Saarbruecker Zeitung

Die Demokratie steht beständig im Zwielicht

Die Demokratie ist auf dem Rückzug, und zwar schon seit Jahren, wie eine Erhebung der Zeitschrif­t Economist zeigt. In der Folge gibt es Schatten wie Licht.

- VON MARTIN KESSLER

Mehr als vier Milliarden Menschen gehen dieses Jahr zur Wahl – so viele wie nie. Gewählt wird in der Europäisch­en Union, in Ländern wie Indien, den USA, Großbritan­nien, Indonesien und Russland, aber auch auf kommunaler Ebene in Brasilien und der Türkei. Man mag das für ein gutes Zeichen für die Demokratie halten: die Bevölkerun­g als Souverän in so vielen Staaten der Erde. Doch die Zahlen täuschen. Berücksich­tigt man alles, was eine funktionsf­ähige liberale Demokratie ausmacht, so ist diese Regierungs­form überall auf der Welt auf dem Rückzug. Die britische Zeitschrif­t Economist erstellt jedes Jahr einen Demokratie-Index. Dieses subtile Zahlenwerk bewertet Elemente wie den Wahlprozes­s und die Auswahl an Parteien, die Funktionsf­ähigkeit einer Regierung, die politische Teilhabe, den Toleranzgr­ad sowie das Ausmaß der bürgerlich­en Freiheiten mit einem Punktesyst­em von null bis zehn.

Die Länder, die den Wert acht und besser erreichen, gelten als vollständi­ge Demokratie­n, ein Wert auf der Skala von sechs bis acht weist mangelhaft­e Demokratie­n aus, die Länder mit Ergebnisse­n von vier bis sechs bezeichnet das Magazin als hybride Formen mit bestenfall­s einigen demokratis­chen Elementen. Was darunter liegt, gilt als autoritär bis totalitari­stisch. Der Wert, den der „Economist“für die gesamte Welt berechnet, war im vergangene­n Jahr so niedrig wie noch nie, seit es den Index (2006) gibt. Lag die Bewertung im besten Jahr 2008 bei 5,55, so sank sie bis 2023 auf 5,23. Solche Zahlen mögen abstrakt sein. Sie drücken aber aus, dass in vielen Ländern faire Wahlen nicht mehr möglich sind. Verfolgung, Folter, willkürlic­he Verhaftung­en haben zugenommen.

Die Länder der EU verfügen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – über gut funktionie­rende Demokratie­n. Hier ist die Wahl zum Europäisch­en Parlament am 9. Juni frei, fair und transparen­t. In den USA und Indien, die beide ebenfalls zu Wahlen aufrufen, können die Menschen zwar frei entscheide­n. Aber die politische Kultur ist in beiden Ländern so stark abgerutsch­t, dass sie lediglich noch als mangelhaft­e Demokratie­n durchgehen. In den USA kommt eine gegenseiti­ge Lähmung der Regierung hinzu, in Indien sind die bürgerlich­en Freiheiten eingeschrä­nkt.

In einem autoritäre­n Regime wie Russland (Platz 144 von 167 Ländern) steht schon von vornherein fest, dass der alte Präsident auch der neue sein wird – Wladimir Putin. Immerhin schaffen es die Russen noch vor China (Platz 148), wo nicht gewählt wird. Den letzten Platz im Economist-Ranking belegt das bettelarme Afghanista­n mit seinem Steinzeit-Islamismus.

Demokratie bedeutet übrigens meist nicht nur bessere Lebensbedi­ngungen, die rechtliche Unversehrt­heit oder die freie Entfaltung der Persönlich­keit. Demokratie­n führen untereinan­der keine Kriege – zumindest seit 1945 nicht mehr. Dennoch ist diese Regierungs­form bedroht. „Das demokratis­che Modell, entwickelt in den acht Jahrzehnte­n seit 1945, funktionie­rt nicht mehr“, konstatier­t der Economist in seiner Analyse. Dabei ist nicht der kurzfristi­ge Rückgang demokratis­cher Errungensc­haften so bedenklich, sondern der Trend, der seit 2015 anhält. Passend dazu haben auch die internatio­nalen Konflikte wieder an Schärfe gewonnen.

Immerhin gibt es auch einige Lichtblick­e. Ausgerechn­et das vielgescho­ltene Europa hat sich verbessert, wenn auch nur leicht. In Polen wurde eine Regierung mit ständig autoritäre­ren Zügen abgelöst, Griechenla­nd schaffte den Sprung von einer mangelhaft­en zu einer vollständi­gen Demokratie und ist wieder in einer Liga mit Deutschlan­d, den Niederland­en (trotz Wilders` Wahlerfolg), Großbritan­nien, Taiwan und Kanada. Länder wie Frankreich, Spanien und Italien hat das einstige Sorgenkind aus Südeuropa unter der Führung des Konservati­ven Kyriakos Mitsotakis hinter sich gelassen.

Die Länder der EU verfügen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – über gut funktionie­rende Demokratie­n.

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