Warum der Westminster-Palast in Gefahr ist
Big Ben wurde gerade frisch restauriert. Doch auch der Rest des britischen Parlaments bräuchte dringend eine Sanierung. Das gestaltet sich schwierig – dabei hat das Gebäude ungeahntes Potenzial.
(dpa) Das britische Parlament in London gilt als „Mutter aller Parlamente“. Mit dem landläufig als Big Ben bekannten Glockenturm ist es zudem eines der bekanntesten Wahrzeichen der Welt. Doch der Palace of Westminster ist in einem bedauernswerten Zustand. Wo man hinschaut, bröckelt es. Der weiche Kalkstein, in den einst die filigranen neogotischen Verzierungen gehauen wurden, ist vielerorts von Wind, Wetter und Luftverschmutzung zerfressen. Ein großer Teil des Gerüsts, der um das Gebäude errichtet wurde, ist nur dazu da, Menschen vor herunterfallenden Trümmern zu schützen. Hinzu kommt eine völlig marode Haustechnik.
Auch Schönheitsreparaturen wie neue Teppichböden oder Wandfarbe sind zumindest in Teilen des Gebäudes seit Jahrzehnten fällig. Mit gutem Willen lässt sich hier und dort von
Patina sprechen. Doch man könnte auch sagen, die Teppichböden und Wandbeläge strotzen vor Dreck. Und schwarze Kästen mit Giftköder für Mäuse und Ratten in beinahe jeder Ecke zeugen davon, dass es im Parlament nicht nur von Menschen wimmelt.
Als während einiger kalter Tage kurz nach dem Jahreswechsel kürzlich die Heizung in dem als „Burma
Road“bezeichneten JournalistenQuartier ausfiel, griffen viele Reporter zu elektrischen Heizkörpern. Als daraufhin die Stromversorgung zusammenbrach, wurden die Heizlüfter von der Hausverwaltung einkassiert und es war wieder kalt. Die zahlreichen Klagen kommentierte ein Journalist süffisant mit der Bemerkung, das ganze Gebäude werde ohnehin bald niederbrennen, dann werde es warm sein. Tatsächlich ist die Sorge vor einem Feuer wie bei der Kathedrale Notre-Dame in Paris nicht ganz aus der Luft gegriffen. „Mit jedem Jahr, das vergeht, wächst das Risiko der Lebensgefahr, des Ausfalls wichtiger Versorgungseinrichtungen oder irreparabler Schäden am Gebäude, zum Beispiel durch einen katastrophalen Brand“, hieß es in einem Bericht für einen Ausschuss des Unterhauses vor einigen Jahren. In einem anderen heißt es: „Es gibt die reale Gefahr, dass ein katastrophales Ereignis den Palast zerstört, bevor er jemals repariert oder restauriert wird.“
Doch die Entscheidung über eine grundlegende Sanierung wurde in den vergangenen Jahren immer wieder hinausgeschoben. Keine der beiden großen Parteien scheint derzeit bereit, sich einem Milliardenprojekt verschreiben zu wollen. Hinzu kommt, dass viele Parlamentarier nicht auf das ikonische Gebäude verzichten wollen. Doch ohne einen vorübergehenden
Auszug würden die Arbeiten deutlich erschwert. Derzeit werde an mehreren Vorschlägen samt Kostenschätzung gearbeitet, die beiden Parlamentskammern im Jahr 2025 vorgelegt werden sollen, teilte ein Parlamentssprecher auf Anfrage mit.
Zuletzt wurden für verschiedene Varianten, bei denen der Parlamentsbetrieb gar nicht, teilweise oder komplett ausgelagert werden sollte, zwischen 7 und 22 Milliarden Pfund (etwa 8,2 und 25,7 Milliarden Euro) veranschlagt. Die Dauer wurde auf 12 bis 76 Jahre geschätzt. Doch auch das Aufschieben kostet Geld: Die Kosten für laufende Reparaturen belaufen sich inzwischen auf zwei Millionen Pfund (etwa 2,35 Millionen Euro) – pro Woche.
Elektrik, Heizung, Belüftung, Wasser- und Abwasserleitungen – alles sei immer wieder notdürftig geflickt, aber schon lange nicht mehr grundlegend saniert worden, sagt auch Professor Henrik Schoenefeldt von der University of Kent. Der aus Deutschland stammende Wissenschaftler widmet sich seit Jahren der Erforschung der Architektur des Palace of Westminster und vor allem dessen ursprünglicher Belüftungstechnik. Was er bei seinen Recherchen vor Ort und in zahlreichen Archiven zum Vorschein gebracht hat, ist erstaunlich. Der größte Teil des Parlaments geht auf die Zeit nach dem Brand im Jahr 1834 zurück. Das Feuer hatte beide Plenarsäle und weite Teile des ursprünglichen Gebäudes zerstört. Ältester erhaltener Teil ist die Westminster Hall aus dem 11. Jahrhundert mit ihrem eindrucksvollen hölzernen Hammerbalkengewölbe – ein Meisterwerk mittelalterlicher Architektur.
Es gibt die reale Gefahr, dass ein katastrophales Ereignis den Palast zerstört, bevor er jemals repariert oder restauriert wird.