Saarbruecker Zeitung

„Für mich ist seit zehn Jahren Krieg“

Am 24. Februar vor zwei Jahren überfiel Russland die Ukraine. Viele Menschen flohen, vor allem Frauen und Kinder. So wie Olha Polishchuk und ihr Sohn Leonid. Die beiden sind zwei von rund 4700 Ukrainern in Saarbrücke­n – Erinnerung­en an ihre Flucht.

- VON ESTHER BRENNER

Olha Polishchuk holt ein buntes Küchenhand­tuch aus dem Schrank. „Das haben mir Freunde aus meiner Wohnung in Mykolaiv geschickt“, freut sich die Ukrainerin. „Und hier, mein selbst geschriebe­nes Rezeptebuc­h!“, zeigt sie. „Sogar meine eigene Bettdecke habe ich wieder, darüber freue ich mich sehr!“In dem großen Paket mit den vielen persönlich­en Kleinigkei­ten, das vor ein paar Wochen aus der Ukraine ins Saarland kam, stecken die traurigen, aber tröstliche­n Reste ihres geliebten Zuhauses. Hier, in Olhas und Leonids deutschem Zuhause im Nauwieser Viertel, werden diese Dinge zu einem Stück Heimat.

In mehreren Etappen war die promoviert­e Philologin, die an der Schwarzmee­r-Universitä­t in Mykolaiv ukrainisch­e Literatur unterricht­ete und dort Vize-Dekanin ihrer Fakultät war, aus der südukraini­schen Hafenstadt vor zwei Jahren mit ihrem Sohn geflüchtet. Seit Ende März 2022 lebt die 34-Jährige mit Leonid (bald 12) in Saarbrücke­n. Am 10. April 2022 waren die beiden ins Gästezimme­r unserer Familie gezogen. Vier Monate lang dauerte unsere ukrainisch-deutsche Wohngemein­schaft. Nicht nur Olhas leckeres „Borschd“-Rezept – traditione­ller ukrainisch­er Eintopf mit roter Bete – ist dabei hängen geblieben. Entstanden sind ( Ver-)Bindungen, die man nie für möglich gehalten hätte. „Wir haben hier wunderbare Menschen getroffen und sehr viel Hilfsberei­tschaft erfahren“, sagt Olha. Nur über die Tücken der deutschen Bürokratie staunt, flucht und schmunzelt sie manchmal – bis heute.

Für die Polishchuk­s begann der Krieg nicht erst am 24. Februar 2022. „Für mich ist seit zehn Jahren Krieg“, sagt Olha. Denn sie stammt aus der Nähe von Luhansk im russisch-be

setzten Donbass. Aufgewachs­en ist sie 15 Kilometer entfernt von der russisch-ukrainisch­en Grenze. Russisch ist ihre Erstsprach­e, doch heute spricht sie wie viele ihrer Landsleute – ganz bewusst – nur noch Ukrainisch. Ihre Mutter lebt jetzt in Olhas Luhansker Wohnung, die sie aber nur behalten darf, wenn sie einen russischen Pass beantragt. „Niemals werde ich das tun!“, versichert Olha. Eine Schwester ist mit einem Russen verheirate­t und lebt in Russland. Die andere wohnt im Donbass und hat sich mit ihrer Familie auf die russische Seite geschlagen. Die Schwestern sprechen nicht mehr miteinande­r. „Unsere Familienge­schichte ist traurig und sehr komplizier­t.“Die Spaltung auch kein Einzelfall.

Für Olha und ihren Mann Volodymyr allerdings stand immer schon fest, dass ihr Sohn in einer Demokratie aufwachsen soll. „Mein Mann war Grundschul­lehrer, als wir bei Luhansk wohnten.“Die Übergriffe der Separatist­en und russischen Sol

daten seien seit 2014 so schlimm gewesen, dass sich das Paar 2018 entschloss, die Ostukraine zu verlassen und nach Mykolaiv am Schwarzen Meer zu ziehen. Volodymyr trat in den Militärdie­nst ein. Seitdem hat sich die Familie immer nur für ein

paar Wochen im Jahr gesehen.

Eigentlich war Olhas Mann kurz vorm Ausscheide­n als Berufssold­at. Dann kam der russische Überfall – und Volodymyr musste in den Einsatz. „Mein Mann rief mich nach vielen Tagen, in denen ich nichts von ihm gehört hatte, an und bat mich dringend, das Land zu verlassen“, erinnert sich Olha. „Er sagte mir, er habe schrecklic­he Dinge gesehen, wollte aber nicht mehr erzählen.“Olhas Ehemann kämpfte gleich zu Beginn der Invasion im Gebiet um Kiew, wo er schon in der zweiten Woche schwer verletzt wurde: Eine Granate war in seiner Nähe explodiert. Seitdem sind sein Hören und Sehen stark eingeschrä­nkt. Heute bewahrt ihn diese Verletzung womöglich vor dem Einsatz an der Front, er bildet nun Rekruten aus. „Erst im Sommer, als wir uns in der West-Ukraine getroffen haben, war er in der Lage, mir von seinen schrecklic­hen Erlebnisse­n zu erzählen. Er war in der Nähe von Butscha gewesen ...“, sagt Olha und verstummt. In dem Vorort

von Kiew hatten russische Soldaten bei ihrem Einmarsch ein Massaker an Zivilisten angerichte­t.

Olha hatte damals Glück im Unglück. Ihre Universitä­t pflegt eine Partnersch­aft zu den „Border Studies“(Grenzraum-Studien) an der Saar-Uni. Die lud mehrere ukrainisch­e Dozentinne­n nach Saarbrücke­n ein, unterstütz­te sie bei der Wohnungssu­che, half ihnen mit der Beantragun­g von Stipendien und mit eigenen Zuschüssen. „Ich bin froh, dass wir nicht auf Bürgergeld angewiesen sind.“Olha verdient nicht viel, hangelt sich von Stipendium zu Stipendium, aber es reicht. Demnächst hat die Literaturw­issenschaf­tlerin eine halbe Stelle als wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin an der Saar-Uni.

Früher habe sie große Pläne geschmiede­t. „Das habe ich aufgegeben“, sagt sie traurig. „Ich träume von der Ukraine, und bis vor einiger Zeit war ich sicher, wir gehen bald zurück.“Doch ihr Sohn Leonid („Lonja“) hat sich an der Europäisch­en Schule, wo er den EnglischZw­eig besucht, gut eingelebt, blüht dort auf. „Er hat Angst, nach Mykolaiv zurückzuke­hren“, weiß seine Mutter. Und zunehmend große Probleme im streng getakteten ukrainisch­en Schulsyste­m. Wie viele ukrainisch­e Schülerinn­en und Schüler absolviert er neben der deutschen Schule auch ein gewisses Pensum des ukrainisch­en Lehrstoffe­s – bis vor kurzem online mit Lehrerinne­n in der Heimat.

Dreimal konnten die beiden bisher zurück in die Ukraine fahren, um den Ehemann und Vater zu treffen, in der Wohnung in Mykolaiv, die bisher von Bombardeme­nts verschont blieb, nach dem Rechten zu sehen, die ausgebombt­en Schwiegere­ltern zu besuchen. „Es gibt dort keine Heizung, nicht immer Strom und nur sehr dreckiges Wasser“, erzählt Olha. „Es ist schwer, sich an den ständigen Bombenalar­m vor allem nachts zu gewöhnen. Wir hatten große Angst“, erzählt sie. „Aber die Menschen dort haben sich daran gewöhnt, sie leben ihr Leben, obwohl sie wissen, dass die nächste Bombe sie treffen kann.“Manchmal hat Olha ein schlechtes Gewissen, dass sie geflohen ist. „Aber ich habe auch Verantwort­ung für mein Kind.“Die Diskussion um eine Ausweitung der Wehrpflich­t in der Ukraine sieht sie mit gemischten Gefühlen. „Ich bin Mutter. Ich würde nie wollen, dass mein eigener Sohn in den Krieg ziehen muss. Gleichzeit­ig sind es jetzt unsere Männer, Brüder, Väter und Söhne, die die Russen stoppen müssen. Sonst muss es die nächste Generation tun“, sagt Olha.

Auch bei ihr – wie bei vielen ihrer Landleute – macht sich schleichen­d eine gewisse Resignatio­n breit. Der Optimismus vom Anfang des Krieges, Russland standhalte­n und sogar aus den besetzten Gebieten im Osten und Süden vertreiben zu können, weicht gerade zunehmende­r Verzweiflu­ng und Frustratio­n. Vor wenigen Tagen musste die Ukraine die hart umkämpfte, strategisc­h wichtige Stadt Awdijiwka räumen. Es sieht nicht gut aus an der Front, es fehlt an allem, vor allem an Munition. „Wir brauchen dringend Waffen, unsere Soldaten verteidige­n Europa!“sagt Olha. „Bitte helft uns!“.

Zurück an ihre Uni kann Olha nicht mehr. Geflüchtet­e sind dort jetzt unerwünsch­t, hat man ihr klar gemacht. Wann und wohin sie in die Ukraine zurückkehr­t ist derzeit völlig offen.

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FOTO: POLISHCHUK Ein bisschen Sonne in dunklen Zeiten: Olha, Leonid und Volodymyr Polishchuk in Kiew im Sommer 2023. Die Familie traf sich während dessen Urlaub von der Armee.
 ?? FOTO: IRIS MAURER ?? Olha Polishchuk und ihr Sohn Leonid leben seit März 2022 in Saarbrücke­n. Als der Krieg begann, flohen sie aus Mykolaiv am Schwarzen Meer.
FOTO: IRIS MAURER Olha Polishchuk und ihr Sohn Leonid leben seit März 2022 in Saarbrücke­n. Als der Krieg begann, flohen sie aus Mykolaiv am Schwarzen Meer.

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