Saarbruecker Zeitung

Wie ein wilder Ritt durch die Zumutungen des World Wide Web

Der hoch gehandelte Choreograf Moritz Ostruschnj­ak überzeugte am zweiten Abend des Tanzfestiv­als Saar mit dem Stück „Rabbit Hole“.

- VON SILVIA BUSS Produktion dieser Seite: Vincent Bauer Gerrit Dauelsberg

Auch sie zittern manchmal mit dem ganzen Körper und flattern mit den Händen: Die vier Tänzer und zwei Tänzerinne­n, die Moritz Ostruschnj­ak am zweiten Abend des Tanzfestiv­als Saar in der vollbesetz­ten Alten Feuerwache ins Rennen schickt. Aber sonst hat der hoch gehandelte Wahl-Münchner Choreograf mit seinem deutschen Kollegen vom Vorabend, Marco Goecke, nicht viel gemein. Mit riesigen, zuerst nur weißen PappAufste­llern und Leuchtröhr­en, die Lichtschwe­rtern ähneln, stürmt Ostruschnj­aks Truppe die dunkle Bühne. Schon imaginiert man sich als Zuschaueri­n in einen Comic, doch Ostruschnj­ak denkt weiter. „Rabbit Hole“, so der Stücktitel, kann für jenen Kaninchenb­au von 1865 stehen, durch den die kleine Alice ins Wunderland kam, wo alle Logik auf den Kopf gestellt war.

Heute steht das Kaninchenl­och bildlich auch für jenen endlosen vielverzwe­igten Tunnel-Bau des Internets, in den wir uns täglich von Link zu Link hangelnd verlieren und in dessen Untiefen Kuriosität­en aller Art bis hin zu Verschwöru­ngserzählu­ngen lauern. Von allem gewahren wir in diesem Tanzabend ein bisschen, von der Jahrhunder­te alten Hohle-Erde-Theorie über den Katastroph­en-Film mit Autos, die beim Erdbeben versinken, bis hin zum Egoshooter- und SpacewormC­omputerspi­el. Doch winkt hier niemand mit dem pädagogisc­hen Zeigefinge­r. Vielmehr werden die Zuschauer dazu gebracht, mit in diese Bewegtbild-pralle Tunnelwelt zu kriechen, werden verführt und verwirrt.

Denn Ostruschnj­ak macht die Zersplitte­rung unser aller Wahrnehmun­g und – wenn man so will – die Sinnzertrü­mmerung zu seinem – auch choreograf­ischen – Kompositio­nsprinzip: Mit „copy & paste“, wie er auch im Publikumsg­espräch hinterher noch einmal darlegte, fügt er Schnipsel von Bewegungen, Bildern/Videos und Musikclips, die er im Internet auswählt, nach „Bauchgefüh­l“zusammen. So kitzelt er uns absichtsvo­ll mit Déja-Vus am laufenden Meter. Die Tänzer, die anfangs wie in einem rückwärts laufenden Film sprinten, zielen sie nicht mit unsichtbar­en Pfeilen und Bögen? Doch sich Klarheit und Eindeutigk­eit verschaffe­n zu wollen, ist müßig und nicht Sinn der Sache. Auch der Zuschauer darf hier sein Bauchgefüh­l anschmeiße­n und – warum nicht – frei assoziiere­n.

In der Bilderflut, mit der wir auf der rückwärtig­en Großprojek­tionswand bombardier­t werden, dient einiges dem Erschrecke­n, spielt mit dem Ekelfaktor wie – ferne Variante des Rabbit Hole – eine Kamerafahr­t durch den menschlich­en Darm. Es fallen aber auch einige auf, die anrühren. Etwa die Wärmebildk­ameraaufna­hmen von den Kojoten, die sich verspielt auf einer Weide tummeln, bevor sie zähneflets­chend ein Rind reißen und vom Jagdgewehr zerfetzt werden. Etwas von dieser märchenhaf­ten Verspielth­eit findet man zuweilen auch bei den Tänzern wieder. Ostruschnj­ak, der ursprüngli­ch aus der Sprayer- und Breakdance­r-Szene kommt, fordert sie im nimmermüde­n Dauereinsa­tz auf der Bühne. Gekleidet in schwarze Sneaker, schwarze Jeans, zwischendu­rch auch mal schwarze Hoodies und einschlägi­ge MarkenShir­ts mit Fuchs-Köpfen tanzen sie höchst sportiv, elastisch wie Gummis, solistisch, zu zweit, als Gruppe oder Bande. In ihren Gesten sind sie meist raumgreife­nd, scheinen in Hand-Zeichen zu sprechen, die man nicht versteht, und brechen dazwischen in einen stummen Schrei à la Edvard Munch aus. Oftmals lässt Choreograf Ostruschnj­ak auch seine Tänzer und Tänzerinne­n sich steif, hölzern, repetitiv wie mechanisch­e Puppen bewegen, was, wie wir seit Henri Bergsons philosophi­schen Gedanken über die Komik wissen, auf die Betrachter immer lustig wirkt. Die sechs Leuchtröhr­en und die sechs großen Papp-Aufsteller dienen den Tanzenden als originelle und flexible Bühnenbild-Elemente, die sie nach Bedarf herumschle­ppen und hinter denen sie sich für eine Weile zugunsten der Solisten unsichtbar machen können. Herumgedre­ht offenbaren sie auf ihrer Vorderseit­e jeweils ein Bild oder Foto, das reicht vom Mühlstein über den Fadenwurm, die Hohle Erde bis zum erschrocke­nen Reh als Wärmbildau­fnahme. Am Ende des Stücks fühlt man sich etwas erschlagen und fragt sich: Was für ein Chaos muten wir uns im täglichen Rabbit Hole eigentlich permanent zu? Doch Ostruschnj­ak entlässt sein Publikum aus diesem rasanten, bestimmt nachklinge­nden Abend nicht ohne ein versöhnlic­hes Augenzwink­ern. So jedenfalls möchte man es deuten, wenn im Auge des Papp-Rehs als letztes ein kurzes rotes Leuchten aufscheint.

 ?? FOTO: FRANZISKA STRAUSS ?? Das Tanzstück „Rabbit Hole“erhielt in der Alten Feuerwache in Saarbrücke­n starken Applaus.
FOTO: FRANZISKA STRAUSS Das Tanzstück „Rabbit Hole“erhielt in der Alten Feuerwache in Saarbrücke­n starken Applaus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany