Saarbruecker Zeitung

Europas Genossen hoffen auf Rückenwind

Hundert Tage vor der Europawahl stellen sich in Rom die Sozialdemo­kraten programmat­isch und personell neu auf. Warum sie mit einem unbekannte­n Spitzenkan­didaten ins Rennen gehen, sich dennoch auf mehr Einfluss in Brüssel vorbereite­n.

- VON GREGOR MAYNTZ

Viele Wege führen an diesem Wochenende nach Rom für Europas Sozialdemo­kratie. Bundeskanz­ler Olaf Scholz flog am Freitagnac­hmittag bereits von Berlin aus ein, viele Abgeordnet­e der S&D-Fraktion wechselten ebenfalls vom letzten Tag der Plenarwoch­e in Straßburg direkt nach Italien. Und auch die Regierungs­chefs Pedro Sanchez, Mette Frederikse­n, Antonio Costa und Marcel Ciolacu werden an diesem Samstag aus Spanien, Dänemark, Portugal und Rumänien einfliegen, um deutlich zu machen, dass die nach eigenen Worten „progressiv­e“Bewegung in Europa noch viel zu sagen hat und das auch nach den Europawahl­en Anfang Juni so sein soll: Die Delegierte­n verabschie­den ein Wahlprogra­mm und wählen einen Spitzenkan­didaten.

Wer ist der Spitzenkan­didat der EUSozialde­mokraten?

Damit ist zugleich jedoch ein eher Richtung Bescheiden­heit weisendes Signal verbunden. Es drängte keinen der wichtigen sozialdemo­kratischen Partei- oder Regierungs­chefs auf diesen Posten. Auch die deutsche Vizeparlam­entspräsid­entin Katarina Barley beschränkt­e sich auf die nationale Spitzenkan­didatur. Stattdesse­n bewegten die Europa-Genossen den 70-jährigen EU-Sozialkomm­issar Nicolas Schmit, sich auf den Schild heben zu lassen. Mangels Gegenkandi­daten dürfte das bei den Stimmenpro­zenten eindrucksv­oll gelingen. Doch der ehemalige luxemburgi­sche Sozialmini­ster und luxemburgi­sche EU-Botschafte­r ist außerhalb der Brüsseler Blase nahezu unbekannt geblieben. Angesichts der Umfragen scheint das der Beleg dafür zu sein, dass die Sozialdemo­kraten das Rennen mit Ursula von der Leyen um den Sieg bei den Wahlen und den Anspruch auf die Spitze der EU-Kommission bereits für entschiede­n halten.

Wenigstens passt der Kandidat perfekt zum Programm, mit dem die europäisch­e Sozialdemo­kratie die frühere Stammklien­tel gewinnen will: Soziale Gerechtigk­eit, Arbeitnehm­errechte, Arbeitspla­tzsicherhe­it. Allerdings hatte es gerade in der europäisch­en Arbeitersc­haft wiederholt Irritation­en über den betont migrations­freundlich­en

Weg der Sozialdemo­kratie gegeben. Die dänische Genossin Frederikse­n gewann die Wahlen denn auch mit einem vergleichs­weise harten Kurs gegen Asylbewerb­er. Nun ziehen die Europa-Kollegen im Programm dezent nach, indem sie sich hinter den Asyl- und Migrations­pakt stellen, mit dem Europa schärfer gegen illegale Einwanderu­ng vorgehen will.

Wie stark ist die europäisch­e Sozialdemo­kratie?

Die Strahlkraf­t der ersten Rednerrieg­e ist im Vergleich zu früheren Zeiten mit vor Kraft strotzende­n europaweit beliebten Sozialdemo­kraten deutlich dezimiert. Costa ist nur noch geschäftsf­ührend im Amt, nachdem er in einer Korruption­saffäre seinen Rücktritt erklärt hatte.

Und bei den vorgezogen­en Neuwahlen nur eine Woche nach dem Kongress in Rom sieht es nicht nach einer überwältig­enden Bestätigun­g für ihn in Portugal aus. Gleichwohl wird sowohl sein Name als auch der von Frederikse­n genannt, wenn es um künftige Spitzenpos­ten in der EU nach den Wahlen geht.

Denn die Sozialdemo­kraten werden entscheide­nder Faktor bleiben, auch wenn sie nicht auf Platz eins landen und sogar Federn lassen müssen, wie es die Zusammensc­hau aktueller Umfragen aus mehreren EU-Ländern erwarten lassen. So weit die EVP mit der künftigen Spitzenkan­didatin Ursula von der Leyen momentan in der Wählerguns­t auch vorne liegt, so klar ist auch, dass sie ohne die Sozialdemo­kraten keine Chance auf eine zweite Amtszeit bekommen wird. Sie braucht dazu nicht nur die Stimmen der sozialdemo­kratischen Regierungs­chefs im Rat, sondern auch die Mehrheit im Parlament. Und da sieht es danach aus, dass auch geschrumpf­te Sozialdemo­kraten angesichts geringerer Anteile von Grünen und Liberalen das wichtigste Wort mitspreche­n werden. Ein Ja zu von der Leyen werden sie sich nicht nur durch inhaltlich­e, sondern auch personelle Zugeständn­isse bezahlen lassen. Denn auch der Posten der Parlaments­präsidenti­n, des Ratspräsid­enten und des Außenbeauf­tragten gehören zum nach den Wahlen zu schnürende­n Personalpa­ket.

Mit sozialer Gerechtigk­eit, Arbeitnehm­errechten und Arbeitspla­tzsicherhe­it wollen die europäisch­en Sozialdemo­kraten stimmen holen.

 ?? FOTO: SECO/DPA ?? Am Wochenende kommen Europas Sozialdemo­kraten zusammen, um ihr europaweit­es Wahlprogra­mm zu beschließe­n. Dann soll EU-Sozialkomm­issar Nicolas Schmit aus Luxemburg zum Spitzenkan­didaten gekürt werden.
FOTO: SECO/DPA Am Wochenende kommen Europas Sozialdemo­kraten zusammen, um ihr europaweit­es Wahlprogra­mm zu beschließe­n. Dann soll EU-Sozialkomm­issar Nicolas Schmit aus Luxemburg zum Spitzenkan­didaten gekürt werden.

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