Saarbruecker Zeitung

Von Defensive zur gescheiter­ten Gegenoffen­sive

Zwei Jahre nach der russischen Invasion hat Kiew viel erreicht, doch 2024 dürfte das bisher schwierigs­te Jahr für die Ukraine werden.

- VON PAUL FLÜCKIGER

Maxim aus Uman in der Zentralukr­aine lebt seit vier Jahren in Warschau und sagt es ganz offen: „Ich kann nicht zurück in die Ukraine, da sie mich dort an die Front schicken werden.“Natürlich liebe er sein Heimatland, aber für den Waffendien­st sei er nicht geschaffen, sagt der schmächtig­e Dreißigjäh­rige. Später indes gibt er zu, dass man alles lernen könne, auch das Schießen und Töten. „Fünf meiner Jugendfreu­nde aus dem Fußballklu­b sind bereits in Zinksärgen zurückgeko­mmen, soll ich mich wirklich auch zu ihnen gesellen?“, sagt er und erzählt von seiner Freundin und den Eltern, die ebenfalls in Polen leben.

Wolodymyr Selenskyj, der Staatspräs­ident der Ukraine, macht gerade mächtig Druck, damit EU-Staaten zumindest die männlichen Flüchtling­e zurück in die Ukraine schicken. Der Grund ist einfach: Viele Frontsolda­ten sind seit zwei Jahren im Dienst, sie müssen endlich abgelöst werden. Dafür fehlte dem ukrainisch­en Heer aber eine halbe Million Soldaten. Estland hat eine Rückschieb­ung wehrfähige­r Männer in die Ukraine bereits halbwegs zugesagt, Polen hält sich noch bedeckt, Deutschlan­d hat das Ansinnen Selenskyjs rundweg abgelehnt. Der Personalma­ngel ist nur eine Facette des ukrainisch­en

Abwehrkrie­ges gegen die brutale russische Invasion vom 24. Februar 2022. Dazu kommen Munitions- und Geldmangel, veraltete oder ein bunt zusammenge­stückeltes Waffenarse­nal.

Dazu droht auch die Kriegsmüdi­gkeit der demokratis­chen Welt und damit einhergehe­nd eine EntSolidar­isierung. Wichtige 2024 anstehende Wahlen könnten diesen Abgrund vertiefen. Angst hat man in Kiew vor allem vor einem Wahlsieg des Putin-Bewunderer­s Donald Trump in den USA, aber auch Siege wie jener Robert Ficos im kleinen Nachbarlan­d Slowakei im Herbst 2023 und nun wohl im März wohl auch bei den slowakisch­en Präsidente­nwahlen, streuen bereits jetzt viel Sand ins Getriebe der dringend nötigen Nato-Waffenlief­erungen.

Vernachläs­sigt wurde zudem vom demokratis­chen Westen, aber auch der Ukraine selbst, der sogenannte Globale Süden, allen voran aufstreben­de große Staaten wie Indien, Indonesien, Südafrika oder Brasilien. „Der Ukraine-Krieg ist keine Auseinande­rsetzung zwischen Demokratie und Autoritari­smus, wie ihr das uns in Europa weiszumach­en versucht, sondern es handelt sich in einem nackten Machtkampf in einem ziemlich keinem Land der Welt, der Ukraine“, sagt Samir Saran, einer der einflussre­ichsten indischen Politologe­n bei einem persönlich­en Treffen in Warschau. Saran wirft der EU, USA und Nato einen „himmelschr­eienden Euro-Zentrismus“vor, eine unzeitgemä­ße Selbstverl­iebtheit gar. Die Ukraine sei doch de facto ein kleines Land, widerspric­ht er im Gespräch immer wieder. Wegen dieses unwichtige­n Landes namens Ukraine müsse Indien nun zum Beispiel viel höhere Benzinprei­se bezahlen, Arme würden noch ärmer, klagt Saran, der die Umweg-Importe von russischem Rohöl nach Europa via zum Beispiel Indien massiv kritisiert. „So kann man natürlich gut EU-Sank

tionen gegen Russland einhalten und alle kritisiere­n, die sie nicht unterstütz­en“, sagt Saran. Er habe überhaupt keine Position in diesem Konflikt, wehrt er Einspruch ab. „Ich will niemandem von außerhalb vorschreib­en, wie er leben muss“, sagt der Politologe und kritisiert genau dies auf Seiten der Nato – aber auch Russlands. „Für uns im Globalen Süden sind beide Konfliktpa­rteien schuld“, sagt Samir Saran.

Immerhin, der ukrainisch­e Außenminis­ter Dmitro Kuleba hat vor Kurzem eine diplomatis­che Offen

sive Richtung Indien und Afrika angekündig­t. Zu lange scheint sich die Ukraine nur auf Europa und die USA konzentrie­rt zu haben. Doch auch dort geht inzwischen die Munition aus. Diplomaten in Warschau geben hinter vorgehalte­ner Hand freimütig zu, dass man die Waffenindu­strie-Kapazitäte­n seit dem Zerfall der Sowjetunio­n von 1991 und der Unabhängig­keit derer Nachfolges­taaten wie etwa der Ukraine sträflich herunterge­fahren habe. In Frankreich bauten staatliche Konzerne ab, in Deutschlan­d waren es private wie

Rheinmetal­l oder Krauss-Maffei Wegmann.

Russland hingegen hat Ende 2023 beschlosse­n, auf Kriegswirt­schaft umzustelle­n und fortan 30 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s für die Verteidigu­ng auszugeben. Verteidigu­ng heißt beim russischen Autokraten Wladimir Putin indes Angriff, konkret im Moment auf die Ukraine, bald aber womöglich auch auf Moldawien, das Baltikum und vielleicht sogar Polen.

Allerdings, im Jahr 2024 dürfte es aller Voraussich­t nach für Russland bei Angriffen auf die Ukraine blieben. Bei einem Waffenarse­nal-Verhältnis von noch etwa 8:1 zuungunste­n Kiews wird sich die Ukraine im laufenden Jahr eher an der rund 1000 Kilometer langen bisherigen Frontlinie eingraben und diese verteidige­n müssen. Die im Sommer 2023 angekündig­te Gegenoffen­sive Richtung Asowsches Meer und Halbinsel Krim ist eh schon vor Monaten zum Stillstand gekommen. Zu groß ist die Luftüberle­genheit der Russen, zu gut haben sie sich in den eroberten Gebieten der Oblasten Saporischs­chja und Cherson mit bis zu vier Verteidigu­ngsringen eingegrabe­n. Die ukrainisch­e Stadt Melitopol etwa, das Tor zur Krim, ist zwar nur rund 100 Kilometer von dem im Sommer zurückerob­erten Dorf Robotyne entfernt, doch für die Ukraine bestimmt nicht vor 2025 erreichbar. Daran würden auch ein paar F-16 Kampfflugz­euge und ein paar „Taurus“-Raketen nichts ändern.

Russland mag die Hauptstadt Kiew im Februar 2022 nicht wie erwartet innerhalb von drei Tagen erobert haben, daraus jedoch abzuleiten, Putin verfüge nur über eine imaginiert­e Armee ist falsch.

Die Ukrainer müssen im dritten Kriegsjahr laut Experten, etwa des Washington­er Think-Tanks „Institute for the Study of War“, nun 2024 erwarten, dass Russland die Frontlinie weiter begradigen will. Unter Druck kommen damit die Gebiete im Donbas bei Awdijewka, Bachmut und Kupjanski im Norden der größtentei­ls bereits seit Kriegsbegi­nn russisch besetzten Oblast Luhansk. Gerechnet wird auch mit einer möglichen viel massiveren Attacke auf die einstige 800 000-Einwohner-Stadt Saporoschi­ja, die Hauptstadt der gleichnami­gen Oblast, die zwei Jahre lang immer fest in Kiewer Hand war. Immerhin mit erneutem russischen Eroberungs­versuch Kiews ist eher nicht zu rechnen – zumindest noch nicht 2024.

Experten gehen davon aus, dass Russland die Frontlinie 2024 weiter begradigen will.

 ?? FOTO: MADS CLAUS RASMUSSEN/RITZAU SCANPIX/AP/DPA ?? Gemeinsam mit der dänischen Ministerpr­äsidentin Mette Frederikse­n und ihrem Ehemann Bo Tengberg besuchte der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj (re.) in Lwiw einen Friedhof, um an die Opfer des Krieges erinnern. Seit zwei Jahren muss sich die Ukraine gegen die russischen Invasoren verteidige­n.
FOTO: MADS CLAUS RASMUSSEN/RITZAU SCANPIX/AP/DPA Gemeinsam mit der dänischen Ministerpr­äsidentin Mette Frederikse­n und ihrem Ehemann Bo Tengberg besuchte der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj (re.) in Lwiw einen Friedhof, um an die Opfer des Krieges erinnern. Seit zwei Jahren muss sich die Ukraine gegen die russischen Invasoren verteidige­n.

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