Saarbruecker Zeitung

Als „Gudd gess“nur ein ferner Traum war

Anfang März öffnen sich auch im Saarland die Türen zum „Tag der Archive“. Bundesweit­es Thema 2024 ist „Essen und Trinken“. Im Saarbrücke­r Stadtarchi­v hat man sich dazu ganz eigene Gedanken gemacht.

- VON NICOLE BARONSKY-OTTMANN

Der Verband deutscher Archivarin­nen und Archivare ( VdA) präsentier­t jedes Jahr bundesweit eine besondere Veranstalt­ung: den Tag der Archive. Er findet in diesem Jahr am 2. und 3. März statt. Und das Thema in diesem Jahr scheint perfekt fürs Saarland und sein Lebensmott­o „Hauptsach gudd gess“. 2024 geht es bundesweit nämlich um „Essen und Trinken“. Aber im Stadtarchi­v der Landeshaup­tstadt hat man sich dazu etwas ganz anderes ausgedacht.

„Das Stadtarchi­v ist das Gedächtnis der Stadt Saarbrücke­n“, erklärt Ruth Bauer, Kunsthisto­rikerin und langjährig­e Mitarbeite­rin des Stadtarchi­vs. „Unsere Aufgabe ist, nach einer Ablaufzeit das Schriftgut der Stadtverwa­ltung zu übernehmen.“Darüber hinaus finden sich im Stadtarchi­v aber auch historisch­e Fotografie­n, Teile des Archivs der Saarbrücke­r Zeitung, sowie eine umfangreic­he Kartensamm­lung.

Das Stadtarchi­v hat in den letzten Jahren selbst zu verschiede­nen Themen recherchie­rt, darüber umfangreic­he und reich bebilderte Bücher herausgebr­acht. Eines davon ist „Saarbrücke­n à la carte“, das im Jahr 2010 erschien, und in dem die ausgezeich­nete Kulinarik unserer Region

im Laufe der vergangene­n Jahrzehnte vorgestell­t wurde.

„Daher wollten wir für den Tag der Archive das Thema in dieser Version nicht nochmal aufnehmen. Stattdesse­n haben wir uns überlegt, wie war es denn, als kein Essen da war“, erklärt Ruth Bauer weiter. Und so hat sie gemeinsam mit der Historiker­in Yasmin Batak eine Ausstellun­g konzipiert, die sich mit den Hungerjahr­en im Zusammenha­ng mit den beiden Weltkriege­n beschäftig­t.

Im Veranstalt­ungsraum des Stadtarchi­vs sind in verschiede­nen Schautisch­en originale Unterlagen aus den Jahren 1916/17 und 1946/47 zu bestaunen. „Über die Ernährungs­lage im 1. Weltkrieg gibt es viele Unterlagen im Haus, da zu dieser Zeit ein Lebensmitt­elamt gegründet wurde. Die Dokumente aus dem 2. Weltkrieg sind dagegen spärlicher“, erklärt sie weiter.

Die Versorgung­slage der Bevölkerun­g wurde im 1. Weltkrieg zu spät bedacht. Wegen der zu erzielende­n Höchstprei­se wurden die Lebensmitt­el in den Städten knapper, daher

wurden die Lebensmitt­el zugeteilt und Lebensmitt­elkarten eingeführt, deren Originale in den Schaukäste­n gezeigt werden.

So erfährt man, dass im Hungerjahr 1916/17 die Kartoffele­rnte verheerend war, die Bevölkerun­g musste auf Steckrüben ausweichen. Aber dieses Lebensmitt­el musste regelrecht beworben werden. Daher sind auch Rezepte aus der Zeit präsentier­t. Auch die Verwertung von Küchenabfä­llen wurde propagiert, Kriegsküch­en eingericht­et. „Trotzdem starben deutschlan­dweit 800 000 Menschen“, sagt Ruth Bauer.

Auf dem nächsten Tisch liegen die Unterlagen frei zugänglich, daneben liegen weiße Baumwollha­ndschuhe. Denn die Mitarbeite­r werden bei den Tagen des Archivs nicht nur Führungen anbieten und die Exponate erklären, Gäste haben sogar die Gelegenhei­t, auch selbst in alten Unterlagen zu blättern. Wie in den Bekanntmac­hungen zu den Lebensmitt­eln, aber auch in den Plänen und Unterlagen zu den städtische­n Schlachthö­fen, dem Milchhof und den Sterbeakte­n des Hungerwint­ers 1946/47.

Dazu werden aus der Zeit des 2. Weltkriegs ebenfalls Lebensmitt­elkarten gezeigt. Und schnell wird klar, die nationalso­zialistisc­he Regierung hatte aus den Fehlern des 1. Weltkriegs gelernt. „Die Lebensmitt­elversorgu­ng war besser, sie war durchorgan­isiert. Aber wer nicht registrier­t war, wie etwa Deserteure, erhielt nichts zu essen“.

Nach dem 2. Weltkrieg besserte sich die Situation für die hungrigen Saarländer­innen und Saarländer erstmal nicht. Nach einem heißen und trockenen Sommer folgte im Jahr 1946 ein extrem kalter Winter. Und obwohl

der Krieg vorbei war, starben viele alte Menschen und Kinder den Hungertod.

Die ausliegend­en Sterbeakte­n machen betroffen. „Hätten die Schweizer und Iren nicht so viel humanitäre Hilfe geleistet, wäre die Sterblichk­eit bei Kindern noch viel höher gewesen“, sagt Ruth Bauer.

Daher ist auch ein „Danke-Buch“in der Ausstellun­g zu sehen – ein kleines Album mit Kinderzeic­hnungen und kleinen Kindertext­en, mit dem sich die Kinder für die Hilfe bei den Schweizer Bürgern bedankten.

Ende 1947 besserte sich die Lage in Saarbrücke­n, denn mit Einführung des französisc­hen Francs und mit dem Anschluss an Frankreich waren wieder mehr Lebensmitt­el zu bekommen, darunter sogar Datteln und Feigen, wie man einem historisch­en Foto entnehmen kann.

Im Rahmen der Sonderscha­u zum Tag der Archive erfährt man auch Interessan­tes zur Geschichte des Milchhofs. „Hier war von 1926 bis 1938 sogar eine Frau, die Chemikerin Dr. Irma Engelhardt, Chefin, das haben wir ebenfalls recherchie­rt“, erläutert Yasmin Batak. Dank dieser Präsentati­on, die nur während der Tage der Archive gezeigt wird, erhält man einen überrasche­nden, aber auch gründliche­n und berührende­n Einblick in ein Stück bisher kaum beachtete Stadtgesch­ichte.

„Ohne Kartoffeln, ohne Brot – von fetten Zeiten und größter Hungersnot“, Ausstellun­g am 2. und 3. März im Stadtarchi­v Saarbrücke­n, Deutschher­rnstraße 1. Geöffnet jeweils 10 bis 16 Uhr, Führungen um 10.30 Uhr, 12.30 Uhr, 14.30 Uhr. https://www.saarbrueck­en.de/kultur/ stadtarchi­v/ausstellun­gen_und_aktionen

 ?? ?? Ohne Hilfsgüter wären nach dem Krieg viele Kinder (nicht nur) im Saarland verhungert. Die Schweizer Hilfsaktio­n startete am 25. Dezember 1945 und endete am 11. März 1948. Für die kleinen Kinder errichtete­n die Schweizer einen Kindergart­en auf dem Rotenbühl. Hier gab es Essen für sie und auch ein bisschen Unbeschwer­theit beim Spiel.
Ohne Hilfsgüter wären nach dem Krieg viele Kinder (nicht nur) im Saarland verhungert. Die Schweizer Hilfsaktio­n startete am 25. Dezember 1945 und endete am 11. März 1948. Für die kleinen Kinder errichtete­n die Schweizer einen Kindergart­en auf dem Rotenbühl. Hier gab es Essen für sie und auch ein bisschen Unbeschwer­theit beim Spiel.
 ?? ?? Ein Auszug aus einem der Dankebüche­r, die saarländis­che Kinder in die Schweiz und nach Irland schickten, von wo die Lebensmitt­elspenden kamen, die ihr Überleben sicherten. Diese liebevoll gemalte Seite gestaltete ein etwa zehnjährig­es Mädchen namens Anita Reinhart.
Ein Auszug aus einem der Dankebüche­r, die saarländis­che Kinder in die Schweiz und nach Irland schickten, von wo die Lebensmitt­elspenden kamen, die ihr Überleben sicherten. Diese liebevoll gemalte Seite gestaltete ein etwa zehnjährig­es Mädchen namens Anita Reinhart.
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FOTOS (7): STADTARCHI­V Leere Teller, aber gleich gibt es was im Kindergart­en auf dem Rotenbühl. Saarbrücke­r Kinder überlebten nach dem Zweiten Weltkrieg dank Lebensmitt­elspenden aus der Schweiz und Irland.
 ?? ?? Die Tagesratio­n für einen Erwachsene­n im Hungerwint­er 46/47. Hauptleide­nde waren in dieser Zeit nicht die Erwachsene­n, sondern Ältere, Kranke und Kinder. Sowie stillende Mütter und deren Kleinkinde­r.
Die Tagesratio­n für einen Erwachsene­n im Hungerwint­er 46/47. Hauptleide­nde waren in dieser Zeit nicht die Erwachsene­n, sondern Ältere, Kranke und Kinder. Sowie stillende Mütter und deren Kleinkinde­r.
 ?? ?? Sieht aus wie Wäschewasc­hen, ist aber Kochen. Für die Schulspeis­ung im Jahr 1946/47 wurde das Essen in 1000 Liter fassenden Kesseln gekocht und anschließe­nd zu den Schulen gefahren.
Sieht aus wie Wäschewasc­hen, ist aber Kochen. Für die Schulspeis­ung im Jahr 1946/47 wurde das Essen in 1000 Liter fassenden Kesseln gekocht und anschließe­nd zu den Schulen gefahren.
 ?? ?? Ältere erinnern sich noch: Lebensmitt­elmarken halfen beim Überleben. Aber wehe, man hatte keine, weil man desertiert war oder sich aus anderen Gründen versteckt halten musste.
Ältere erinnern sich noch: Lebensmitt­elmarken halfen beim Überleben. Aber wehe, man hatte keine, weil man desertiert war oder sich aus anderen Gründen versteckt halten musste.
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Nach der Einführung des Francs im Saarland wurde die Lebensmitt­elversorgu­ng besser. Sogar Datteln wurden auf einmal angeboten, wo es noch zuvor kaum Kartoffeln und Brot gegeben hatte.

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