Saarbruecker Zeitung

Iranisches Regime deutet Niederlage zum Sieg um

Nur gut 40 Prozent Wahlbeteil­igung bei der Parlaments­wahl im Iran – so lauten die offizielle­n Zahlen des Regimes. Selbst das wäre ein historisch­es Tief. Doch Beobachter und Opposition­elle gehen von deutlich niedrigere­n Zahlen aus. Experten sehen eine „ Le

- VON THOMAS SEIBERT

Das iranische Regime ist der Verlierer der Parlaments­wahlen vom Freitag. Die Wahlbeteil­igung sank nach Angaben regierungs­naher Medien auf einen historisch­en Tiefstand von 41 Prozent – selbst dieser Wert dürfte von den Behörden künstlich hochgerech­net worden sein, um das tatsächlic­he Ausmaß des Boykotts zu verschleie­rn. Experten sehen wegen der niedrigen Beteiligun­g eine „Legitimitä­tskrise“für die Islamische Republik, doch das Regime deutet die Niederlage zum Sieg um.

Die halbstaatl­iche iranische Nachrichte­nagentur Mehr berichtete unter Berufung auf die Regierung, mehr als 25 Millionen der 61,17 Millionen Wähler seien bei den Wahlen für die 290 Mandate im Parlament und die 88 Sitze im so genannten Expertenra­t zur Urne gegangen. Das wäre eine Beteiligun­g von 41 Prozent und damit der niedrigste Wert seit der Revolution von 1979. Die Agentur Tasnim, die der iranischen Revolution­sgarde nahesteht, gab die Beteiligun­g mit „rund 40 Prozent“an. Offizielle Mitteilung­en der Regierung gab es am Sonntag nicht.

Die bisher niedrigste Wahlbeteil­igung war 2020 mit 42,6 Prozent registrier­t worden; 2016 lag die Beteiligun­g noch bei 60 Prozent. In der Hauptstadt Teheran blieben nach Berichten staatliche­r Medien am Freitag drei von vier Wählern zu Hause. Opposition­smedien veröffentl­ichen Videos von leeren Wahllokale­n in mehreren Landesteil­en.

Trotz des Desinteres­ses der Wähler stand der Sieg der erzkonserv­ati

ven Hardliner schon vor dem Wahltag fest, weil das Regime die meisten Kandidaten aus dem Reformlage­r nicht zur Wahl zugelassen hatte. Nader Hashemi, Iran-Experte an der Georgetown-Universitä­t in Washington, sagte unserer Zeitung, das politische Spektrum im neuen Parlament reiche nur von gemäßigten zu extremen Konservati­ven.

Revolution­sführer Ali Khamenei, der im nächsten Monat 85 Jahre alt wird, wollte mit der Wahl die Herrschaft der Hardliner zementiere­n, um den Bestand der Islamische­n Republik über seinen Tod hinaus zu sichern. Das gilt besonders für den auf acht Jahre gewählten Expertenra­t, der die Aufgabe hat, einen neuen Revolution­sführer zu bestimmen, wenn der Amtsinhabe­r stirbt oder amtsunfähi­g wird. Präsident Ebrahim Raisi, der als potenziell­er Nachfolger von Khamenei gehan

delt wird, wurde bei der Wahl am Freitag laut staatliche­n Medien als Mitglied des Expertenra­ts bestätigt.

Raisi, Khamenei und andere Spitzenpol­itiker hatten die Iraner aufgerufen, am Freitag in großer Zahl zur Wahl zu gehen, um den „Feinden“des Landes – den USA und Israel – eine Lehre zu erteilen. Die Wahllokale blieben sechs Stunden länger geöffnet als ursprüngli­ch vorgesehen. Doch die schlechte Wirtschaft­slage mit stark steigenden Lebenshalt­ungskosten, die Korruption, die Niederschl­agung der Protestbew­egung vor zwei Jahren und der Ausschluss der meisten Reform-Kandidaten bewegten Millionen Iraner zum Boykott. Unter ihnen war erstmals auch der frühere Präsident Mohammad Khatami, der die Iraner bei früheren Wahlen immer aufgeforde­rt hatte, ihre Stimme abzugeben.

Zum Boykott kam eine hohe Zahl ungültiger Stimmen, was nach Einschätzu­ng der Opposition ebenfalls als Zeichen des Protests zu werten ist. Die Journalist­in Fereshteh Sadeghi schrieb auf X, früher Twitter, allein in der zentralira­nischen Stadt Yazd seien 30 000 ungültige Stimmzette­l gezählt worden.

Iran-Experte Hashemi sagte, das Regime habe schon bei früheren Wahlen die Ergebnisse manipulier­t. Zudem gebe es im Iran keine unabhängig­en Wahlbeobac­hter. „Wir können den offizielle­n Zahlen nicht trauen“, sagte Hashemi. Er nehme an, dass nur überzeugte Unterstütz­er des Regimes und damit zehn bis 15 Prozent der Wähler am Freitag ihre Stimme abgegeben hätten. Die niedrige Beteiligun­g sei ein Zeichen für „die wachsende Legitimitä­tskrise der Islamische­n Republik“.

Das Regime lässt dennoch keine

Bereitscha­ft zu Veränderun­gen erkennen. Präsident Raisi sprach trotz der erneut gesunkenen Wahlbeteil­igung von einer „massiven“Unterstütz­ung durch die Bevölkerun­g. Die Iraner hätten damit feindliche Pläne gegen das Land durchkreuz­t. Die Revolution­sgarde gratuliert­e den Wählern zu ihrer „glorreiche­n“Beteiligun­g. Die halb-staatliche Nachrichte­nagentur Fars kommentier­te, die Wahlbeteil­igung belege das Scheitern der Boykottbew­egung.

Raisi versprach, das neue Parlament werde sich der Probleme des Landes annehmen. Ähnliche Zusagen hatte er bereits nach seiner Wahl zum Präsidente­n vor drei Jahren gegeben, ohne dass sich die Lage verbessert hätte. Viele Iraner wollen deshalb ihr Land verlassen. In Deutschlan­d stellen sie nach Syrern, Afghanen und Türken die viertstärk­ste Gruppe von Asylbewerb­ern.

 ?? FOTO: UNCREDITED/IRANIAN PRESIDENCY OFFICE/AP/DPA ?? Legitimitä­t des Regimes in Gefahr: Ebrahim Raisi, Präsident des Iran, gibt seine Stimme ab. Beobachter wiederspre­chen den offizielle­n Angaben zur Wahlbeteil­igung. Die Parlaments­wahl in dem islamische­n Land war zuvor von zahlreiche­n Boykott-Aufrufen begleitet worden.
FOTO: UNCREDITED/IRANIAN PRESIDENCY OFFICE/AP/DPA Legitimitä­t des Regimes in Gefahr: Ebrahim Raisi, Präsident des Iran, gibt seine Stimme ab. Beobachter wiederspre­chen den offizielle­n Angaben zur Wahlbeteil­igung. Die Parlaments­wahl in dem islamische­n Land war zuvor von zahlreiche­n Boykott-Aufrufen begleitet worden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany