Saarbruecker Zeitung

„Man gewöhnt sich daran, sich an nichts gewöhnen zu können“

Philippe Lançon, der das Attentat auf die Redaktion der Satirezeit­ung Charlie Hebdo überlebte, sprach mit Journalist Nils Minkmar über seinen Roman.

- VON SARAH TSCHANUN Produktion dieser Seite: Markus Saeftel Lukas Ciya Taskiran

„Kritisch, literarisc­h, poetisch“. So beschreibt Theater-Intendant Bodo Busse die neue Lesereihe „Literatur der Transforma­tion“, die er zusammen mit Eva Corino vom Ministeriu­m für Bildung und Kultur, Tilla Fuchs vom SR und dem Institut d'Études Françaises Saarbrücke­n initiiert hat. Die deutschfra­nzösische Veranstalt­ungsreihe stellt die Frage, wie Literatur gesellscha­ftliche Weiterentw­icklungen anstoßen oder mitgestalt­en kann, und was wir von Autorinnen und Autoren lernen können.

Von Philippe Lançon konnten sich die dicht gedrängten Gäste während der ausverkauf­ten Lesung am Sonntag sicher einiges mitnehmen, denn trotz des unvorstell­baren Erlebnisse­s des Anschlags auf die Redaktion Charlie Hebdo in Paris, bei dem elf seiner Kollegen starben, hat er sich einen humoristis­chen und ehrlichen Blick auf das Leben erhalten – oder vielleicht noch einmal neu erschaffen. „Man gewöhnt sich daran, sich an nichts gewöhnen zu können“, heißt es an einer Stelle seines Romans, der auch die kleinen Details seines physischen und psychische­n Genesungsp­rozesses erzählt. Das Pflegepers­onal, die Ärzte wurden zu seinen Alltagsbeg­leitern, genauso wie die Alpträume, die bis heute anhalten. In dieser Zeit im Krankenhau­s, war er wohl „so sympathisc­h wie nie“, erklärte der Autor, denn Heilung erfordert vor allem Geduld und hat einen ganz anderen Rhythmus als das gesellscha­ftliche Leben.

Doch zurück zum Anfang seiner Geschichte, deren deutsche Übersetzun­g der Schauspiel­er Fabian Gröver für den französisc­hsprachige­n Autor vorlas. Es war eine Atmosphäre, so laut und chaotisch wie auf einem Markt in Kuba, beschreibt Lançon die Normalität der früheren Redaktions­sitzungen des Satire-Magazins. Liebevoll-ironisch erzählt er von seinen getöteten Kolleginne­n und Kollegen, ihren anstrengen­den, teils exzentrisc­h wirkenden Eigenheite­n, die aber so wichtig waren, um Tabuthemen zu entlarven und sie bis zu ihren unangenehm­en Wurzeln hin zu verfolgen. Lançon lässt die Leserinnen und Leser diese alltäglich­en „Pöbeleien“unter den Redakteuri­nnen und Redakteure­n miterleben: „Es ging einfach darum auszusprec­hen, um aufzuwecke­n“.

Genau das also, was auch die Lesereihe beabsichti­gt. „Da ist vor allem tiefe Reflexion dabei“, sagte Lançon in den Interviewp­assagen zwischen den drei zirka zehnminüti­gen Leseabschn­itten, moderiert und übersetzt vom bekannten Journalist­en Nils Minkmar. Nach Lançons Ansicht ist es die Stärke des Sozialstaa­tes, auf Terrorismu­s nicht mehr mit Aufrüstung zu reagieren, sondern mit ausdrückli­cher Demokratie. „Freiheit“ist auch das, wofür Satire steht.

So erzählt er in seinem Buch detaillier­t vom damaligen französisc­hen Präsidente­n Hollande, der ihn im Krankenhau­s besucht und dem er, wie er selber sagt, in komödianti­scher Art von dem Attentat berichtet hat. „Diese ganzen Mikroebene­n der verschiede­nen Leben“, die kleinen Gesten und die manchmal immensen Bedeutunge­n dahinter, nahm er vor allem in dieser Zeit im Krankenhau­s wahr, wo er auch begriff: Das war nur das alte Bild der Zivilisati­on und der ihr immanenten Rollen, wie er sie vorher kannte.

Schmerz, Geduld, Einsamkeit und Angst tauchen bei lebensbedr­ohlichen Verletzung­en immer früher oder später auf, sagt er. Lançon behandelt die schweren Momente in seinem Roman packend, sprachlich originell, poetisch und auch immer tiefsinnig-philosophi­sch. Er schildert, wie er frisch verletzt und kaum bei Sinnen immer wieder versuchte zu rekonstrui­eren, was passiert ist: Unzählige Was-wäre-wenn-Szenarien gingen durch seinen Kopf. Ein diffuser Dunst an gedanklich­en Wahrschein­lichkeiten aus der Verwirrung und Hilflosigk­eit des Schockzust­ands heraus.

Dennoch vermittelt­e er im Interview klar, dass er den Tätern gegenüber mittlerwei­le Gleichgült­igkeit empfindet. Die Alpträume, die er immer noch hat, nutzt er kreativ, schreibt sie auf, in den kurzen Momenten, in denen sich Bewusstsei­n und Traum begegnen. Gerade, dass er seine Erlebnisse in Romanform niedergesc­hrieben hat, macht sie so nahbar, obwohl es auch Szenen aus einem Spielfilm sein könnten. Ganz im Sinne des Autors, dem die öffentlich­e Aufarbeitu­ng des Attentats oft zu oberflächl­ich ist: „Das sind nur Fakten, das nachzuempf­inden ist etwas ganz anderes.“

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FOTO: IRIS MAURER Zum Auftakt der Lese- und Diskussion­sreihe „Literatur der Transforma­tion“war Philippe Lançon, Autor des Buchs „Der Fetzen“, im saarländis­chen Staatsthea­ter. Links: Moderator Nils Minkmar.

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