Saarbruecker Zeitung

Millionen Russen sind in ihrer Gleichgült­igkeit gefangen

Zwei Jahre Krieg haben auch in Russland Spuren hinterlass­en. In der Gesellscha­ft überwiegen dennoch weiterhin Konformist­en, der Staat setzt auf Patriotism­us.

- VON INNA HARTWICH

Wenn es Nacht wird, holt Andrej ein Gläschen. Er befüllt es leise aus seiner silbernen Flasche. „Meine Spezialmis­chung“, nennt er das, Spiritus mit Wasser. Es ist oft Nacht in Andrejs Dorf, nur 50 Kilometer südlich davon verläuft der Polarkreis. Im Winter gibt es hier nur ein paar Stunden schummrige­s Licht am Tag. „Die natürliche Dunkelheit ist einfacher zu ertragen als die Dunkelheit, die sich über unser Land gelegt hat, die dein Inneres zerfrisst, die auch dann da ist, wenn es hell ist über deinem Kopf“, sagt Andrej und nippt am Gläschen.

Im Fernsehen laufen die Hits der 90er Jahre, es ist seine bewusste Entscheidu­ng, die immer schriller werdende Staatsprop­aganda nicht in seine Küche zu lassen. „Diese Schufte haben in meinem Haus nichts zu suchen“, fährt er selbst Bekannte an, wenn sie „nur kurz Putins Ansprache“sehen wollen. Er habe Prinzipien, sagt Andrej. Sein richtiger Name ist verfremdet, auch das ist eine Folge der immer weiter um sich greifenden Repression­en im Land. Die Angst, sie sitzt in jedem Menschen hier, die Vorsicht, die Sorge, irgendeine Linie zu überschrei­ten, auch wenn niemand von ihnen weiß, wo diese Linie sei, wie sie aussehen könnte. Im „hybriden Totalitari­smus“, wie der russische Politikbeo­bachter Andrej Kolesnikow die russische Staatsform mittlerwei­le nennt, regiert die allumfasse­nde Willkür. Die Stimmung in Russland? „Wir halten durch“, sagt Andrej.

Zwei Jahre dauert der Krieg in der Ukraine an. Tag für Tag Zerstörung, Tod, Leid, weil der russische Präsident Wladimir Putin mit Drohnen, Bombern und Panzern seiner Logik der historisch­en Gerechtigk­eit folgt und von seinem Volk die vollkommen­e Unterstütz­ung seiner Macht einfordert, die Menschen zu seinen Untertanen macht. Diese, jedes Bürger-Daseins beraubt, unterwerfe­n sich in Massen den „militärisc­hen Heldentate­n“, sie poltern gegen „diese Nazis, die auf unserem Territoriu­m unsere Leute töten“, sie schauen weg und sagen: „Was ist schon dabei?“Sie sind so in ihrer Gleichgült­igkeit gefangen, dass kein Funken Empathie sie erreicht, scheinbar nichts kann die Millionen Konformist­en in dieser brüchigen Routine erschütter­n. Bis dann der Mann an die Front muss, der Sohn im Zinksarg zurückkomm­t. Sie weinen, sie klagen, den Krieg aber stellen sie nicht in Frage.

Einige spüren das Unrecht, das sich gegen sie richtet, sie ziehen weiße Kopftücher an, diese Farbe der Unschuld, und bringen Blumen an die Kremlmauer. „Mein Mann soll zurückkomm­en von der Front“, fordern sie. Es sollen andere dorthin, die Soldaten, die Freiwillig­en, sagen sie dann. Die Systemfrag­e stellen sie nicht.

Es ist schwer, in Russland die Systemfrag­e zu stellen. Alexej Nawalny hatte sie gestellt, immer und immer wieder. Er tat es auch, ironisch feixend, noch hinter den Mauern seiner Strafkolon­ie, in der Dunkelheit hinterm Polarkreis. Er erlag der staatliche­n Folter und mit ihm auch die Hoffnung vieler Russinnen und Russen auf jegliche Veränderun­gen. Auf eine Zukunft. Sein Tod ist ein zweiter Schlag innerhalb von zwei Jahren, ein neues „Es darf nicht sein, und es passiert doch vor unseren Augen“, das ihnen jegliche Zuversicht raubt. Sie versuchen, optimistis­ch zu sein, versuchen, Nawalnys Aufforderu­ng „Gebt niemals auf! Habt keine Angst!“als Leitlinie für sich selbst in Gang zu setzen. Es gelingt den wenigsten, noch sitzt der Schock zu tief. Ein neues Grauen, während der Horror vom 24. Februar 2022 sich tief eingegrabe­n hat und weiter anhält, wie auch nicht?

Die zwei Jahre Krieg, sie haben auch in Russland Verheerung­en hinterlass­en. Tote Soldaten, Tausende von Festnahmen Andersdenk­ender, Denunziati­onen, Verurteilu­ngen wegen der sogenannte­n „Diskrediti­erung der russischen Armee“und „Verbreitun­g von Fakes“, Umdichtung von Geschichte, Umformung der Gesellscha­ft, vom Kindergart­en an. „72 Prozent aller Kinder von fünf bis 19 Jahren sollen bis Ende 2024 vom patriotisc­hen Bildungssy­stem erfasst sein“, forderte die für die Sozialpoli­tik zuständige Vize-Ministerpr­äsidentin Tatjana Golikowa in diesen Tagen.

„Wer die Luft des Terrors atmet, stirbt, auch wenn er zufällig am Leben bleibt“, hatte Nadeschda Mandelstam in ihren Erinnerung­en einst geschriebe­n. Die sowjetisch­e Autorin hatte ihren Mann Ossip, der in seinen Gedichten den Schlächter Stalin angegangen war, 1938 im Gulag, diesem Netz aus systematis­cher Menschenve­rnichtung, verloren. Heute weihen Politiker voller Stolz Stalin-Büsten in ihren Städten ein, Schüler defilieren daran vorbei. Sie sehen sich als Teil einer großen Mission. Es ist ein erhebliche­r Teil der Gesellscha­ft. Sie sind zu Hassern geworden, an deren taubblinde­r Weltsicht jedes Argument abprallt. „Es bleiben Wodka und Tränen“, sagt Andrej an seinem Küchentisc­h. Seine silberne Flasche steht am Fenster.

 ?? FOTO: SERGEY GUNEEV/DPA ?? Kremlchef Wladimir Putin (li.) und sein Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu nahmen am Freitag an einer Kranzniede­rlegung im Alexanderg­arten zum Tag der Vaterlands­verteidigu­ng teil.
FOTO: SERGEY GUNEEV/DPA Kremlchef Wladimir Putin (li.) und sein Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu nahmen am Freitag an einer Kranzniede­rlegung im Alexanderg­arten zum Tag der Vaterlands­verteidigu­ng teil.

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