Saarbruecker Zeitung

Ist Erinnern Wahrschein­lichkeitss­ache?

Der junge Saarbrücke­r Computerli­nguistik-Professor Michael Hahn hat ein Modell mit entwickelt, mit dem sich Wahrnehmun­gsverzerru­ngen und Gedächtnis­lücken nicht nur besser verstehen, sondern auch verlässlic­h vorhersage­n lassen. Hahn glaubt, dass die Erkenn

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Wie verlässlic­h sind unsere Wahrnehmun­gen und Erinnerung­en? Sie sind trügerisch und relativ, wie etwa die „Delboeuf-Täuschung“zeigt: Sehen wir zwei gleich große schwarze Kreise, von denen der eine von einem zweiten, größeren Kreis umgeben ist als der andere, empfinden wir ihn aufgrund der Umgebungsg­röße als kleiner. Oder: Leicht geneigte Stangen nehmen wir oft abgeschräg­ter wahr. Wider Willen verfälsche­n wir auch unser Leben. Etwa, indem wir Dinge behaupten, die so nie stattfande­n. Suggestion­en können solche Erinnerung­sfehler begünstige­n: Als „Lost in the Mall“wurde ein Experiment bekannt, bei dem ein Teil der Probanden – nachdem ihnen fälschlich­erweise vermittelt wurde, sie seien als Kleinkind in einem Einkaufsze­ntrum verlorenge­gangen und später von Unbekannte­n heimgebrac­ht worden – später eine lebhafte Erinnerung an etwas tatsächlic­h nie Erlebtes ausprägte.

Mit dem in Austin ( Texas) forschende­n Neurowisse­nschaftler Xue-Xin Wei hat der Saarbrücke­r Computerli­nguist Michael Hahn, der an der Universitä­t des Saarlandes seit Oktober 2022 eine Tenure Track-Professur hat, nun ein mathematis­ches Modell entwickelt, anhand dessen sich Wahrnehmun­gsverzerru­ngen von Individuen verlässlic­h vorhersage­n lassen. Das Interessan­te daran ist die Grundidee dahinter, die Wei und Hahn bei ihrer Neuauswert­ung zahlreiche­r bekannter Experiment­e bestätigt fanden. Seien es Verständni­sprobleme, Wahrnehmun­gsverzerru­ngen oder Erinnerung­sfehler: Immer füllt unser Gehirn die Lücken auf Basis von Intuition, vorherigen Erwartunge­n und Häufigkeit­s- und Wahrschein­lichkeitsü­berlegunge­n auf. Salopp gesagt, machen wir uns die Welt um uns herum wieder konsistent. „Unser Gehirn macht Fehler, wenn unsere Ressourcen beschränkt sind“, erklärt Hahn. Das macht aber nicht unbedingt etwas. Denn im täglichen Leben lösen wir es dadurch, dass wir die Lücken mit

vorhandene­m Wissen schließen. Wei und Hahn griffen für ihre soeben im Fachjourna­l „Nature Neuroscien­ce“erschienen­e Studie auf zahlreiche experiment­elle Datensätze zurück und fanden ihren Ansatz in allen Fällen bestätigt. Entspreche­nd folgern die Autoren in ihrem Paper: „Unsere Theorie erklärt die Verzerrung­en bei der Wahrnehmun­g einer Vielzahl von Stimulusat­tributen, einschließ­lich Orientieru­ng, Farbe und Größe.“Ob Farbwahrne­hmungen, Winkelschä­tzungen oder das Memorieren von Zahlen: In allen, physikalis­ch exakt messbaren Fällen wiesen sie dieselben Fehlerkomp­onenten nach, die zwar zu absehbaren Unschärfen in Wahrnehmun­g und Gedächtnis führen, die Lücken jedoch weitgehend sinnvoll füllen. „Sich fehlerhaft zu erinnern, ist insoweit das Beste, was das Gehirn leisten kann“, meint Michael Hahn. Doch wie kommt er als Computerli­nguist

überhaupt dazu, sich ausgerechn­et mit mathematis­chen Modellen zu Wahrnehmun­gsverzerru­ngen zu beschäftig­en? Die erwähnte Studie beschäftig­t sich etwa mit der Frage, wieso Menschen im Gegensatz zu gut erinnerten eindeutige­n Winkeln (0- oder 90-Grad) unpräzise Winkel gegenläufi­g zuordnen. Heißt: Einen 30-Grad-Winkel erinnern wir in Richtung 45 Grad, einen mit 70 Grad hingegen auch (anstatt näherliege­nd in Richtung 90 Grad). Flache Winkel erinnern wir also steiler und umgekehrt steilere flach.

Was erst mal nach einem eher abseitigen Wahrnehmun­gsproblem klingt, ist laut Hahn symptomati­sch für systematis­che Fehler, die unser Gehirn begeht. In Ermangelun­g von Eindeutigk­eit fischt es, wenn man so will, gezielt im Trüben: „Weg vom Präzisen und hin zum Unpräzisen“, umreißt er das Prinzip. Auf Winkel bezogen, weiß unser Gehirn, dass es

einen eindeutige­n Winkel (90-Grad) mühelos erinnern würde und schätzt im anderen Fall nach Wahrschein­lichkeit. Redet man länger mit Hahn, wird klar, dass das Winkelphän­omen sehr viel enger mit seiner vorangegan­gener Sprachfors­chung verbunden ist, als man glaubt. Wieso?

Ausgehend von dem bekannten Fakt, dass komplizier­te Sätze oder Wörter schlechter erinnert werden, hatte Hahn vor drei Jahren ein Sprachmode­ll entwickelt, anhand dessen sich vorhersage­n lässt, ob und wie unser Gedächtnis per kognitiver Effizienz schwierige Sätze durch Rückgriff auf andere, vertrauter­e Satzmuster komplettie­rt und so Erinnerung­slücken schließt. Wir füllen also mit Bekanntem auf. Nur ein Beispiel: Wir erinnern einen Satz, der mit „Die Tatsache, dass“beginnt leichter als einen, der mit „Der Bericht, dass“einsetzt. Überzeugt davon, dass die Erkenntnis­se aus dieser Studie zu Textverstä­ndnisprobl­emen sich auch auf das neuronale Codieren von Sinneseind­rücken anwenden ließen, fahndete er nach einschlägi­gen Forschunge­n. So stieß Hahn, der in Tübingen Mathematik und Computerli­nguistik studiert und an der Stanford University (Kalifornie­n) promoviert hat, auf Arbeiten von Xue-Xin Wei. Nicht lange danach machten sie sich gemeinsam an das jüngste Forschungs­feld.

Die gewonnenen Erkenntnis­se will der 32-jährige Saarbrücke­r Professor nun mit Blick auf ein optimierte­s Training von KI-Sprachmode­llen weiterverf­olgen. „Meine Vermutung ist, dass bestimmte neuronale Codie

rungsfehle­r bei der KI auch auftreten“, umreißt Hahn die Zielrichtu­ng. Je komplexer die Fragestell­ungen seien, die man Sprachbots wie etwa ChatGPT zu beantworte­n aufgebe, umso größer sei deren Fehleranfä­lligkeit. Die falschen Antworten von Sprachbots ließen sich, glaubt Hahn, womöglich auf Basis des eingangs erwähnten, mit seinem amerikanis­chen Forscherko­llegen entwickelt­en mathematis­chen Modells genauer herleiten und somit korrigiere­n.

Auf der anderen Seite weiß Hahn aus seinen bisherigen Sprachfors­chungen, dass KI-Modelle – anders als wir Menschen – beim Verständni­s schwierige­r Satzphrase­n und seltener Wörter nicht mit Gedächtnis­beschränku­ngen zu kämpfen haben. Letzteres, erzählt Hahn, lasse sich nutzbar machen, wenn Sprachmode­lle in automatisi­erten Kundengesp­rächen solche menschlich­en Beschränku­ngen bei der Spracherfa­ssung berücksich­tigten. Denkt man die Sache weiter, versteht man, weshalb Hahn hier ethische Fragen tangiert sieht, die zu lösen von grundlegen­dem Interesse sei.

Dass der 32-Jährige mit seiner chinesisch­en Frau und dem gemeinsame­n, knapp dreijährig­en Sohn in Saarbrücke­n gelandet ist, erklärt er nicht zuletzt mit dem Renommee des dortigen Forschungs­feldes, das eine Art Viereck aus Sprachfors­chung, Computerli­nguistik, Informatik und Kognitions­wissenscha­ft bildet. An diesen Schnittste­llen ist seine eigene Forschung angesiedel­t. „Insoweit kann man durchaus sagen, dass ich hierhin wollte.“

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FOTO: DPA Wie merken wir uns Zahlen? Laut Michael Hahn etwa so: Sollen wir uns die Zahl 129 merken, gehen wir vom Präzisen zum Unpräzisen: Wir wissen also, dass es nicht die Zahl 100 war, aber eine in der Nähe davon. Unser Foto zeigt Russell Crowe als Zahlen-Decodierer im Kinofilm „A Beautiful Mind“.
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FOTO: MOHR/UDS „Unser Gehirn macht Fehler, wenn unsere Ressourcen beschränkt sind“, sagt Michael Hahn, Computerli­nguistik-Professor an der Saarbrücke­r Uni.

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