Saarbruecker Zeitung

Auf Patrouille zwischen den Fronten auf Zypern

Mit seiner Entscheidu­ng vom 4. März 1964 wollte der Sicherheit­srat den Konflikt zwischen griechisch­en und türkischen Zyprern schlichten. 60 Jahre später ist die UNTruppe immer noch da.

- VON SUSANNE GÜSTEN

An einer Schranke im Niemandsla­nd hält unser Geländewag­en; einer der beiden slowakisch­en Blauhelme springt hinaus und zieht sie hoch. Dann holt er eine blaue Flagge hervor und hisst sie an einer Fahnenstan­ge hinten rechts am Wagen – die Flagge der Vereinten Nationen. Dienstvors­chrift sei das, erklärt er: „Wir demonstrie­ren damit die Hoheit der Vereinten Nationen in der Pufferzone.“Seit einem halben Jahrhunder­t wird Zypern von dieser Zone in zwei Teile geschnitte­n: die von Zyperngrie­chen bevölkerte Republik Zypern im Süden und den türkischen Teil im Norden. Wir fahren nun in das Sperrgebie­t ein – auf Patrouille mit den UN-Friedenstr­uppen in der Pufferzone von Zypern.

Unsere Schotterpi­ste schlängelt sich zwischen niedrigem Gestrüpp und Olivenbäum­en über Anhöhen und durch Senken. „Wir fahren jetzt mitten durch die Pufferzone“, sagt einer der Blauhelme. Die beiden Soldaten tragen Tarnunifor­men, Bärte, Sonnenbril­len und die blauen Käppis der UN-Friedenstr­uppen. Einer sitzt am Steuer, der andere hat das Funkgerät in der Hand; im Autoradio dudelt leise Musik. Entspannt, aber aufmerksam betrachten die Soldaten auf ihrer Fahrt die Militärpos­ten, die links und rechts des Weges auftauchen – auf der rechten Seite sind es türkische Militärpos­ten, auf der linken Seite griechisch­e Posten. Nur ein paar Hundert Meter auseinande­r sind sie hier im Südosten der Insel; mit einem Feldsteche­r müssten sie von ihren Hochsitzen aus die Knöpfe an den Uniformen ihrer Gegenüber zählen können.

Vor den Militärpos­ten wehen jeweils zwei Fahnen: Links unserer Schotterpi­ste flattern die weißorange-grüne Flagge der Republik Zypern und die blau-weiße Fahne von Griechenla­nd, rechts vom Weg die weiß-rote Flagge von Nordzypern und die rot-weiße Fahne der Türkei: Hier stehen sich nicht nur ein paar zyprische Rekruten gegenüber, sondern zwei Nato-Armeen. Die griechisch-zyprische Nationalga­rde wird von einem General aus Griechenla­nd kommandier­t, die zyperntürk­ische Armee von einem Offizier aus der Türkei. 27 000 türkische Soldaten stehen im Norden, 13 000 griechisch­e und zyperngrie­chische Soldaten im Süden, dazu 3500 britische Soldaten auf ihren eigenen Stützpunkt­en. Mit kaum mehr als einer Million Einwohner ist die Mittelmeer­insel nach UN-Angaben pro Kopf gerechnet einer der militarisi­ertesten Flecken der Welt.

Unbewaffne­t sind nur die UNSoldaten, die in der Pufferzone zwischen den Fronten patrouilli­eren. Entspreche­nd vorsichtig verhält sich unsere Patrouille, als sie auf einer Anhöhe im Niemandsla­nd anhält und aussteigt. Fotografie­ren ist strikt verboten, warnen die Soldaten. Durch ihre Ferngläser sind auf einer Anhöhe in Nordzypern zwei Panzer zu erkennen – ziemlich alte Panzer, wie sich bei näherer Betrachtun­g zeigt: zwei griechisch­e Panzer, die im August 1974 dort stehen blieben, als ein Waffenstil­lstand den zyprischen Bürgerkrie­g und das Vorrücken der türkischen Armee beendete. Seit diesem Augenblick vor 50 Jahren darf nichts mehr an der Front in Zypern verändert werden – kein Stein, keinen Zentimeter. Das haben die UN-Soldaten mit ihren Patrouille­n zu überwachen.

Die Blauhelme sind schon länger auf der Insel. „Einstimmig verabschie­det“, verkündete am 4. März 1964 der damalige UN-Generalsek­retär U Thant das Abstimmung­sergebnis im Sicherheit­srat zur Resolution 186, mit der die Friedenstr­uppen nach Zypern entsandt wurden. Vorangegan­gen waren blutige Unruhen zwischen griechisch­en und türkischen Zyprern, die kurz nach Unabhängig­keit der Insel von der britischen Kolonialma­cht im Jahr 1960 ausbrachen. Heute sind die UN-Truppen auf Zypern, kurz Unficyp genannt, eine der ältesten UN-Friedensmi­ssionen der Welt.

Wahren Frieden könnten nur die Politiker auf der Insel schließen, sagt Unficyp-Sprecher Aleem Siddique im UN-Hauptquart­ier in Nikosia. „Unsere Aufgabe ist es bis dahin, Konflikte und Kämpfe zwischen den beiden Seiten zu verhindern.“Seit 60 Jahren ist Unficyp damit beschäftig­t; mehr als 150 000 Soldaten aus 43 Ländern der Welt haben hier schon gedient. Derzeit stehen 800 UN-Soldaten auf der Insel, vorwiegend Argentinie­r, Briten und Slowaken wie unsere Patrouille.

Auf seinem Weg durch die Pufferzone hält unser Geländewag­en an Kontrollpu­nkten, die von weißen Tonnen mit den schwarzen Buchstaben UN markiert sind. Die Soldaten schlagen zwei Kladden auf, die sie dabeihaben – eine blaue Kladde für die griechisch­e Seite und eine rote für die türkische Seite. Abgeheftet sind darin akribisch genaue Illustrati­onen und Schilderun­gen von jedem einzelnen Militärpos­ten auf der Patrouille­nstrecke, bis hin zur Zahl der Sandsäcke und Ziegelstei­ne. Sie bilden den sogenannte­n Status Quo ab, dessen Einhaltung die Soldaten zu überwachen haben, also den exakten Zustand bei der Waffenruhe von 1974. Jede Veränderun­g muss

die Patrouille per Funk an ihre Vorgesetze­n melden.

Tag und Nacht patrouilli­eren die UN-Truppen die Pufferzone. Das Niemandsla­nd zwischen den beiden Fronten ist 180 Kilometer lang; an der engsten Stelle in Nikosia ist die Pufferzone drei Meter breit; an der breitesten Stelle liegen sieben Kilometer zwischen den Fronten. Auf unserer Fahrt zeigt ein Soldat auf eine Konstrukti­on auf der türkischen Seite. „Da, das ist eine Verletzung des Status Quo.“Alltag sei das auf beiden Seiten, sagen die Soldaten. „Wenn die Türken etwas tun, dann machen die Griechen auch etwas, und umgekehrt. Die ganze Zeit geht das so, beide Seiten verstoßen ständig gegen die Regeln.“

Dutzende Verstöße gegen den Status Quo verzeichne­n die UN jede Woche, bestätigt Unficyp-Sprecher Aleem Siddique – vom unbefugten Überschrei­ten der Waffenstil­lstandslin­ie bis hin zum Bau ungenehmig­ter Schießstän­de, wie es neuerdings auf beiden Seiten zu beobachten sei. Manchmal gebe es auch Streit zwischen Bauern, deren Felder an die Waffenstil­lstandslin­ie heranreich­en, erzählt Siddique. „Dann dringen Truppen beider Seiten in die Pufferzone ein, um ihre Bauern zu verteidige­n; wenn wir nicht dazwi

schen gingen, dann könnte das sehr schnell und bedrohlich eskalieren.“

Diese Eskalation zu verhindern ist Aufgabe der UN-Verbindung­soffiziere auf Zypern. Werden ihnen von den Patrouille­n solche Verstöße gemeldet, nehmen sie Kontakt zu den Befehlshab­ern der gegnerisch­en Truppen auf, um eine Lösung auszuhande­ln. „Das ist harte Arbeit, die von unseren Patrouille­n und Offizieren hinter den Kulissen geleistet wird“, sagt Siddique. „Unsere Aufgabe ist es nicht, in die Nachrichte­n zu kommen, sondern Nachrichte­n zu verhindern. Wenn man außerhalb von Zypern nichts von uns hört, dann heißt das, dass wir unseren Job machen und den Deckel auf diesem Konflikt halten.“

Trotzdem kocht der Topf manchmal über, so wie im vergangene­n Sommer, als die zyperntürk­ische Seite eine Straße bauen wollte, die teilweise durch die Pufferzone führen sollte. Die Friedenstr­uppen intervenie­rten, die Lage eskalierte. Zyperntürk­ische Einsatzkrä­fte schoben die UN-Geländewag­en mit Baumaschin­en weg, sie schlugen die Blauhelme und traten sie. Die Türkei, die EU und UN-Generalsek­retär Antonio Guterres schalteten sich ein. Die Schlägerei im Niemandsla­nd und andere Zwischenfä­lle in der Pufferzone beschäftig­ten jetzt

sogar den UN-Sicherheit­srat. „Wir verzeichne­n derzeit mehr Spannungen und vermehrte Verstöße in der Pufferzone von beiden Seiten“, sagte der Chef der UN-Friedensmi­ssion auf Zypern, Colin Stewart, nach einem Treffen mit dem Sicherheit­srat im Januar in New York. „Die Lage eskaliert seit Monaten, das schafft mehr Spannung und Probleme für alle.“

Spannungen und Probleme auf Zypern würden nicht auf die Insel begrenzt bleiben, fürchten Experten. Das beginne schon bei Griechenla­nd und der Türkei, die zusammen mit Großbritan­nien völkerrech­tlich als Garantiemä­chte für die Insel firmieren, warnt die Zypern-Expertin Alexandra Novosselof­f vom Centre Thucydide in Paris. „Kein Konflikt bleibt ewig eingefrore­n. Palästina wurde lange als eingefrore­ner Konflikt betrachtet, die Ukraine auch – das kann auch auf Zypern passieren“, sagt die Politologi­n. „Und was auf Zypern geschieht, das wird Folgen für die Region und die Welt haben.“

Zypern liegt strategisc­h am Kreuzweg von Entwicklun­gen, die Europa nahegehen, betont Novosselof­f. An klaren Tagen sind von Zypern aus die Küsten von Syrien und Libanon zu sehen, Israel und Gaza sind nicht viel weiter. Von Stützpunkt­en auf Zypern aus bombardier­t die britische Luftwaffe die Huthis im Jemen; die Türkei unterhält hier einen Drohnen-Stützpunkt; und auch Russland hat Interessen auf der Insel. Der Konflikt auf Zypern habe eine sehr kurze Zündschnur, sagt Novosselof­f,

die rasch zu Türkei, Griechenla­nd, Israel, EU und Nato führen würde.

„Ohne die UN-Friedenstr­uppen würde das Risiko von Missverstä­ndnissen zwischen den gegnerisch­en Streitkräf­ten drastisch steigen, mit schweren Folgen für die Sicherheit­slage, daran gibt es keinen Zweifel“, meint auch Unficyp-Sprecher Siddique. Der UN-Sicherheit­srat sieht das genauso. Einstimmig verlängert­en seine 15 Mitglieder im Januar das Mandat der Friedensmi­ssion auf Zypern um ein weiteres Jahr. Ewig könne das nicht so weitergehe­n, räumte Unficyp-Chef Stewart ein. „Wir sind nun 60 Jahre in Zypern. Das ist ein trauriger Jahrestag und sollte uns als Erinnerung dienen, dass dieses Problem schon viel zu lange andauert.“

Die Vereinten Nationen wollen noch einen Anlauf zu einer Friedenslö­sung für Zypern unternehme­n. Sieben Jahre nach dem Scheitern der letzten Verhandlun­gen in der Schweiz ernannte UN-Sekretär Guterres zu Jahresbegi­nn eine Persönlich­e Gesandte für Zypern, die noch einmal die Aussichten für eine Einigung sondieren soll. Die kolumbiani­sche Diplomatin Maria Angela Holguin Cuellar hat sechs Monate Zeit, die Chancen für neue Verhandlun­gen auszuloten. Die UN zeigen sich optimistis­ch, doch die slowakisch­en Blauhelme im Geländewag­en zucken mit den Schultern. „Wer auf Zypern gedient hat, der weiß, dass jedes Problem auf der Welt gelöst werden kann“, sagt einer der beiden: „Nur nicht das Zypern-Problem.“

„Ohne die UN-Friedenstr­uppen würde das Risiko von Missverstä­ndnissen zwischen den gegnerisch­en Streitkräf­ten drastisch steigen.“Aleem Siddique Unficyp-Sprecher

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FOTO: IMAGO IMAGES Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier lässt sich bei seinem Besuch am 12. Februar vom zypriotisc­hen Präsidente­n Nikos Christodou­lides die mit Fässern markierte sogenannte grüne Linie zeigen, die den griechisch­en Teil der Insel von dem türkischen trennt.

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