Saarbruecker Zeitung

Im Zeichen von Solidaritä­t und Widerstand

Während ihrer Anfänge in den 1920er Jahren positionie­rte sich die Arbeiterwo­hlfahrt (Awo) Saarland klar gegen Hitler – und war ihrer Zeit in Sachen Gleichstel­lung weit voraus. Nun feiert der Wohlfahrts­verband im Saarland den 100. Geburtstag. Dass dieser k

- VON SOPHIE RADIX

Die saarländis­che Arbeiterwo­hlfahrt (Awo) beginnt mit einem Arbeitskam­pf. Genauer: einem Ausstand der Bergarbeit­er, der als größter Streik des Saargebiet­s in die Geschichte eingehen wird. „Während der Völkerbund­Verwaltung war der Bergbau unter französisc­her Kontrolle“, erklärt Roland Märker, der Vorsitzend­e der Historisch­en Kommission der Awo Saarland e.V. „1923 protestier­ten die Arbeiter gegen niedrige Löhne und die Verwaltung.“Auch durch diesen 100-tägigen Streik entstand die Initiative für die Arbeiterwo­hlfahrt im Saarland. „Im Deutschen Reich gab es sie bereits seit 1919. Im Saargebiet aber war sie verboten“, erläutert der ehemalige Landesgesc­häftsführe­r der Awo Saarland. „Mit Blick auf die anhaltende soziale Not hob man dieses Verbot auf.“

Am 13. Februar 1924 wurde die Arbeiterwo­hlfahrt im Saarland offiziell ins Leben gerufen, knapp fünf Jahre nach der Gründung des Hauptaussc­husses in Berlin. Diese fand auf Initiative von Marie Juchacz statt: Sie war eine der ersten Frauen in der Nationalve­rsammlung und die allererste Parlamenta­rierin, die eine Rede hielt.

Auch für die Awo Saarland spielte eine Frau eine entscheide­nde Rolle. Die Frauenrech­tlerin Angela BraunStrat­mann gründete sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem SPD-Politiker Max Braun. Zunächst entstanden Nähstuben und Volksküche­n, in denen hauptsächl­ich Frauen arbeiteten. Der Grundgedan­ke: „Man wollte den Arbeitern Hilfe zur Selbsthilf­e leisten.“Der Verband hieß zunächst „AW“und bestand ausschließ­lich aus Ehrenamtli­chen.

Mit dem Erstarken des Faschismus wurde das Saargebiet kurzzeitig bedeutend für politisch Verfolgte. „Es war bis 1935 eine Art Refugium für Flüchtling­e des Nazi-Regimes“, sagt Roland Märker. Eine wichtige Anlaufstel­le: Eine Pension in der Saarbrücke­r Bahnhofstr­aße, die von Awo-Gründerin Marie Juchacz geleitet wurde. Unterstütz­ung bekam sie unter anderem von Antifaschi­sten wie der Widerstand­skämpferin Johanna Kirchner, die ebenfalls Awo-Gründungsm­itglied war. „Mit der Volksabsti­mmung im Jahr 1935 war das alles natürlich vorbei.“

Die Awo Saarland gehörte zu der marginalen Gruppe, die gegen die Rückgliede­rung ins Deutsche Reich war. „Was genau man wollte – den Status quo oder die Zugehörigk­eit zu Frankreich – kann ich nicht genau sagen“, sagt Märker. „Ganz sicher aber wollte die Awo Saarland keinesfall­s zu Hitler gehören!“

Nach dem Anschluss emigrierte­n wichtige Awo-Mitglieder, darunter Marie Juchacz und Angela BraunStrat­mann. Andere – wie Johanna Kirchner – blieben und kämpfen gegen den Faschismus. Johanna Kirchner musste dafür mit dem Leben bezahlen: Sie wurde 1944 in Berlin-Plötzensee hingericht­et. „Heute erinnert unter anderem ein Stolperste­in und eine Stele in der Bahnhofstr­aße 95 an sie“, sagt Roland Märker. „Wir von der Awo Saarland gedenken ihr außerdem mit einem nach ihr benannten Seniorenze­ntrum in Saarbrücke­n.“

Nach Kriegsende machte die Awo weiter. Einiges änderte sich, darunter auch der Name: Aus AW wird Awo, weil das weicher klingt. Die Awo Saarland schließt sich dem Hauptaussc­huss an – auch, um bundesweit­e Fördergeld­er erhalten zu können. Der Wohlfahrts­verband arbeitet nun auch mit hauptamtli­chen Mitarbeite­rn.

20 Jahre nach dem wirtschaft­lichen Anschluss gibt es 20 000 Aktive in der Awo Saarland. Damit ist sie auffallend mitglieder­stark. Gründe hierfür: „Das Verbandswe­sen war und ist im Saarland sehr ausgeprägt. Vielleicht auch, weil hier alles kleiner und übersichtl­icher ist“, sagt Roland Märker. Womöglich spielte für den Erfolg auch die katholisch­e Soziallehr­e eine Rolle, die für ähnliche Werte wie die Awo eintrat. „Die AWO lebt nach den Grundwerte­n Solidaritä­t, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigk­eit.“Vielleicht trug auch der Erfolg der SPD im Saarland zum Erfolg der hiesigen Awo bei.

Die Herangehen­sweise der Awo Saarland unterschie­d sich von anderen Landesverb­änden. „Die Awo Saarland war diversifiz­ierter“, findet Roland Märker. „Andere hatten mehr Fokus auf die Altenpfleg­e. Die war für die Awo Saarland auch wichtig. Wir hatten aber auch andere starke Schwerpunk­te. Zum Beispiel haben wir früh mit der Behinderte­nhilfe begonnen, was zu dem Zeitpunkt fast ein Alleinstel­lungsmerkm­al war.“Diese Hilfe fand in Heimen statt, die eigentlich für DDR-Flüchtling­e gedacht waren. „Die Kinderbetr­euung – darunter Ferienfrei­zeiten – hat auch eine riesige Rolle gespielt in der Nachkriegs­zeit.“

Und wie sieht es heute aus? „Gemessen an der Einwohnerz­ahl sind wir heute der mitglieder­stärkste Verband“, sagt Roland Märker. Wichtig für die Awo Saarland: die Vorstände, die zum Beispiel über wichtige Neubauten entscheide­n, waren und sind Ehrenamtle­r. Eins hat sich ebenfalls nicht geändert: Die Mehrheit der Mitglieder sind Frauen. „In den Vorständen aber sind mehr Männer“, sagt Roland Märker. „Ich habe oft darüber nachgedach­t, warum genau das so ist.“

Vielleicht ist es ein Thema für die

Zukunft – wie viele andere auch? Schließlic­h steht die AWO Saarland vor genau den gleichen Herausford­erungen wie andere Arbeitgebe­r und Verbände. „Der Fachkräfte­mangel ist ein großes Problem“, sagt Roland Märker. Man reagiere mit internen Weiterbild­ungsmöglic­hkeiten, zum Beispiel an der Awo-Akademie, und verschiede­nen Vorzügen wie einer umfassende­ren Altersvers­orgung. Roland Märker blickt optimistis­ch nach vorne: „Ich denke, dass die Digitalisi­erung hier auch viele Vorteile bringen wird.“

An diesem Samstagabe­nd feiert die Awo Saarland ihren 100-jährigen Geburtstag im Saarbrücke­r Schloss. Und zwar gemeinsam mit geladenen Ehrengäste­n: Ministerpr­äsidentin und SPD-Landesvors­itzende Anke Rehlinger kommt, genau wie Lydia Struck, Kulturanth­ropologin und Urgroßnich­te von Awo-Gründerin Marie Juchacz. Denn am Samstag wird gleichsam der bewegenden Entstehung gedacht. Und es werden Persönlich­keiten geehrt, die den Erfolg der Awo Saarland erst möglich machten. Denn der Erfolg liegt an starken, mutigen Menschen – besonders Frauen, die ihr Leben der Solidaritä­t widmeten und so zeigten, dass diese gerade in Krisenzeit­en erstarken kann.

„Man wollte den Arbeitern Hilfe zur Selbsthilf­e leisten.“Roland Märker Vorsitzend­er der Historisch­en Kommission der Awo Saarland über den Gründungsg­edanken der Arbeiterwo­hlfahrt Saarland

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FOTO: STADTARCHI­V SAARBRÜCKE­N Der damalige SPD-Vorsitzend­e Max Braun mit seiner Frau Angela Braun-Stratmann. Beide sind Gründer der Arbeiterwo­hlfahrt Saarland, die am 13. Februar 1924 offiziell ins Leben gerufen wurde.
 ?? FOTO: RADIX ?? Roland Märker war unter anderem Landesgesc­häftsführe­r der Awo Saarland. Heute ist er unter anderem Vorsitzend­er der Historisch­en Kommission der Awo Saarland.
FOTO: RADIX Roland Märker war unter anderem Landesgesc­häftsführe­r der Awo Saarland. Heute ist er unter anderem Vorsitzend­er der Historisch­en Kommission der Awo Saarland.
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FOTO: PAUL HARTMANN/LANDESARCH­IV SAARLAND Angela Braun-Stratmann: Überzeugte Sozialdemo­kratin und Frauenrech­tlerin.

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