Boykott-Bewegung ist schon jetzt der Sieger
Die Iraner sollen ihr Parlament und den wichtigen Expertenrat neu wählen – doch viele Bürger wollen aus Protest zu Hause bleiben.
Im Iran finden an diesem Freitag Wahlen statt – und Revolutionsführer Ali Khamenei weiß, dass Millionen seiner Landsleute zu Hause bleiben wollen. Der fast 85-jährige flehte sie kurz vor den Wahlen geradezu an, trotz ihrer Unzufriedenheit mit seinem Regime zur Urne zu gehen: Eine schlechte Wahlbeteiligung schade allen, sagte er. Aus Khameneis Worten spricht die Furcht des Regimes vor einer Erniedrigung: Selbst staatliche Umfragen sagen eine historisch niedrige Wahlbeteiligung voraus. Die Boykott-Bewegung könnte die Legitimation der Islamischen Republik in Frage stellen.
Rund 60 Millionen Iraner und Iranerinnen sind am Freitag aufgerufen, die 290 Sitze ihres Parlaments und den so genannten Expertenrat mit seinen 88 Mitgliedern neu zu bestimmen. Die Wahlen sind die ersten seit den landesweiten Protesten gegen das Regime, die sich am Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in der Gewalt der Religionspolizei im September 2022 entzündet hatten und niedergeschlagen wurden. Die Weigerung des Regimes, politische Veränderungen zuzulassen, treibe viele Menschen in den Boykott, sagt der türkische Iran-Experte Arif Keskin. „Die Leute wissen sehr genau, dass die Wahlen nichts an ihrem Schicksal ändern werden“, sagte der im Iran geborene Keskin.
Zur politischen Unzufriedenheit und restriktiven sozialen Vorschriften kommen Probleme wie Inflation, Währungsverfall und Umweltzerstörung. Das Regime hat die meisten Reformpolitiker von den Wahlen ausgeschlossen, deshalb stehen fast nur Hardliner zur Wahl. In der Vergangenheit seien Wahlen im Iran zwar nie frei und fair gewesen, aber immerhin habe es eine echte Konkurrenz zwischen den Kandidaten gegeben, sagt Arash Azizi, Iran-Experte an der Clemons-Universität in den USA. Heute gebe es nicht einmal das.
Die Beteiligung bei den Wahlen am Freitag dürfte deshalb auf einen neuen historischen Tiefstand fallen. Bei der letzten Parlamentswahl vor vier Jahren gingen 42,6 Prozent der Iraner zur Urne – das war schon damals der schlechteste Wert seit der Revolution von 1979. In einer Umfrage des staatsnahen Instituts Ispa im Dezember sagten knapp 28 Prozent der Teilnehmer, sie wollten zur Wahl gehen. Seitdem veröffentlicht Ispa keine Zahlen mehr. Eine Umfrage eines niederländischen Instituts unter 58 000 Internet-Nutzern im Iran ergab, dass fast jeder Zweite dieses Mal zu Hause bleiben will. Die
Wahlbeteiligung am Freitag könnte demnach auf 15 Prozent sinken.
Warum das so ist, weiß das Regime aus internen Untersuchungen. Eine dieser Studien, die dem persischen Dienst der britischen BBC zugespielt wurde, zeigt die tiefe Kluft zwischen der Mullah-Regierung und dem Volk. Mehr als 70 Prozent der Iraner wünschen sich demnach eine Trennung von Politik und Religion und lehnen damit die Herrschaft der Geistlichkeit ab, ein Grundprinzip der Republik.
Die Macht des Regimes ist dadurch nicht in unmittelbarer Gefahr, denn es kann sich auf die Revolutionsgarde, die Polizei und regierungstreue Milizionäre verlassen. Ein Problem ist die Desillusionierung der Iraner für Revolutionsführer Khamenei und Präsident Ebrahim Raisi aber trotzdem. Das Regime hatte gehofft, die Wahlen am Freitag könnten einen Schlussstrich unter die Protestwelle der vergangenen Jahre ziehen und Regierung und Volk miteinander versöhnen. Eine niedrige Wahlbeteiligung würde diese Hoffnungen zunichtemachen. Die Opposition befürchtet, dass die Führung es nicht bei Appellen belässt. Die Regierung wolle am Freitag mehrfache Stimmabgaben ihrer Anhänger zulassen und so eine hohe Beteiligung vortäuschen, berichtete der regimekritische Exilsender Iran International. Solche Tricks würden dem Regime nicht helfen, meint Iran-Experte Keskin. Er hat beobachtet, dass manche Wähler den Boykott als Pflicht betrachten.
„Die Leute wissen sehr genau, dass die Wahlen nichts an ihrem Schicksal ändern werden.“Arif Keskin Türkischer Iran-Experte