Szenen wie aus „einem Bürgerkrieg“
Am Montag eskalierte ein Bauernprotest in Brüssel. Droht unter dem Einfluss der Demonstrationen ein wichtiges EU- Gesetz doch noch zu scheitern?
Protest? „Das ähnelt einem Bürgerkrieg“, sagt ein schockierter Ordner und zeigt auf das Chaos im Brüsseler Europaviertel. In der Luft hängt der Rauch von angezündetem Stroh und verbrannten Reifen. Überall verstreut liegen Mist und Gülle, den aufgebrachte Bauern mit ihren Traktoren auf die Straßen gegossen haben. Das Hupkonzert von rund 900 Traktoren ist noch kilometerweit entfernt zu hören. Der Protest der Landwirte ist am Montagvormittag in Brüssel völlig eskaliert. Er arbeite seit sieben Jahren in der belgischen Hauptstadt, habe aber noch nie eine solche „Mobilmachung von Gewalt“erlebt, sagt ein EU-Beamter, der Schwierigkeiten hatte, ins Büro zu gelangen. Einige Bauern richteten
Pyrotechnik auf die Beamten, andere durchbrachen mit ihren schweren Schaufeln Betonblocks, Stacheldraht und Polizeisperren. Um die Demonstranten zurückzuhalten, setzten die Sicherheitskräfte Wasserwerfer und Tränengas ein. Wie von den wütenden Protestlern gewünscht, blieben die Szenen auch den 27 EU-Agrarministern nicht verborgen, die am Montag in Brüssel zusammenkamen und über Vorschläge der EU-Kommission berieten, die Landwirte weiter zu entlasten und den Verwaltungsaufwand zu verringern. Die Politiker zeigten Verständnis.
Man hoffe, „eine deutliche Botschaft” an Europas Bauern aussenden zu können, sagte die finnische Landwirtschaftsministerin Sari Essayah: „Wir sind auf deren Seite.” Die Forderungen der Aufgebrachten: Sie verlangen einen Abbau der Bürokratie, weniger Umweltauflagen, keine Subventionskürzungen – dafür gehen sie seit Wochen in allen Teilen der EU auf die Straße. Der europäische Gesetzgeber versucht, die Gemüter mit Entlastungen zu besänftigen.
Drei Monate vor den EU-Wahlen ist die Sorge in Brüssel groß, dass die Rechtspopulisten von der Wut der Demonstranten profitieren werden.
Ausgerechnet in der aufgeladenen Atmosphäre wollen die Europaabgeordneten am heutigen Dienstag eines der umstrittensten Naturschutzvorhaben der Union final absegnen. Das Parlament stimmt in Straßburg über das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur ab, mit dem die EU die Mitgliedstaaten dazu verpflichten will, einen Teil der Ökosysteme auf dem Land wie im Wasser bis 2030 in einen möglichst natürlichen Zustand zurückzuführen. Es geht bei einem der zentralen Pfeiler der Biodiversitätsstrategie etwa darum, trockengelegte Moore wieder zu vernässen, Seegras auf dem Meeresboden anzupflanzen und Wälder aufzuforsten. Im November hatten sich die Unterhändler des Parlaments und des Rats, also des Gremiums der 27 Mitgliedstaaten, auf einen Kompromiss geeinigt, der den Protestlärm der Landwirte berücksichtigte, wie Kritiker betonen. So wimmelt es in dem Gesetz von flexiblen Formulierungen, Ausnahmen und Notbremsen. Mit der abgeschwächten Verordnung werden Bauern künftig – anders als ursprünglich geplant – nicht verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz ihres Landes für umweltfreundliche Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Die Zielmarke besteht dagegen weiter: Die EU-Länder sind angehalten, bis 2030 auf mindestens 20 Prozent der Landflächen und 20 Prozent der Meeresgebiete Wiederherstellungsmaßnahmen vorzunehmen.
Die Streitigkeiten des letzten Jahres haben Spuren hinterlassen. Zwar pries Manfred Weber, Chef der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP), erst vergangene Woche seine Partei als die des Grünen Deals, aber noch 2023 hatte er den Aufstand geprobt.