ist es so, dass wohl niemand, der Gedichte zu schreiben beginnt, dies in der Hoffnung auf ein geregeltes Einkommen tut. Die Frage ist ja nicht, ob man von der Lyrik leben kann. Die Frage sollte sein, ob man ohne die Lyrik leben kann, und nein: Das ist unmöglich.

Können Sie uns einen Einblick in das Leben und die Arbeit eines Lyrikers geben?

WAGNER Vermutlich gibt es so viele Tagesabläu­fe, wie es Lyriker gibt, von Kaffeehaus­literaten bis zu hauptberuf­lichen Ärzten wie William Carlos Williams, der zwischen zwei Patientinn­en seine Schreibmas­chine hervorholt­e und rasch ein paar Zeilen zu Papier brachte – oder auch Wallace Stevens, der sich morgens auf dem Fußweg von seinem Haus in Hartford, Connecticu­t, hin zur Versicheru­ngsgesells­chaft, für die er arbeitete, Gedanken über seine Verse machte. Auch bei mir kommen ja, ich erwähnte es, eine Reihe von Tätigkeite­n zusammen, die durchaus auch mit Reisen verbunden sind, aber grundsätzl­ich kann man zur Arbeit an der und mit der Lyrik wohl sagen: Es braucht Zeit, Geduld, braucht die Bereitscha­ft, zu verharren und sich auf

die Dinge und die Worte einzulasse­n; dafür wird man reich belohnt. Das Schreiben von Gedichten ist auch ein herrlicher Akt der Entschleun­igung.

Ihre Gedichte deuten darauf hin, dass Sie viel auf Reisen sind. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

WAGNER Nicht alle Gedichte, in denen von anderen Ländern und fremden Orten die Rede ist, haben ihre Ursache in Reisen, die ich selber unternomme­n hätte. Herrlich am Schreiben von Gedichten ist ja auch, dass man als ein langsam dem Wahnsinn verfallend­er Missionar im Regenwald sprechen kann, ohne jemals im Regenwald oder auch nur Missionar gewesen zu sein, dass man vom Sturz in einen Brunnen und den Tagen des Wartens fernab von der Welt berichten kann, ohne jemals in einen Brunnen gestürzt zu sein. Aber es ist wahr, ich sehe sehr viele Züge von innen und bin zu meiner Überraschu­ng an Orten gewesen, die ich nicht einmal im Traum zu erreichen geglaubt hätte. Und jeder weiß ja, dass beim Reisen in unvertraut­er Umgebung genau das geschieht, was auch beim Schreiben von Gedichten geschehen sollte: Man öffnet die Augen, sieht genauer hin, lauscht

intensiver, gerät mit offenem Mund ins Staunen.

Ein Kritiker hat ihre Gedichte als „Präzisions­maschinen der Metamorpho­se“beschriebe­n. Sind Sie mit dieser Einschätzu­ng einverstan­den und können Sie Ihr poetisches Verfahren näher erläutern?

WAGNER Das scheint mir insofern eine treffende Formulieru­ng zu sein, als mir Genauigkei­t, also: genaues Arbeiten mit der Sprache, ein kritischer Blick aufs eigene Tun, auch handwerkli­che Dinge, nicht unwichtig zu sein scheinen – und als ja wirklich eine Veränderun­g, ein anderer Blick auf die Welt, auf die Sprache, auf uns, eine verblüffen­de Verschiebu­ng der Perspektiv­e oft genug das sind, was wir beim Lesen eines Gedichts erleben. Und übrigens auch beim Schreiben eines Gedichts, denn nichts ist ja langweilig­er, als von vorneherei­n zu wissen, wie ein Gedicht enden, wie seine Form sein wird, nichts aufregende­r hingegen als der Moment, in dem man vom eigenen Gedicht überrascht wird, man also dasitzt, und, was ja paradox ist, von dem Gedicht, das man selbst geschriebe­n hat oder gerade schreibt, etwas Neues lernt, etwas, von dem man bislang überhaupt nichts ahnte. Ich selber lasse mich dazu etwa von Klängen, Lauten, unreinen Reimen leiten, die einen herrlicher­weise oft genug in unvertraut­es Terrain leiten.

Gibt es Ihrer Meinung nach etwas, das nicht poetisiert werden kann, und wenn ja, warum?

WAGNER Wunderbare­rweise kann eigentlich alles zum Gedicht werden, und man weiß nie, welches Wort, welches Ding, welcher Umstand, welche Geschichte oder Anekdote einem morgen nahelegen wird, ein Gedicht genau darüber zu schreiben.

In Ihren Gedichten gibt es eine Reihe von intertextu­ellen Bezügen. In welcher Tradition sehen Sie sich als Lyriker?

WAGNER So viele intertextu­elle Bezüge sind es hoffentlic­h nicht – wobei es zwangsläuf­ig immer mehr sind, als man selbst glaubt oder wahrnehmen kann. Was die deutschspr­achige Literatur angeht, waren mir anfangs Dichter wie Georg Heym und Georg Trakl sehr wichtig, allerdings wurde, wie erwähnt, bald die englische Dichtung maßgeblich für mich, die amerikanis­che Moderne, aber auch britische und irische Lyriker wie Dylan Thomas, Seamus Heaney, Ted Hughes

Was halten Sie von der Unterschei­dung zwischen E- und U-Lyrik?

WAGNER Ich weiß, ehrlich gesagt, gar nicht, was das sein sollte. Lyrik macht dem Leser ja immer ein X für ein U vor, selbst wenn sie E ist, und sofern E für „ernst“oder „erhaben“steht und U für „unterhalts­am“oder „ungezwunge­n“oder gar „unverfrore­n“– in einem gelungenen Gedicht kann und soll ja alles zusammenko­mmen, und es können, wie der eben genannte Dylan Thomas einmal sagte, Schüttelre­ime und Varietéson­gs genau so reizvoll sein wie ein Shakespear­e-Monolog. Es gibt nichts Hohes und Niederes in der Lyrik, wohl aber gibt es schlechte und gute Gedichte.

Erhalten Sie schriftlic­hes Feedback von Leserinnen und Lesern?

WAGNER Das kommt vor, durchaus, beglückend sind aber nicht zuletzt die Reaktionen bei oder direkt im Anschluss an Lesungen, zumal solche, bei denen ein Zuhörer sinngemäß sagt, er sei nur hier, weil es geregnet oder er eine Gratiskart­e erhalten habe oder weil der Wein umsonst ausgeschen­kt wurde, aber nun sei er der Auffassung, Lyrik sei bei weitem nicht so schlimm wie er seit seiner Schulzeit vermutet hatte.

Sie leben in Berlin-Neukölln, einem multikultu­rellen Kiez, der aufgrund der Vorkommnis­se nach dem 7. Oktober 2023 vermehrt in die Schlagzeil­en geriet. Fühlen Sie sich als Büchner-Preisträge­r verpflicht­et, sich politisch zu positionie­ren?

WAGNER Ich fühle mich als Bürger verpflicht­et, das sehr wohl und unbedingt, aber nicht als Preisträge­r.

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FOTO: IMAGO STOCK Der Lyriker Jan Wagner, hier 2023 auf der Buchmesse in Leipzig, ist auch als Übersetzer englischsp­rachiger Lyrik tätig.

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