Wie ein wilder Ritt durch die Zumutungen des World Wide Web
Der hoch gehandelte Choreograf Moritz Ostruschnjak überzeugte am zweiten Abend des Tanzfestivals Saar mit dem Stück „Rabbit Hole“.
Auch sie zittern manchmal mit dem ganzen Körper und flattern mit den Händen: Die vier Tänzer und zwei Tänzerinnen, die Moritz Ostruschnjak am zweiten Abend des Tanzfestivals Saar in der vollbesetzten Alten Feuerwache ins Rennen schickt. Aber sonst hat der hoch gehandelte Wahl-Münchner Choreograf mit seinem deutschen Kollegen vom Vorabend, Marco Goecke, nicht viel gemein. Mit riesigen, zuerst nur weißen PappAufstellern und Leuchtröhren, die Lichtschwertern ähneln, stürmt Ostruschnjaks Truppe die dunkle Bühne. Schon imaginiert man sich als Zuschauerin in einen Comic, doch Ostruschnjak denkt weiter. „Rabbit Hole“, so der Stücktitel, kann für jenen Kaninchenbau von 1865 stehen, durch den die kleine Alice ins Wunderland kam, wo alle Logik auf den Kopf gestellt war.
Heute steht das Kaninchenloch bildlich auch für jenen endlosen vielverzweigten Tunnel-Bau des Internets, in den wir uns täglich von Link zu Link hangelnd verlieren und in dessen Untiefen Kuriositäten aller Art bis hin zu Verschwörungserzählungen lauern. Von allem gewahren wir in diesem Tanzabend ein bisschen, von der Jahrhunderte alten Hohle-Erde-Theorie über den Katastrophen-Film mit Autos, die beim Erdbeben versinken, bis hin zum Egoshooter- und SpacewormComputerspiel. Doch winkt hier niemand mit dem pädagogischen Zeigefinger. Vielmehr werden die Zuschauer dazu gebracht, mit in diese Bewegtbild-pralle Tunnelwelt zu kriechen, werden verführt und verwirrt.
Denn Ostruschnjak macht die Zersplitterung unser aller Wahrnehmung und – wenn man so will – die Sinnzertrümmerung zu seinem – auch choreografischen – Kompositionsprinzip: Mit „copy & paste“, wie er auch im Publikumsgespräch hinterher noch einmal darlegte, fügt er Schnipsel von Bewegungen, Bildern/Videos und Musikclips, die er im Internet auswählt, nach „Bauchgefühl“zusammen. So kitzelt er uns absichtsvoll mit Déja-Vus am laufenden Meter. Die Tänzer, die anfangs wie in einem rückwärts laufenden Film sprinten, zielen sie nicht mit unsichtbaren Pfeilen und Bögen? Doch sich Klarheit und Eindeutigkeit verschaffen zu wollen, ist müßig und nicht Sinn der Sache. Auch der Zuschauer darf hier sein Bauchgefühl anschmeißen und – warum nicht – frei assoziieren.
In der Bilderflut, mit der wir auf der rückwärtigen Großprojektionswand bombardiert werden, dient einiges dem Erschrecken, spielt mit dem Ekelfaktor wie – ferne Variante des Rabbit Hole – eine Kamerafahrt durch den menschlichen Darm. Es fallen aber auch einige auf, die anrühren. Etwa die Wärmebildkameraaufnahmen von den Kojoten, die sich verspielt auf einer Weide tummeln, bevor sie zähnefletschend ein Rind reißen und vom Jagdgewehr zerfetzt werden. Etwas von dieser märchenhaften Verspieltheit findet man zuweilen auch bei den Tänzern wieder. Ostruschnjak, der ursprünglich aus der Sprayer- und Breakdancer-Szene kommt, fordert sie im nimmermüden Dauereinsatz auf der Bühne. Gekleidet in schwarze Sneaker, schwarze Jeans, zwischendurch auch mal schwarze Hoodies und einschlägige MarkenShirts mit Fuchs-Köpfen tanzen sie höchst sportiv, elastisch wie Gummis, solistisch, zu zweit, als Gruppe oder Bande. In ihren Gesten sind sie meist raumgreifend, scheinen in Hand-Zeichen zu sprechen, die man nicht versteht, und brechen dazwischen in einen stummen Schrei à la Edvard Munch aus. Oftmals lässt Choreograf Ostruschnjak auch seine Tänzer und Tänzerinnen sich steif, hölzern, repetitiv wie mechanische Puppen bewegen, was, wie wir seit Henri Bergsons philosophischen Gedanken über die Komik wissen, auf die Betrachter immer lustig wirkt. Die sechs Leuchtröhren und die sechs großen Papp-Aufsteller dienen den Tanzenden als originelle und flexible Bühnenbild-Elemente, die sie nach Bedarf herumschleppen und hinter denen sie sich für eine Weile zugunsten der Solisten unsichtbar machen können. Herumgedreht offenbaren sie auf ihrer Vorderseite jeweils ein Bild oder Foto, das reicht vom Mühlstein über den Fadenwurm, die Hohle Erde bis zum erschrockenen Reh als Wärmbildaufnahme. Am Ende des Stücks fühlt man sich etwas erschlagen und fragt sich: Was für ein Chaos muten wir uns im täglichen Rabbit Hole eigentlich permanent zu? Doch Ostruschnjak entlässt sein Publikum aus diesem rasanten, bestimmt nachklingenden Abend nicht ohne ein versöhnliches Augenzwinkern. So jedenfalls möchte man es deuten, wenn im Auge des Papp-Rehs als letztes ein kurzes rotes Leuchten aufscheint.