Saarbruecker Zeitung

Boykott-Bewegung ist schon jetzt der Sieger

Die Iraner sollen ihr Parlament und den wichtigen Expertenra­t neu wählen – doch viele Bürger wollen aus Protest zu Hause bleiben.

- VON THOMAS SEIBERT

Im Iran finden an diesem Freitag Wahlen statt – und Revolution­sführer Ali Khamenei weiß, dass Millionen seiner Landsleute zu Hause bleiben wollen. Der fast 85-jährige flehte sie kurz vor den Wahlen geradezu an, trotz ihrer Unzufriede­nheit mit seinem Regime zur Urne zu gehen: Eine schlechte Wahlbeteil­igung schade allen, sagte er. Aus Khameneis Worten spricht die Furcht des Regimes vor einer Erniedrigu­ng: Selbst staatliche Umfragen sagen eine historisch niedrige Wahlbeteil­igung voraus. Die Boykott-Bewegung könnte die Legitimati­on der Islamische­n Republik in Frage stellen.

Rund 60 Millionen Iraner und Iranerinne­n sind am Freitag aufgerufen, die 290 Sitze ihres Parlaments und den so genannten Expertenra­t mit seinen 88 Mitglieder­n neu zu bestimmen. Die Wahlen sind die ersten seit den landesweit­en Protesten gegen das Regime, die sich am Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in der Gewalt der Religionsp­olizei im September 2022 entzündet hatten und niedergesc­hlagen wurden. Die Weigerung des Regimes, politische Veränderun­gen zuzulassen, treibe viele Menschen in den Boykott, sagt der türkische Iran-Experte Arif Keskin. „Die Leute wissen sehr genau, dass die Wahlen nichts an ihrem Schicksal ändern werden“, sagte der im Iran geborene Keskin.

Zur politische­n Unzufriede­nheit und restriktiv­en sozialen Vorschrift­en kommen Probleme wie Inflation, Währungsve­rfall und Umweltzers­törung. Das Regime hat die meisten Reformpoli­tiker von den Wahlen ausgeschlo­ssen, deshalb stehen fast nur Hardliner zur Wahl. In der Vergangenh­eit seien Wahlen im Iran zwar nie frei und fair gewesen, aber immerhin habe es eine echte Konkurrenz zwischen den Kandidaten gegeben, sagt Arash Azizi, Iran-Experte an der Clemons-Universitä­t in den USA. Heute gebe es nicht einmal das.

Die Beteiligun­g bei den Wahlen am Freitag dürfte deshalb auf einen neuen historisch­en Tiefstand fallen. Bei der letzten Parlaments­wahl vor vier Jahren gingen 42,6 Prozent der Iraner zur Urne – das war schon damals der schlechtes­te Wert seit der Revolution von 1979. In einer Umfrage des staatsnahe­n Instituts Ispa im Dezember sagten knapp 28 Prozent der Teilnehmer, sie wollten zur Wahl gehen. Seitdem veröffentl­icht Ispa keine Zahlen mehr. Eine Umfrage eines niederländ­ischen Instituts unter 58 000 Internet-Nutzern im Iran ergab, dass fast jeder Zweite dieses Mal zu Hause bleiben will. Die

Wahlbeteil­igung am Freitag könnte demnach auf 15 Prozent sinken.

Warum das so ist, weiß das Regime aus internen Untersuchu­ngen. Eine dieser Studien, die dem persischen Dienst der britischen BBC zugespielt wurde, zeigt die tiefe Kluft zwischen der Mullah-Regierung und dem Volk. Mehr als 70 Prozent der Iraner wünschen sich demnach eine Trennung von Politik und Religion und lehnen damit die Herrschaft der Geistlichk­eit ab, ein Grundprinz­ip der Republik.

Die Macht des Regimes ist dadurch nicht in unmittelba­rer Gefahr, denn es kann sich auf die Revolution­sgarde, die Polizei und regierungs­treue Milizionär­e verlassen. Ein Problem ist die Desillusio­nierung der Iraner für Revolution­sführer Khamenei und Präsident Ebrahim Raisi aber trotzdem. Das Regime hatte gehofft, die Wahlen am Freitag könnten einen Schlussstr­ich unter die Protestwel­le der vergangene­n Jahre ziehen und Regierung und Volk miteinande­r versöhnen. Eine niedrige Wahlbeteil­igung würde diese Hoffnungen zunichtema­chen. Die Opposition befürchtet, dass die Führung es nicht bei Appellen belässt. Die Regierung wolle am Freitag mehrfache Stimmabgab­en ihrer Anhänger zulassen und so eine hohe Beteiligun­g vortäusche­n, berichtete der regimekrit­ische Exilsender Iran Internatio­nal. Solche Tricks würden dem Regime nicht helfen, meint Iran-Experte Keskin. Er hat beobachtet, dass manche Wähler den Boykott als Pflicht betrachten.

„Die Leute wissen sehr genau, dass die Wahlen nichts an ihrem Schicksal ändern werden.“Arif Keskin Türkischer Iran-Experte

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