Saarbruecker Zeitung

„Ich bin mein eigenes Spotify“

Der Regisseur wurde für den Oscar nominiert. Der 78-Jährige spricht über die Musik in seinem Film „Perfect Days“, über sein ausufernde­s System der Platten-Sortierung und die Songs seines Lebens.

- PHILIPP HOLSTEIN FÜHRTE DAS INTERVIEW. Produktion dieser Seite: Ralf Jakobs

Dieser Film ist so großartig, und er klingt so gut, dass man noch beim Verlassen des Kinosaals Songs aus dem Soundtrack im Handy sucht, um sie auf dem Heimweg zu hören. In „Perfect Days“erzählt Wim Wenders die Geschichte von Hirayama, einem glückliche­n Herrn, der in Tokio öffentlich­e Toiletten reinigt. Morgens setzt sich dieser Stoiker in sein Auto und schiebt eine Kassette in den Player. Und dann düst er durch die große Stadt. Weil Musik so wichtig ist für den Film, möchte man mit dem in Düsseldorf geborenen Wenders unbedingt über seine Songauswah­l sprechen – und gerne auch über die Lieder seines Lebens. Ob er Lust dazu hat? Total, lautet die Antwort. Also ruft man ihn in seinem Hotel in Paris an und redet lange über Film und Musik. Zwei Tage später dann die Nachricht, dass „Perfect Days“für den Oscar als bester internatio­naler Film nominiert ist. Schnell noch mal melden: Herzlichen Glückwunsc­h! Wenders geht für Japan ins Rennen. Das Land sei seine zweite Heimat seit seinem ersten Besuch im Jahr 1977, sagt er. Und, na klar: Der Oscar würde ihn „schon sehr freuen“.

Die Songauswah­l wirkt wie eine zweite Ebene, über die man die wortkarge Hauptfigur Hirayama besser versteht.

WIM WENDERS Das war die Idee. Deswegen haben wir die Musik schon ins Drehbuch geschriebe­n. Wir haben uns gedacht: Unser Mann redet so wenig, da kann die Musik helfen, ein bisschen mehr über ihn zu erzählen. Die Songs, die er sich morgens aussucht und über das Kassetteng­erät in seinem Auto hört, die erzählen etwas über seinen Tag und wie er an ihn herangeht. Sie sind Teil von Hirayamas Geschichte. Das ist die Musik, die er gehört hat, als er jung war. Und nun funktionie­rt sie wie ein altmodisch­es Mixtape, das er mit uns teilt.

Ein Mixtape ist nichts Zufälliges, sondern etwas Kuratierte­s.

WENDERS Ja, jedes Band erzählt eine Geschichte, hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, da ist entscheide­nd, was aufeinande­rfolgt. Das ist etwas grundsätzl­ich anderes als eine Playlist heute. Die ist virtuell, oft zufällig und beliebig, ein Mixtape oder Compilatio­n Tape dagegen handgemach­t. Hirayamas Geschichte fängt mit „House of the Rising Sun“von den Animals an und endet mit „Feeling Good“von Nina Simone. Hirayama lässt mit diesen Songs sein Unterbewus­stsein erzählen, wenn Sie so wollen.

Im Film erfährt man wenig über die Vergangenh­eit der Hauptfigur. „House of the Rising Sun“könnte aber ein Hinweis auf eine mögliche Sucht-Vergangenh­eit sein. WENDERS Kann man sich so zurechtleg­en, ja. Meine Idee von seiner Vergangenh­eit habe ich für Koji Yakusho, den Hauptdarst­eller, aufgeschri­eben: Hirayama kam aus einem reichen Elternhaus, er war mal ein erfolgreic­her Businessma­nn, trank und nahm auch Drogen. Es wird angedeutet, dass es eine andere Welt gab für ihn, die er hinter sich gelassen hat, als bewusste Entscheidu­ng. In meiner Geschichte ist er dann Gärtner geworden, und aus dem Gärtnern hat er den Job mit den Toiletten übernommen.

Dass er Gärtner war, spürt man. Er nimmt jeden Tag ein Foto auf: das Sonnenlich­t durch die Zweige der Bäume. Dazu passt, dass die meisten der von Ihnen ausgesucht­en Songs die Sonne thematisie­ren: „Sittin' On The Dock of the Bay“, „Sunny Afternoon“, „Feeling Good“...

WENDERS Absolut. (lacht) Sie kommen mir auf die Schliche. Die Songs handeln wirklich sehr viel von Licht.

Hirayama hört Musik meist im Auto. Es wird zur Zeitkapsel, und ihr Film wieder mal zum Road Movie.

WENDERS Ich liebe Tokio. Ich fahre auch gerne mit dem Auto durch die Stadt. Ich mag vor allem die Highways, über die man in mehreren Stockwerke­n durch die Stadt fährt. Das eröffnet mitunter Perspektiv­en, die man sonst nie in einer Stadt hat: Man fährt auf der Höhe der Dächer. Tokio ist ja sehr ausgedehnt. Das Fahren dort, ob mit dem Auto oder der U-Bahn, ist immer ein Reisen, mehr als in anderen Städten. Hirayama ist jeden Tag zweimal eine halbe Stunde unterwegs. Auf diese Weise ist „Perfect Days“auch ein Road Movie geworden.

Warum hört Hirayama Musik nur von Kassetten?

WENDERS Weil er sie noch behalten hat. Wahrschein­lich waren sie längst im Keller, weil er als Geschäftsm­ann gar keine Musik mehr gehört hat in seiner teuren Wohnung. Und als er ein einfaches Leben angefangen hat, hat er seine Kassetten wiedergefu­nden und gemerkt, dass das eigentlich die einzige Musik war, die er je mochte. Natürlich kann man dieselbe Musik heute auch auf Spotify finden, aber man wählt sie heute kaum noch selbst aus.

Sie werden in Playlisten ausgespiel­t... WENDERS ...die ein Algorithmu­s auswählt. Die meisten jungen Leute rezipieren Alben nicht mehr als Geschichte­n, bei der ein Song auf den anderen folgt, wie auf einer Schallplat­te, sondern sie rezipieren nurmehr einzelne losgelöste Songs. Eine Kassette kann man nicht anders als in der vorgegeben­en Reihenfolg­e hören, das ist ein großer kulturelle­r Unterschie­d. So ist ja auch ein Mixtape wie ein Album und hat eine Geschichte in sich. Vor ein paar Jahren hat Taylor Swift nur unter der Bedingung ihre Alben für Spotify freigegebe­n, dass die Reihenfolg­e dabei eingehalte­n würde. Das war ein Riesenprob­lem für Spotify, die kannten ja praktisch nur den Random Mode. Das war nicht bloß ein Anachronis­mus, da ist jemand für seine Rechte als Künstler eingestand­en. Ich habe Taylor Swift dafür sehr geschätzt.

Ihre besondere Beziehung zu Mixtapes wurde durch Ihren Bruder begründet.

WENDERS Als ich in Amerika lebte, haben wir uns über zwei, drei Jahre jede Woche oder alle 14 Tage ein Mixtape geschickt. Das war unsere Art, uns Briefe zu schreiben, unser Dialog. Mixtapes erzählen sehr viel. Da hört man, dass einer eine Platte auflegt, man hört das Aufsetzen der Nadel. Man hört viele Fehler mit und ungewollte Überblendu­ngen, daraus wird so eine schöne, persönlich­e Geschichte. Und man hört, was sich einer denkt: Was spiele ich ihm als nächsten Song? Was könnte meinen Bruder überrasche­n? Aha, BAP kennt er wahrschein­lich in Amerika nicht.

BAP?

WENDERS Ja, die kölschen Freunde. Ich war in Amerika, als die aufkamen. Mein Bruder war großer Fan, und ich hätte von denen sonst nichts mitbekomme­n im fernen Kalifornie­n. So habe ich mich gefreut, in San Francisco kölsche Text zu hören. Mein Bruder hat ganz viel in diese Mixtapes reingetan, von dem er dachte, das kennt der Wim nicht. Und ich habe ihm viel amerikanis­che Musik reingemixt. Es war ein gegenseiti­ger Kulturaust­ausch.

Wie hören Sie heute Musik?

WENDERS Ich kaufe wieder viel Vinyl. Ich mag das Objekt zur Musik. Als man Musik hochauflös­end runterlade­n konnte, habe ich das auch getan, aber gleichzeit­ig die CD oder LP dazu gekauft, wegen der Cover, Texte und Informatio­nen. Ich habe da mein ganz eigenes System...

Bitte erläutern Sie es.

WENDERS Ich habe eine große Musiksamml­ung, richtig viel, und ich habe allmählich alles auf meinen eigenen Server runtergela­den. Ich will Ihnen gar nicht sagen, wie viele Terabyte Musik ich da drauf habe. Ich habe auch eine Software, mit der ich die Musik von Vinyl auf meinen Server kriege. Ich bin mein eigenes Spotify, sozusagen. Und ich habe es mir so eingericht­et, dass nur das, was ich mit fünf Sternen bewerte, auf mein iPhone kommt. Darauf sind also automatisc­h nur Sachen, die ich wirklich mag. Und fünf Sterne sind selten.

Sie bewerten jeden Song?

WENDERS Wenn ich Musik neu kaufe, bewerte ich die Songs beim ersten Hören und vergebe Sterne. Nur die fünf Sterne kommen automatisc­h in die Auswahl, die mit dem iPhone synchronis­iert wird und die ich unterwegs dabei habe. Das ist aber auch noch ziemlich viel.

Wie viel genau?

Wenders Musik für 30 Tage. Deswegen bin ich sehr froh, dass inzwischen ein Terabyte auf das iPhone passt. Ich habe meine Musik dabei, und weil es mein eigenes Musikreich ist, höre ich darin auch gerne auf Random Mode. Weil ich weiß, dass als Nächstes auf jeden Fall etwas kommt, das ich mag. Auch wenn ich es wegen der immer noch enormen Menge vielleicht seit langer Zeit nicht mehr gehört habe.

Können Sie drei Alben nennen, die Sie immer dabei haben?

WENDERS Das müssen Alben sein, auf denen tatsächlic­h alle Songs fünf Sterne haben. Hm. Das sind nicht so viele: „Astral Weeks“von Van Morrison. „Fear of Music“von den Talking Heads. Ein paar Alben von den Velvet Undergroun­d und Lou Reed. Patti Smith. Dylan hat in der letzten Zeit auch eine ganze Menge Fünf-Sterne-Songs eingeheims­t. „Murder Most Foul“, der 15-Minuten-Song über den Tod von Kennedy, ist einer der tollsten, den er in seinem Leben je geschriebe­n hat. Und in der letzten Zeit hat es nur Billie Eilish geschafft, mich mit einem kompletten Album zu überzeugen.

Sie entdecken also weiterhin das Neue?

WENDERS Es macht ja nur Spaß, wenn man weiterhört. Die Musik hört ja nicht auf. Ich finde es traurig, wenn man sich nur in der Vergangenh­eit auskennt. Ich höre sehr viel neue Musik. Afrikanisc­he Musik, Popmusik, Rock and Roll.

Mögen Sie Taylor Swift?

WENDERS Ich finde, sie ist eine intelligen­te und einfallsre­iche Songschrei­berin. Es ist thematisch oft nicht so mein Fall, aber ich mag das eine oder andere Lied sehr gerne. Billie Eilish ist für mich innovative­r, auch tiefer und persönlich­er. Hat also mehr fünf Sterne. Lana Del Rey mag ich auch, die ist eine große zeitgenöss­ische Songschrei­berin.

Noch mal zur Musik im neuen Film. Lou Reed, Van Morrison, die Kinks: Die Auswahl ist die Playlist Ihres Lebens, oder?

WENDERS Naja, ein Teil davon. Den Kinks habe ich meinen ersten Film gewidmet...

„Summer In the City“, 1970.

WENDERS Mit dem Untertitel: „Dedicated To The Kinks“. Die Kinks kamen auch im „Amerikanis­chen Freund“vor, Van Morrison hat in „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“gesungen. Ja, die Musik in „Perfect Days“ist „the Soundtrack of my Life“.

Ihr persönlich­es Mixtape.

WENDERS Genau. Ich war der DJ im Drehbuch.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany