Die Demokratie steht beständig im Zwielicht
Die Demokratie ist auf dem Rückzug, und zwar schon seit Jahren, wie eine Erhebung der Zeitschrift Economist zeigt. In der Folge gibt es Schatten wie Licht.
Mehr als vier Milliarden Menschen gehen dieses Jahr zur Wahl – so viele wie nie. Gewählt wird in der Europäischen Union, in Ländern wie Indien, den USA, Großbritannien, Indonesien und Russland, aber auch auf kommunaler Ebene in Brasilien und der Türkei. Man mag das für ein gutes Zeichen für die Demokratie halten: die Bevölkerung als Souverän in so vielen Staaten der Erde. Doch die Zahlen täuschen. Berücksichtigt man alles, was eine funktionsfähige liberale Demokratie ausmacht, so ist diese Regierungsform überall auf der Welt auf dem Rückzug. Die britische Zeitschrift Economist erstellt jedes Jahr einen Demokratie-Index. Dieses subtile Zahlenwerk bewertet Elemente wie den Wahlprozess und die Auswahl an Parteien, die Funktionsfähigkeit einer Regierung, die politische Teilhabe, den Toleranzgrad sowie das Ausmaß der bürgerlichen Freiheiten mit einem Punktesystem von null bis zehn.
Die Länder, die den Wert acht und besser erreichen, gelten als vollständige Demokratien, ein Wert auf der Skala von sechs bis acht weist mangelhafte Demokratien aus, die Länder mit Ergebnissen von vier bis sechs bezeichnet das Magazin als hybride Formen mit bestenfalls einigen demokratischen Elementen. Was darunter liegt, gilt als autoritär bis totalitaristisch. Der Wert, den der „Economist“für die gesamte Welt berechnet, war im vergangenen Jahr so niedrig wie noch nie, seit es den Index (2006) gibt. Lag die Bewertung im besten Jahr 2008 bei 5,55, so sank sie bis 2023 auf 5,23. Solche Zahlen mögen abstrakt sein. Sie drücken aber aus, dass in vielen Ländern faire Wahlen nicht mehr möglich sind. Verfolgung, Folter, willkürliche Verhaftungen haben zugenommen.
Die Länder der EU verfügen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – über gut funktionierende Demokratien. Hier ist die Wahl zum Europäischen Parlament am 9. Juni frei, fair und transparent. In den USA und Indien, die beide ebenfalls zu Wahlen aufrufen, können die Menschen zwar frei entscheiden. Aber die politische Kultur ist in beiden Ländern so stark abgerutscht, dass sie lediglich noch als mangelhafte Demokratien durchgehen. In den USA kommt eine gegenseitige Lähmung der Regierung hinzu, in Indien sind die bürgerlichen Freiheiten eingeschränkt.
In einem autoritären Regime wie Russland (Platz 144 von 167 Ländern) steht schon von vornherein fest, dass der alte Präsident auch der neue sein wird – Wladimir Putin. Immerhin schaffen es die Russen noch vor China (Platz 148), wo nicht gewählt wird. Den letzten Platz im Economist-Ranking belegt das bettelarme Afghanistan mit seinem Steinzeit-Islamismus.
Demokratie bedeutet übrigens meist nicht nur bessere Lebensbedingungen, die rechtliche Unversehrtheit oder die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Demokratien führen untereinander keine Kriege – zumindest seit 1945 nicht mehr. Dennoch ist diese Regierungsform bedroht. „Das demokratische Modell, entwickelt in den acht Jahrzehnten seit 1945, funktioniert nicht mehr“, konstatiert der Economist in seiner Analyse. Dabei ist nicht der kurzfristige Rückgang demokratischer Errungenschaften so bedenklich, sondern der Trend, der seit 2015 anhält. Passend dazu haben auch die internationalen Konflikte wieder an Schärfe gewonnen.
Immerhin gibt es auch einige Lichtblicke. Ausgerechnet das vielgescholtene Europa hat sich verbessert, wenn auch nur leicht. In Polen wurde eine Regierung mit ständig autoritäreren Zügen abgelöst, Griechenland schaffte den Sprung von einer mangelhaften zu einer vollständigen Demokratie und ist wieder in einer Liga mit Deutschland, den Niederlanden (trotz Wilders` Wahlerfolg), Großbritannien, Taiwan und Kanada. Länder wie Frankreich, Spanien und Italien hat das einstige Sorgenkind aus Südeuropa unter der Führung des Konservativen Kyriakos Mitsotakis hinter sich gelassen.
Die Länder der EU verfügen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – über gut funktionierende Demokratien.