„Diese Demos haben 1933 gefehlt“
Der 92-Jährige floh mit seinen Eltern vor den Nazis. Er spricht über seine Erfahrungen und die aktuelle Bewegung gegen Rechtsextremismus.
SAARBRÜCKEN Seit einigen Wochen wird in Deutschland intensiv über einen Rechtsruck debattiert. Der Saarbrücker Horst Bernard – ein Zeitzeuge des Hitler-Regimes – hält die jüngsten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus für wichtig – und spricht sich gegen ein pauschales Verbot der AfD aus.
Herr Bernard, Ihre Eltern waren bekennende Gegner des Nationalsozialismus. Ihr Vater war Jude. 1935 flüchteten Sie mit Ihrer Familie ins Exil von Saarbrücken nach Südfrankreich. Heute sind Sie Zeitzeuge und sprechen unter anderem in Schulen über Ihre Biografie. Was motiviert sie dazu?
BERNARD Meine Eltern waren beide im Widerstand. Sie haben unter anderem Flugblätter gegen die Nazis drucken lassen. Meine Mutter war eine Verbindungsfrau zwischen der deutschen Gruppe und der französischen Résistance. In diesem Geist des Widerstands haben sie mich erzogen. Bei uns daheim galt: nie wieder Faschismus und nie wieder Krieg! Und ich wusste immer: Das, was ich tue, ist richtig.
Was ist wichtig, um gegen Rechtsradikalismus vorzugehen?
BERNARD Konsens bei der Zielsetzung ist unabdingbar. Dieser muss natürlich nicht alle Fragen betreffen. Aber dass man sich gemeinsam und stark gegen Neonazis positioniert, ist meiner Meinung nach essenziell. Dieser Punkt darf nicht verhandelbar sein. Das hilft auch Menschen mit Migrationshintergrund, die sich aktuell verunsichert fühlen.
Was hat Ihnen persönlich zur Zeit des Nazi-Regimes geholfen?
BERNARDWir haben im Exil in der südfranzösischen Stadt Agen gelebt. Die Solidarität vieler Nachbarn dort
hat uns sehr unterstützt. Wir hatten zum Beispiel einen Polizisten in der Straße. Der hat uns rechtzeitig vor Razzien gewarnt. Als mein Vater sich nach der totalen Besatzung ganz verstecken musste, hat meine Mutter drei Kinder alleine versorgt. Sie hat Näh- und Putzarbeiten angenommen. Manche ihrer Aufträge wurden ihr zugespielt, obwohl sie gar nicht nötig gewesen wären. Und das nur, damit wir besser über die Runden kommen. Irgendwann musste meine Mutter als Widerstandskämpferin aber auch untertauchen. Eine französische Familie hat mich dann aufgenommen – verdeckt, unter dem falschen Namen Henri Bernard – als einen „entfernten Verwandten vom Land“.
Zuletzt prägten unter anderem ein Rechtsruck und wachsende antisemitische Übergriffe die deutsche Nachrichtenlage. Wie geht es Ihnen, wenn Sie solche Schlagzeilen lesen?
BERNARD Leider kommt mir das alles bekannt vor. Umso wichtiger ist, dagegen vorzugehen. Der aktuelle Erfolg der AfD erinnert mich ein wenig an das Erstarken der NPD in den 1960er Jahren. Sie haben sich konservativ-bürgerlich gegeben und sind in diverse Landtage eingezogen. Ich weiß noch, wie wir damals dagegen protestiert haben. Ein NPDler sagte auf einer Demo zu mir: „Für dich haben sie in Auschwitz vergessen, die Ofentüren offenzulassen.“Im Bundes
tag ist die NPD dann aber an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert.
Finden Sie, dass man die AfD verbieten sollte?
BERNARD Ich bin nicht unbedingt für ein Verbot von Parteien. Aber: Offen Rechtsextreme wie AfD-Politiker Björn Höcke müssen meiner Meinung nach in die Schranken gewiesen werden. Wenn nötig, auch mit einem Redeverbot. Ich denke grundsätzlich, dass man die AfD durch vernünftige Politik bekämpfen sollte. Die Partei ist meiner Ansicht nach nicht wegen ihres Programms so stark geworden, sondern eher wegen der Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Die Verunsicherung durch die Lage in der Ukraine und im Nahen Osten hat ebenfalls zu ihrem Auftrieb beigetragen. Die Regierung sollte sich dringend fragen: Was an unserer Politik führte dazu, dass jetzt rechtspopulistische Parteien erfolgreich sind? Einige Punkte am aktuellen Geschehen verstehe ich auch nicht. Völlig unbegreiflich ist mir zum Beispiel, dass ich in Bezug auf die Kriege immer nur lese, dass über Waffenlieferungen diskutiert wird. Wieso lese ich nie, dass es Überlegungen zu diplomatischen Lösungen gibt? Denn: Niemand wird diese Kriege gewinnen können.
Haben Sie angesichts der aktuellen Lage manchmal das Gefühl, dass Ihre eigenen Bemühungen frucht
los waren? BERNARD
Nein, sicher nicht. Das zeigen mir die Demos gegen Rechtsradikalismus, zu denen weit mehr Teilnehmer kommen als angemeldet. Diese Veranstaltungen begrüße ich sehr! Die haben 1933 gefehlt. Davon darf es ruhig noch mehr geben. Die sollten auch regelmäßiger stattfinden.
Nach allem, was Sie erlebt haben – sind Sie eher Optimist oder Pessimist?
BERNARD Ich denke, dass jedes Korn Früchte trägt – egal, wie klein es ist. Ich bin einfach ein unverbesserlicher Optimist.