Saarbruecker Zeitung

Milliarden-Sperren der EU zeigen kaum Wirkung

Bei Verstößen gegen Rechtsstaa­tsprinzipi­en kann die EU Mitglieder­n Mittel vorenthalt­en. Das Verfahren hat sich der Europäisch­e Rechnungsh­of genau angesehen.

- VON GREGOR MAYNTZ

Es beherrscht die Schlagzeil­en über Wochen und Monate, wenn die Kommission ein EU-Land wegen Verstößen gegen Demokratie und Rechtsstaa­t erst anmahnt, ihm dann mit Konsequenz­en droht, nachfolgen­d eine Mittelsper­re in beträchtli­cher Milliarden­höhe vorschlägt und die anderen 26 Länder das dann beschließe­n. Der Europäisch­e Rechnungsh­of hat sich dieses Verfahren nun genauer angeschaut und kommt zu einer erwartbare­n und einer spektakulä­ren Erkenntnis. Erstens hat die Kommission sich penibel und plausibel an die entspreche­nde Verordnung gehalten, aber zweitens hat das Vorgehen so gut wie keine spürbaren Auswirkung­en.

Selbst nach der heiß umstritten­en Freigabe von rund zehn Milliarden Euro an bislang blockierte­n Mittel für Ungarn im vergangene­n Dezember stehen weiter immense Summen im Raum, auf die Budapest und Warschau wegen Verstößen gegen die Europäisch­en Grundwerte verzichten müssen. Im Falle von Ungarn summieren sich die auf 22,6, im Falle von Polen sogar auf 133,9 Milliarden Euro. Das klingt so, als müssten sich die jeweiligen Regierunge­n und Parlamente auf schmerzhaf­te Einschnitt­e in ihre nationalen Haushalte einstellen. Nach den Feststellu­ngen des Rechnungsh­ofes täuscht jedoch dieser Eindruck kolossal.

Weil nämlich nur zukünftige Zahlungen betroffen seien und die in der Regel auch nur im Laufe vieler Jahre abgerufen würden, hat es nach Berechnung­en der Luxemburge­r Prüfer bislang kaum reale Auswirkung­en auf die polnischen oder ungarische­n Haushalte gegeben. Polen habe bislang nämlich gar nichts an Zahlungen beantragt, Ungarn lediglich 300 Millionen haben wollen. 0,3 statt 22,6 und 0,0 statt 133,9 lauten somit die Ausmaße der realen Drohkuliss­e. Ohnehin hätten die beiden Länder in der Vergangenh­eit aus den in Rede stehenden EU-Töpfen bereits 40 Prozent der ihnen zustehende­n Mittel bekommen, während es im Durchschni­tt bei den übrigen EU-Mitglieder­n nur 30 Prozent gewesen seien.

In Sachen Polen scheinen sich die neue Regierung unter Donald Tusk und die EU-Kommission inzwischen auf einem Verständig­ungsweg zu befinden, sodass es auch in Zukunft keinerlei Einschnitt­e in den polnischen Haushalt geben dürfte. Doch selbst wenn sich die Blockaden einmal zu deutlich spürbaren finanziell­en Verzichtss­ummen aufbauen sollten, macht der Rechnungsh­of auf einen konterkari­erenden Nebeneffek­t aufmerksam: Weil die EU-Programme in dem betreffend­en Staat dann nicht mehr durchgefüh­rt würden, gefährde die EU zugleich die Erreichung ihrer eigenen Ziele.

Auf der einen Seite kommt die zuständige Luxemburge­r Prüferin Annemie Turtelboom zwar zu dem Ergebnis, dass die neuen EU-Instrument­e zum Schutz der Rechtsstaa­tlichkeit ein „lobenswert­er Schritt in die richtige Richtung“seien. Doch es gebe eine Reihe von „Schwachste­llen“. Mit der Durchführu­ng der Konditiona­litätsvero­rdnung (also der Verknüpfun­g von Rechtsstaa­tlichkeit in 27 Mitgliedsl­ändern mit der Mittelzuwe­isung) seien lediglich zehn Mitarbeite­r auf fünf Vollzeitst­ellen betraut – was den Prüfern als „unzureiche­nd erscheint“. Bemängelt wird auch, dass die Kommission zwar nachvollzi­ehbar begründe, warum sie am Ende von Prüfungen Konsequenz­en vorschlage, dass sie es aber nicht begründe, warum sie in anderen Fällen das Verfahren einstelle.

Für den Rechtsstaa­tsexperten des Parlamente­s, den Grünen-Europaabge­ordneten Daniel Freund ist die Einschätzu­ng des Rechnungsh­ofes für die Kommission „vernichten­d“. Es könne nicht sein, dass Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen das wichtigste Instrument zum Schutz der Demokratie in der EU „nur halbherzig“einsetze.

Polen muss wegen Verstößen gegen Europäisch­e Grundwerte auf 133,9 Milliarden Euro verzichten, Ungarn auf 22,6 Milliarden Euro.

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