Fast 100 Jahre gute und schlechte Zeiten
Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörigen und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorbener vor. Heute: Victor Rau.
„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“Diesen Bibelpsalm mag sich Victor Rau aus SaarlouisRoden zu eigen gemacht haben (Psalm 90:10 in der Luther-Übersetzung). Sein Vorname, in der römischen Schreibweise mit C, bedeutet Sieger. Und auf der Gewinnerseite dürfte sich Victor Rau, geboren am
16. September 1926, gestorben am
7. März 2023, in den 96 Jahren seines Lebens, allen Höhen, Tiefen und Traumata zum Trotz, gefühlt haben.
Seine früheste Erinnerung, dokumentiert in einem Tagebuch, beginnt mit einem schmerzhaften Stoß einer Geiß, hochdeutsch Ziege. Denn die Familie, in die Victor als fünftes von acht Kindern hinein geboren wurde, war eine „arbeitsbäuerliche“. Vater Josef war Hüttenarbeiter, Mutter Barbara hatte mit dem großen Haushalt alle Hände voll zu tun, weil dazu Kühe, ein Pferd, Schweine, die erwähnte Geiß, Katzen, Hunde, Bienen und ein großer Selbstversorgergarten gehörten. Unterbrochen wurde der Alltag durch die erste Evakuierung, die die Familie in Sachsen-Anhalt erlebte. Victor hielt die teils traumatischen Erlebnisse dort in seinem Tagebuch fest, auch aus der Sicht seines eigenen Vaters, und veröffentlichte
die Erlebnisse nach dem Krieg.
1941 begann der 15-Jährige eine Schlosserlehre bei der Dillinger Hütte. Ein Militär- und Kriegsdienst in der Wehrmacht von 1943 bis 1945 unterbrach die Ausbildung, unter anderem war Victor Rau Flakhelfer. Der Gefangenschaft bei den Amerikanern im österreichischen Kufstein entzog er sich durch Flucht, teilweise auf dem Fahrrad. Neben seiner tatkräftigen Mithilfe beim Wiederaufbau des elterlichen Hofes konnte er 1946 seine Schlosserlehre erfolgreich abschließen und suchte sein berufliches Weiterkommen unter anderem in der berufsbegleitenden Meisterprüfung im Werkstättenbetrieb der Dillinger Hütte. „Gegen Ende seines 45-jährigen Arbeitslebens war er als Obermeister für 170 Kollegen zuständig“, sagen seine Kinder Cornelia und Joachim heute im Rückblick.
1952, anlässlich der Tausendjahr
feier von Roden, spielte er an der Römerbergschule die Hauptrolle im „Jedermann“. Er musizierte, mit Flöte, Klavier, Akkordeon. Seiner Familie, gemeinsam mit seiner Frau Maria Maaß, die er 1956 auf gemeinsamen Zugfahrten zwecks Ausbildung in Saarbrücken kennengelernt hatte, bot er nicht nur ein selbst gebautes Daheim in Roden, sondern auch
eine solide berufliche Ausbildung. Zeit seines Lebens engagierte sich Victor Rau in der Familienforschung, speziell der regionalen Geschichtsforschung. „Er war ein profunder Kenner der Rodener Orts- und Kirchengeschichte und besaß ein reichhaltiges und detailliertes Wissen über die Örtlichkeiten und Familien des alten Roden“, schreibt sein Heimatforscher-Kollege Max Herresthal im Nachruf. Seine Kinder ergänzen: „Roden war sein Zentrum, aber er hat sich auch sehr für die antike Geschichte, mit Schwerpunkten auf die Imperien der Ägypter, der Römer, der Etrusker interessiert.“Zum Leidwesen mitunter der eigenen Kinder, die er an Wochenenden in den Vicus Wareswald (ehemaliger römischer Marktflecken in Tholey) mitnahm, um altrömische Scherben auszugraben. „Papa war auch viel auf Flohmärkten im In- und Ausland unterwegs, oder auf Sperrmüllfahrten, um interessante Gegenstände aus alten Zeiten zu retten.“Daneben sei der Vater ein „begnadeter Handwerker“gewesen, dem keine Arbeit im eigenen Haus zu schwer gewesen war.
Er brachte sich darüberhinaus als Redaktionsleiter der Zeitschrift „Rodener Prisma“ein, war Mitherausgeber und Verfasser von Heimatbüchern, unter anderem im Buch „Sterne über Roden“. Zweimal im Leben, jeweils im „Heiligen Jahr“, besuchte er die Stadt Rom, „seine große Liebe“, sagen seine Kinder.
Eine herbe Zäsur musste Victor Rau 1992 hinnehmen, als seine Frau Maria nach längerer Krankheit starb. „Er hat es nach der Trauer geschafft, einen guten Weg der Verarbeitung durch den Geschichtskreis und durch seine Enkel zu finden, der wahrscheinlich auch zu seinem guten Befinden bis ins hohe Alter beigetragen hat. Er hat Bücher veröffentlicht und die jüngere Generation, etwa Schulkinder, über die schweren Zeiten von Krieg und Evakuierung informiert“, erklären dazu seine Kinder.
Er führte ein interessantes Leben, doch das Alter machte vor Victor Rau nicht halt. „Seine Kreise wurden immer kleiner“, resümieren seine Kinder. Im Alter von 96 Jahren endete schließlich ein sowohl hartes wie auch facettenreiches Leben, „friedlich im Kreise seiner Familie – eine Erlösung“, sagen seine Kinder, die in der Traueranzeige den Satz formulieren: „Einschlafen dürfen, wenn man das Leben nicht mehr selbst gestalten kann, ist der Weg zur letzten Freiheit, welcher allen Trost spendet.“
Im Trauergottesdient deutete Pfarrer Dr. Rolf Dillschneider den Heimgang Victor Raus, dessen eigenem Buch folgend, in einer Frage: „Kreist der Verstorbene jetzt als neuer Stern über Roden?“
Auf der Seite „Momente“stellt die SZ im Wechsel Kirchen und Lebenswege Verstorbener vor. Online unter saarbruecker-zeitung.de/lebenswege