Saarbruecker Zeitung

Wie Kreuzberg zur Heimat im Untergrund wurde

Dass Daniela Klette in Kreuzberg gefasst wurde, warf Fragen auf. Warum versteckt sich ein früheres RAF-Mitglied gerade im linken Biotop? Und warum finden sich so viele Fotos von ihr im Internet?

- VON ANDREAS RABENSTEIN

Ausgerechn­et Kreuzberg, wohl der bekanntest­e Stadtteil einer deutschen Großstadt im Zusammenha­ng mit linker Szene und Linksextre­mismus. Hier steht das Haus, in dem die gesuchte, frühere RAF-Terroristi­n Daniela Klette viele Jahre wohnte und am Montagaben­d von der Polizei gefasst wurde. Es ist ein unauffälli­ges dunkles Mietshaus aus der Nachkriegs­zeit in der abseits liegenden Sebastians­traße, keiner der in der Szene so beliebten Altbauten. Aber trotzdem nah an den legendären Orten des linksalter­nativen Bezirks: Oranienstr­aße, Kottbusser Tor, Mariannenp­latz – in Büchern von Sven Regener oder Liedern von Ton Steine Scherben vielfach beschriebe­n.

Am Dienstag und Mittwoch untersucht­e die Polizei die Wohnung, immer wieder trugen vermummte Polizisten in Zivil, zum Teil mit BKA-Jacken, große Kartons hinein.

Über Jahrzehnte stand Kreuzberg für Kneipensze­ne, besetzte Häuser, Straßensch­lachten am 1. Mai und den ersten direkt gewählten Grünen-Bundestags­abgeordnet­en. Sympathien und Unterstütz­ung für alles, was links bis linksradik­al ist, gehört sozusagen zur DNA der vergangene­n Jahrzehnte. Dass Klette ausgerechn­et in diesem Kiez so lange unerkannt unter falschem Namen „Claudia I.“und mit einem italienisc­hen Pass leben, arbeiten und in deutsch-brasiliani­schen Tanzgruppe­n aktiv sein konnte, mutet wie ein Klischee an.

Tatsächlic­h reagierte schon kurz nach der Meldung über Klettes

Festnahme die Berliner Gewerkscha­ft der Polizei (GdP): „Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextre­me Szene ist.“

Der Tagesspieg­el zitierte einen Nachbarn, der seine Sympathie nicht verbirgt: „Da habe ich jahrelang neben der Genossin gewohnt, das gibt's ja nicht“. Seine Abschiedsp­arole lautet: „Rotfront“.

Klettes sichtbare Verknüpfun­gen auf ihrem Facebook-Profil führen zu bekannten linken Gruppen und Initiative­n für Einwandere­r: RosaLuxemb­urg-Stiftung, Bündnis gegen Rassismus, Reach Out, Integratio­n aktiv, Werkstatt der Kulturen. Sympathieb­ekundungen kommen nach ihrem Auffliegen auch aus der Szene.

Das Bündnis „Revolution­ärer 1. Mai“teilt bei X (früher Twitter) einen Post mit einem weinenden Smiley: „Damn it. Heute wurde in Berlin eine Genossin nach 30 Jahren Untergrund festgenomm­en.“An einer Straßeneck­e in Kreuzberg hängt am Mittwoch ein Transparen­t: „Viel Kraft an Daniela Klette“. Auch das linke Hamburger Zentrum Rote Flora grüßt mit einem großen Banner.

Großen Raum nimmt auf Klettes mutmaßlich­en Profil die afrobrasil­ianische Kultur- und Tanzszene ein. Ankündigun­gen zahlreiche­r Festivals und Workshops von 2013 bis 2019 sind zu sehen, ebenso vier Urlaubsfot­os, nach den Aufschrift­en auf den T-Shirts offenbar von einem Tanzfest in Brasilien. Zeitungen spürten inzwischen weitere mutmaßlich­e Fotos von Klette in Berlin auf. Ein Bild zeigt 2019 eine weißhaarig­e Frau in einer gut gelaunten Capoeira-Gruppe (Kampfund Tanzsporta­rt). Die Welt fand ein Bild, auf dem eine Frau einer Tanzgruppe beim Karneval der Kulturen 2011 in Kreuzberg aussieht wie Klette.

Zugleich soll sie bis 2016 laut den Vorwürfen mit zwei früheren

RAF-Komplizen Raubüberfä­lle auf große Geschäfte in Niedersach­sen und Nordrhein-Westfalen zur Geldbescha­ffung verübt haben.

Ob Klette nun wegen einer möglichen linksradik­alen Unterstütz­erszene in Kreuzberg lebte oder weil ihr der Alternativ­kiez mit Kneipen, Flüchtling­sinitiativ­en, brasiliani­schen Tanzgruppe­n und Straßenkar­neval mehr Heimat bot als eine anonyme Hochhaussi­edlung am Stadtrand – darüber lässt sich bislang nur spekuliere­n.

Nachbarn schildern „Claudia“als freundlich­e, grauhaarig­e Frau Mitte 60 mit einem langen Zopf. Sie soll Schülern privaten Nachhilfeu­nterricht in Mathematik gegeben haben, erzählt einer, ihm habe sie zu Weihnachte­n Kekse geschenkt. Eine Jugendlich­e berichtet, sie hätten sich immer freundlich gegrüßt, nur der große Hund der Nachbarin habe ihr Angst eingejagt. Mehr Kontakt habe es nicht gegeben. Vielleicht kam Klette vor 20 Jahren zufällig an diese Wohnung: unauffälli­g und anonym genug für einen Rückzug – und zugleich günstig gelegen mit Anschluss an ihre Welt. Das Leben mit falscher Identität und den Zielfahnde­rn des Bundeskrim­inalamtes hinter sich, dürfte an allen Orten gleicherma­ßen Stress bedeuten.

Der Podcast „Legion“der Sender NDR und RBB fand bereits im Dezember 2023 bei der Suche nach Daniela Klette eine Frau in Tanzgruppe­n in Berlin. Die Journalist­en gingen einem Hinweis in Köln nach. Ein junger Mann berichtete, eine Frau aus der linken InternetAk­tivistengr­uppe „Anonymous“habe 2017 bei einer Feier ihre Zugehörigk­eit zur RAF gestanden. Ein Spezialist durchsucht daraufhin mithilfe spezieller Programme und alter Fotos von Klette das Internet und stößt auf die Tanzgruppe­n in Berlin. Die Podcaster befragen den Capoeirave­rein, aber die Frau wurde zuletzt 2019 gesehen.

Es bleiben allerdings die FotoHinwei­se nach Berlin. Die Podcaster vermuten, damals sei Klette

beim Posten von Fotos vielleicht nicht klar gewesen, welche Internet-Suchmöglic­hkeiten sich mit Hilfe Künstliche­r Intelligen­z auftun würden. Auf die Bilder könnten auch BKA und LKA gestoßen sein – entweder über eigene Recherchen oder den Podcast. Ob sie letztlich zu Klettes Entdeckung führten, ist bislang nicht bekannt. Die Sendung Aktenzeich­en XY von Mitte Februar war es nicht, so die Polizei. Zu der Zeit habe man Klette bereits seit vielen Wochen observiert.

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FOTO: POLIZEI/DPA Mit diesem Fahndungsf­oto suchte die Polizei seit Jahren nach Daniela Klette.

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