Ein wahnsinniger Missionar im Regenwald
Der Büchner-Preisträger kommt nach Saarbrücken. Was hat der Lyriker im Gepäck? Kann er auch zufällig hereinschneiende Gäste begeistern?
SAARBRÜCKEN Der Büchner-Preisträger Jan Wagner erklärt, was ihn so an der Lyrik fasziniert, warum er beim Schreiben selbst etwas lernt und ob er von der Lyrik leben kann.
Lyrik gilt als schwierig. Die Gedichtanalyse steht bei Schülern nicht sonderlich hoch im Kurs. Wie ist es Ihnen als Schüler mit Lyrik ergangen? Hatten Sie ein HeurekaErlebnis?
WAGNER Zu meinem Glück hatte ich einen Englischlehrer – wir stehen nach wie vor in Verbindung –, der nicht nur ein Verehrer der Werke William Shakespeares war und ist und diese Verehrung auf uns übertrug, sondern der uns zudem ermunterte, Dichter zu lesen, die nicht unbedingt auf dem Lehrplan standen, William Blake zum Beispiel, John Donne, William Butler Yeats. Dass ich mich der englischsprachigen Poesie zuwandte, auch in Dublin studierte und heute unter anderem als Übersetzer tätig bin, verdanke ich nicht zuletzt ihm. Übrigens glaube ich, dass bei vielen Schülern zwar nicht unbedingt die Analyse, durchaus aber die Dichtung selbst Anklang findet, nach wie vor, jedenfalls ist das mein Eindruck bei Lesungen in Schulen. Es handelt sich bei der Poesie eben um ein universelles Grundbedürfnis, und jedes Kind kennt die Lust am Spiel mit der Sprache.
Für Ihren Gedichtband „Regentonnenvariationen“(2014) haben Sie viele Preise gewonnen. Hat Sie dieser Erfolg überrascht?
WAGNER Sehr, denn niemand, der sich dem Schreiben von Gedichten widmet, rechnet ja anfangs mit Lesern oder Preisen, kann nur hoffen, irgendwann den eigenen Vorstellungen davon, was ein Gedicht idealerweise sein könnte, gerecht zu werden.
Und hat der Erfolg Ihr Schreiben verändert?
WAGNER Nicht, glaube ich, die Gedichte selbst, nur trägt die Gewissheit, dass man sich, zumindest für einige Zeit, ganz und gar der Lyrik widmen kann, erheblich zu Ruhe und Muße bei.
Können Sie von Ihrer Lyrik leben, oder bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt mit einer weiteren Tätigkeit?
WAGNER Ich bin ja, wie gesagt, auch als Übersetzer englischsprachiger Lyrik tätig, was freilich ebenfalls nicht als klassischer Brotberuf bezeichnet werden kann; daneben verfasse ich Essays, trete bei Lesungen auf, gelegentlich auch an Universitäten als Gastdozent und als Herausgeber, pflege also eine Art Vielfelderwirtschaft, all das aber, ganz genau,
als sogenannter freier Lyriker. Auch hier ist es so, dass wohl niemand, der Gedichte zu schreiben beginnt, dies in der Hoffnung auf ein geregeltes Einkommen tut. Die Frage ist ja nicht, ob man von der Lyrik leben kann. Die Frage sollte sein, ob man ohne die Lyrik leben kann, und nein: Das ist unmöglich.
Können Sie uns einen Einblick in das Leben und die Arbeit eines Lyrikers geben?
WAGNER Vermutlich gibt es so viele Tagesabläufe, wie es Lyriker gibt, von Kaffeehausliteraten bis zu hauptberuflichen Ärzten wie William Carlos Williams, der zwischen zwei Patientinnen seine Schreibmaschine hervorholte und rasch ein paar Zeilen zu Papier brachte – oder auch Wallace Stevens, der sich morgens auf dem Fußweg von seinem Haus in Hartford, Connecticut, hin zur Versicherungsgesellschaft, für die er arbeitete, Gedanken über seine Verse machte. Auch bei mir kommen ja, ich erwähnte es, eine Reihe von Tätigkeiten zusammen, die durchaus auch mit Reisen verbunden sind, aber grundsätzlich kann man zur Arbeit an der und mit der Lyrik wohl sagen: Es braucht Zeit, Geduld, braucht die Bereitschaft, zu verharren und sich auf
die Dinge und die Worte einzulassen; dafür wird man reich belohnt. Das Schreiben von Gedichten ist auch ein herrlicher Akt der Entschleunigung.
Ihre Gedichte deuten darauf hin, dass Sie viel auf Reisen sind. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
WAGNER Nicht alle Gedichte, in denen von anderen Ländern und fremden Orten die Rede ist, haben ihre Ursache in Reisen, die ich selber unternommen hätte. Herrlich am Schreiben von Gedichten ist ja auch, dass man als ein langsam dem Wahnsinn verfallender Missionar im Regenwald sprechen kann, ohne jemals im Regenwald oder auch nur Missionar gewesen zu sein, dass man vom Sturz in einen Brunnen und den Tagen des Wartens fernab von der Welt berichten kann, ohne jemals in einen Brunnen gestürzt zu sein. Aber es ist wahr, ich sehe sehr viele Züge von innen und bin zu meiner Überraschung an Orten gewesen, die ich nicht einmal im Traum zu erreichen geglaubt hätte. Und jeder weiß ja, dass beim Reisen in unvertrauter Umgebung genau das geschieht, was auch beim Schreiben von Gedichten geschehen sollte: Man öffnet die Augen, sieht genauer hin, lauscht
intensiver, gerät mit offenem Mund ins Staunen.
Ein Kritiker hat ihre Gedichte als „Präzisionsmaschinen der Metamorphose“beschrieben. Sind Sie mit dieser Einschätzung einverstanden und können Sie Ihr poetisches Verfahren näher erläutern?
WAGNER Das scheint mir insofern eine treffende Formulierung zu sein, als mir Genauigkeit, also: genaues Arbeiten mit der Sprache, ein kritischer Blick aufs eigene Tun, auch handwerkliche Dinge, nicht unwichtig zu sein scheinen – und als ja wirklich eine Veränderung, ein anderer Blick auf die Welt, auf die Sprache, auf uns, eine verblüffende Verschiebung der Perspektive oft genug das sind, was wir beim Lesen eines Gedichts erleben. Und übrigens auch beim Schreiben eines Gedichts, denn nichts ist ja langweiliger, als von vorneherein zu wissen, wie ein Gedicht enden, wie seine Form sein wird, nichts aufregender hingegen als der Moment, in dem man vom eigenen Gedicht überrascht wird, man also dasitzt, und, was ja paradox ist, von dem Gedicht, das man selbst geschrieben hat oder gerade schreibt, etwas Neues lernt, etwas, von dem man bislang überhaupt nichts ahnte. Ich selber lasse mich dazu etwa von Klängen, Lauten, unreinen Reimen leiten, die einen herrlicherweise oft genug in unvertrautes Terrain leiten.
Gibt es Ihrer Meinung nach etwas, das nicht poetisiert werden kann, und wenn ja, warum?
WAGNER Wunderbarerweise kann eigentlich alles zum Gedicht werden, und man weiß nie, welches Wort, welches Ding, welcher Umstand, welche Geschichte oder Anekdote einem morgen nahelegen wird, ein Gedicht genau darüber zu schreiben.
In Ihren Gedichten gibt es eine Reihe von intertextuellen Bezügen. In welcher Tradition sehen Sie sich als Lyriker?
WAGNER So viele intertextuelle Bezüge sind es hoffentlich nicht – wobei es zwangsläufig immer mehr sind, als man selbst glaubt oder wahrnehmen kann. Was die deutschsprachige Literatur angeht, waren mir anfangs Dichter wie Georg Heym und Georg Trakl sehr wichtig, allerdings wurde, wie erwähnt, bald die englische Dichtung maßgeblich für mich, die amerikanische Moderne, aber auch britische und irische Lyriker wie Dylan Thomas, Seamus Heaney, Ted Hughes
Was halten Sie von der Unterscheidung zwischen E- und U-Lyrik?
WAGNER Ich weiß, ehrlich gesagt, gar nicht, was das sein sollte. Lyrik macht dem Leser ja immer ein X für ein U vor, selbst wenn sie E ist, und sofern E für „ernst“oder „erhaben“steht und U für „unterhaltsam“oder „ungezwungen“oder gar „unverfroren“– in einem gelungenen Gedicht kann und soll ja alles zusammenkommen, und es können, wie der eben genannte Dylan Thomas einmal sagte, Schüttelreime und Varietésongs genau so reizvoll sein wie ein Shakespeare-Monolog. Es gibt nichts Hohes und Niederes in der Lyrik, wohl aber gibt es schlechte und gute Gedichte.
Erhalten Sie schriftliches Feedback von Leserinnen und Lesern?
WAGNER Das kommt vor, durchaus, beglückend sind aber nicht zuletzt die Reaktionen bei oder direkt im Anschluss an Lesungen, zumal solche, bei denen ein Zuhörer sinngemäß sagt, er sei nur hier, weil es geregnet oder er eine Gratiskarte erhalten habe oder weil der Wein umsonst ausgeschenkt wurde, aber nun sei er der Auffassung, Lyrik sei bei weitem nicht so schlimm wie er seit seiner Schulzeit vermutet hatte.
Sie leben in Berlin-Neukölln, einem multikulturellen Kiez, der aufgrund der Vorkommnisse nach dem 7. Oktober 2023 vermehrt in die Schlagzeilen geriet. Fühlen Sie sich als Büchner-Preisträger verpflichtet, sich politisch zu positionieren?
WAGNER Ich fühle mich als Bürger verpflichtet, das sehr wohl und unbedingt, aber nicht als Preisträger.