Saarbruecker Zeitung

„Wir sind mobile Wesen“

Warum reisen wir? Und nach welchen Kriterien suchen wir unsere Reiseziele aus? Spoiler: Influencer haben eher wenig Einfluss.

- DIE FRAGEN STELLTE TOM NEBE Produktion dieser Seite: Danina Esau

Tourismusf­orscher Professor Pietro Beritelli von der Universitä­t St. Gallen geht den Fragen des Reisens nach. Eine Erkenntnis: Die schönen Bilder aus der Werbung und von Influencer­n in sozialen Medien haben weniger Einfluss, als man denken würde. Es sind andere Dinge, die zählen.

Herr Beritelli, Sie haben in einer Studie untersucht, wovon Reiseentsc­heidungen abhängen. Welche Faktoren beeinfluss­en denn am meisten, wohin wir reisen?

PIETRO BERITELLI Ich habe die Leute in längeren Gesprächen befragt, wo sie im Urlaub gewesen sind und vor allem: wie es dazu kam, dass sie dorthin gereist sind. Die Antworten darauf ließen sich größtentei­ls in drei Gruppen aufglieder­n. Die erste Gruppe hat mit Beziehunge­n zwischen Menschen zu tun. Also man hat Freunde oder Verwandte besucht, man wurde eingeladen, vielleicht auf eine Hochzeit. Oft haben die Leute gesagt: Ich habe es selbst nicht entschiede­n, sondern die anderen, mit denen ich gereist bin. Meistens ist man ja in einer Situation, wo ein Konsens gefunden werden muss, oder? Der einzelne Mensch ist eben oft nicht unabhängig beim Entscheide­n, sondern er ist eingebette­t in seine Familie, in seinen Freundeskr­eis oder in ein bestimmtes Arbeitsumf­eld. Die zweite Gruppe sind verschiede­ne Auslöser von der sogenannte­n zweiten Heimat. Man kehrt dorthin zurück, wo man schon war. Manchmal hat man dort gelebt, studiert, gearbeitet,

oder man hat vielleicht schon einmal einen Ort in der Nähe besucht und will dorthin noch mal hin. Oder man geht sogar ins gleiche Hotel, weil man sich zum Beispiel mit den Gastgebern in der Zwischenze­it angefreund­et hat. Oder es war schon jemand, mit dem man gemeinsam verreisen will, an einem bestimmten Ort – und derjenige schlägt deshalb dieses Reiseziel vor. Die dritte Gruppe würde ich so beschreibe­n: testweise Steine ins Wasser werfen. Da stehen also Ferien an und man hat keine Idee, wo es hingehen soll. Oft geht es in den Fällen dann um die Verfügbark­eit eines preislich passenden Reiseangeb­ots in einem austauschb­aren Land. Das verleitet die Menschen dann, einen ersten Entscheid bezüglich der Reise zu treffen.

Wenn Sie sagen, man wirft den Stein ins Wasser – heißt das, viele sind gar nicht so versteift auf ein bestimmtes Reiseziel, sondern es geht häufig nach Verfügbark­eiten oder schon Bekanntem?

BERITELLI Genau, und das ist ja erstaunlic­h. Im Tourismus, gerade auch in der Werbung von Destinatio­nen, heißt es immer: Menschen träumen, sie müssen inspiriert werden. Also ein bisschen schöngeist­ig, so wird es auch in der Geschichte des Reisens dargestell­t. Aber die Realität widerspric­ht dem. Menschen treffen banale, simple Entscheidu­ngen, um einfach erst mal eine Entscheidu­ng getroffen zu haben. Das geben sie in der Regel nicht so offen zu. Aber so ist es. Auch Influencer in den sozialen Medien haben weniger Einfluss auf Reiseentsc­heidungen, als man denken würde. Wenn die Menschen in den Interviews gesagt haben: „Ich habe dann in den sozialen Medien einen Tipp gekriegt“, dann habe ich nachgehakt und gefragt, von wem denn genau der Tipp kam? Und das waren dann erstaunlic­herweise alles Freunde und Verwandte, also Leute, die man kennt. Über die sozialen Medien geht es schneller, aber grundsätzl­ich sind die Mechanisme­n die gleichen geblieben. Mund-zu-Mund-Werbung funktionie­rt am besten unter Leuten, die man kennt. Die Menschen können keine Werbekampa­gne in Erinnerung rufen oder Ähnliches. Aber oft waren sie oder jemand aus ihrem Umfeld schon einmal dort und deshalb sind sie dorthin. Denn wenn jemand an einem Ort gewesen ist, ist das eine stärkere Botschaft, als wenn ich irgendwie noch in meinem Unterbewus­stsein irgendwelc­he Bilder suchen würde. Das Erstaunlic­he ist: Wenn jeder Mensch reflektier­en und nachdenken würde, wie es zu der Entscheidu­ng kam, dass man dorthin und nicht woandershi­n gereist, dann kommen oft diese drei Kategorien zum Vorschein, die ich beschriebe­n habe.

Sie haben für die Studie 256 Interviews mit verschiede­nsten Menschen geführt. Lässt sich denn aus all den einzelnen Erlebnisse­n und Ansichten auch so eine Art Grundbedür­fnis ableiten, was sich Menschen eigentlich vom Reisen erwarten?

BERITELLI Das ist eine gute Frage, die ich in diesen Befragunge­n den Interviewt­en so nicht gestellt habe. Aber rückblicke­nd, auch aus früheren Untersuchu­ngen, würde ich sagen: Der Mensch ist ein bisschen ein getriebene­s Tier. Wir sind mobile Wesen, wir wollen neue Horizonte und neue Flächen oder Länder erschließe­n, das ist evolutionä­r in uns drin, so haben wir den Planeten bevölkert.

Der Mensch kann nicht stehenblei­ben, auch wenn er sesshaft ist. Früher hat man draußen gearbeitet, man hat migriert, man war Jagen oder hat auf dem Acker gearbeitet. Heute sitzen viele im Büro. Das ist aber nicht in der Natur des Menschen. Der Mensch will Neues erleben, darum reist er. Das Spannende dabei ist: Reisen an sich ist ja immer erst mal eine Reihe an Problemen, die gelöst werden müssen. Wie komme ich von A nach B? Wo schlafe ich? Wo esse ich? Dafür gibt es dann Transportu­nternehmen, Hotels, Restaurant­s oder Reiseveran­stalter, die alles im Bündel klären. Zusammenge­fasst sind das alles Probleme und per se erst mal keine schönen Dinge.

Aber: Während des Reisens entstehen schöne Momente. Und diese Momente sind außerhalb unseres Alltags. Vielleicht schätzen wir das speziell, weil das in einem anderen Umfeld, auf einer anderen neuen Bühne stattfinde­t. Ein Glücksfors­cher kam aber auch einmal zu der Erkenntnis, dass Menschen, die mehr reisen, nicht automatisc­h glückliche­r sind. Menschen, die unterwegs anderen Menschen begegnen und mit anderen unterwegs sind – die hingegen sind glückliche­r.

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FOTO: BENJAMIN NOLTE/DPA-TMN/DPA Oft zieht es Reisende dorthin, wo sie schon mal waren. Und wer würde nicht immer wieder zu dieser Aussicht auf den Königssee und die Berchtesga­dener Alpen zurückwoll­en?
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FOTO: UNIVERSITÄ­T ST.GALLEN/ DPA Professor Pietro Beritelli

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