„Die Demos für die Demokratie sind ermutigend“
Thüringens Verfassungsschutzchef sieht durch den AfD-Landesverband sämtliche demokratischen Institutionen und Verfahren bedroht.
Die rechtsextreme Thüringer AfD kann im Herbst als stärkste Kraft aus der Landtagswahl hervorgehen, darauf deuten alle Umfragen hin. Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan J. Kramer spricht über Björn Höckes Pläne, über Gründe für die große Zustimmung in der Wählerschaft und über die bundesweiten Proteste gegen Rechtsextremismus.
Die Thüringer AfD wird seit März 2021 vom Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextrem eingestuft. Dennoch steht sie seit Monaten stabil auf Platz eins. Dringen Ihre Erkenntnisse nicht durch?
KRAMER Es ist nicht mein Eindruck, dass die Erkenntnisse nicht durchdringen. Die Einstufung durch das Amt für Verfassungsschutz in Thüringen, aber auch in Sachsen und Sachsen-Anhalt, ebenso wie die ersten Urteile in den Klageverfahren der AfD gegen diese Einstufungen sind in den Medien, der Politik und der Mehrheitsgesellschaft als das aufgenommen worden, was sie sind: Weckrufe an eine oft schweigende Mehrheit, mit dieser verfassungsfeindlichen Bestrebung in die Auseinandersetzung zu gehen. Zugleich beweist sich hier unser Rechtsstaat: Die behördlichen Einstufungen unterliegen vollumfänglich einer gerichtlichen Überprüfung. Und der Thüringer Landesverband der AfD hat bis heute nicht gegen die Einstufung geklagt.
Wie hat sich die AfD seitdem weiterentwickelt?
KRAMER Seit unserer Einstufung im März 2021 hat es keine politische Mäßigung der Vertreter der Partei in Thüringen gegeben. Im Gegenteil tritt Herr Höcke – wie seit Jahren – mit dem Gestus eines Mannes im Widerstand gegen das auf, was die AfD offen beispielsweise als ‚Alt
parteienkartell' und ‚Systempresse' abqualifiziert. Das ist der Sound der Demokratieverächter der Weimarer Republik, die er sich zum Vorbild zu nehmen scheint. Es ist bei Würdigung aller Anhaltspunkte zum Landesverband absurd, wenn man glaubt, Höcke fordere sein Publikum auf ‚Alles für Deutschland' zu sagen und wisse als Geschichtslehrer nicht, welche Parole er da verwendet.
Wie erklären Sie sich dann den gewachsenen Zuspruch für die AfD?
KRAMER Ich bin kein Politikwissenschaftler und auch kein Demoskop,
sodass ich diese Frage lediglich mit Blick auf die Zuständigkeit meiner Behörde beantworten kann. Man kann beobachten, dass es zunehmend soziale Räume gibt, in denen verfassungsfeindliche Positionen – und seien sie nur aus Ignoranz geäußert –, unwidersprochen bleiben. Dadurch finden sie Verbreitung.
Der AfD geht es in Teilen um Pläne zur Vertreibung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte oder um den Ausschluss von Kindern mit Behinderung aus Regelschulen, wie es der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke gefordert hat. Lässt sich die
Akzeptanz von derart radikalen Positionen wirklich noch mit Ignoranz erklären?
KRAMER Wie ich schon sagte, es geht in Teilen der Gesellschaft auch, aber nicht nur um Ignoranz. Menschen, die für die AfD-Thüringen und den unangefochtenen Sprecher der Partei Björn Höcke ihre Stimme abgeben und Unterstützung zeigen, tun das nicht trotzdem, sondern weil er sagt, was er denkt und auch meint.
Höcke denkt laut über einen Umbau des Verfassungsschutzes nach. Was würde seine Wahl zum Ministerpräsidenten für Ihre
Behörde bedeuten?
KRAMER Was der Landessprecher über die Behörde sagt und denkt, die ich leite, ist kein Geheimnis und mit Verlaub meine geringste Sorge. Herr Höcke hat auch ein ganzes Buch darüber geschrieben, was seine Positionen und Absichten sind, insbesondere wenn es um die Zukunft der freiheitlich demokratischen Grundordnung geht. Alle demokratischen Institutionen und Verfahren sind durch diesen AfDLandesverband bedroht, unter anderem deswegen wird er intensiv beobachtet und vor seinen Zielen auch gewarnt.
Wie blicken Sie auf die bevorstehenden Landtagswahlen?
KRAMER Hier muss ich als Bürger und Demokrat antworten: Die bevorstehenden Landtagswahlen – ebenso wie jede freie Wahl – sind etwas, das Demokraten feiern sollten. Auch und gerade angesichts der Bedrohung der Grundordnung durch mögliche Wahlerfolge von Rechtsextremisten. Bis zum Wahltag ist eine Zeit der Bilanz, der Fehlerlese, der Selbstkritik, aber auch der mutigen, täglichen Auseinandersetzung über und das Werben für politische Inhalte. Wählerinnen und Wähler wollen überzeugt und nicht bevormundet werden.
An welchen Stellen halten Sie Fehlerlese und Selbstkritik konkret für angebracht?
KRAMER Sie brauchen sich doch nur die aktuellen und zurückliegenden Proteste und Sorgen der letzten Jahre in der Bevölkerung anzuschauen. Die Themen Klima, Zuwanderung,
Bildung, Gesundheit und Sicherheit sorgen für erhebliche Verunsicherung, Angst und auch Wut.
Die Thüringer Verfassung hat eine Unschärfe, was die Wahl des Ministerpräsidenten im dritten Wahlgang angeht. Wie stehen Sie zu einer Verfassungsänderung vor der Wahl, um mehr Klarheit zu schaffen?
Man kann beobachten, dass es zunehmend soziale Räume gibt, in denen verfassungsfeindliche Positionen – und seien sie nur aus Ignoranz geäußert –, unwidersprochen bleiben. Dadurch finden sie Verbreitung.
KRAMER Bitte sehen Sie es mir nach, dass ich – gerade in meiner Rolle als Behördenleiter des Verfassungsschutzes – zu dieser Frage keine Stellung nehmen kann.
Bundesweit demonstrieren Millionen Menschen gegen Rechtsextremismus, gegen die AfD und für die Demokratie. Trauen Sie den Protesten zu, eine nachhaltige Wirkung zu haben?
KRAMER Auch die Proteste würde ich ungern bewerten, wie Ihre Frage intendiert. Ich habe da keine Noten zu verteilen. Die anhaltenden Demonstrationen für die Demokratie, quer durch die Gesellschaft, sind ermutigend. Was ich als Bürger generell positiv wahrnehme, ist die Tendenz, wieder als Wählerin und Wähler in die politische Auseinandersetzung zu gehen. Von Politikverdrossenheit oder -müdigkeit kann jedenfalls keine Rede sein. Dabei kann unsere Demokratie beweisen, dass wir uns politisch engagieren und auch um die besten Konzepte und Lösungen streiten können, ohne den anderen in seinem Menschsein abzuwerten oder persönlich zu diffamieren.