„Ich bin mein eigenes Spotify“
Der Regisseur wurde für den Oscar nominiert. Der 78-Jährige spricht über die Musik in seinem Film „Perfect Days“, über sein ausuferndes System der Platten-Sortierung und die Songs seines Lebens.
Dieser Film ist so großartig, und er klingt so gut, dass man noch beim Verlassen des Kinosaals Songs aus dem Soundtrack im Handy sucht, um sie auf dem Heimweg zu hören. In „Perfect Days“erzählt Wim Wenders die Geschichte von Hirayama, einem glücklichen Herrn, der in Tokio öffentliche Toiletten reinigt. Morgens setzt sich dieser Stoiker in sein Auto und schiebt eine Kassette in den Player. Und dann düst er durch die große Stadt. Weil Musik so wichtig ist für den Film, möchte man mit dem in Düsseldorf geborenen Wenders unbedingt über seine Songauswahl sprechen – und gerne auch über die Lieder seines Lebens. Ob er Lust dazu hat? Total, lautet die Antwort. Also ruft man ihn in seinem Hotel in Paris an und redet lange über Film und Musik. Zwei Tage später dann die Nachricht, dass „Perfect Days“für den Oscar als bester internationaler Film nominiert ist. Schnell noch mal melden: Herzlichen Glückwunsch! Wenders geht für Japan ins Rennen. Das Land sei seine zweite Heimat seit seinem ersten Besuch im Jahr 1977, sagt er. Und, na klar: Der Oscar würde ihn „schon sehr freuen“.
Die Songauswahl wirkt wie eine zweite Ebene, über die man die wortkarge Hauptfigur Hirayama besser versteht.
WIM WENDERS Das war die Idee. Deswegen haben wir die Musik schon ins Drehbuch geschrieben. Wir haben uns gedacht: Unser Mann redet so wenig, da kann die Musik helfen, ein bisschen mehr über ihn zu erzählen. Die Songs, die er sich morgens aussucht und über das Kassettengerät in seinem Auto hört, die erzählen etwas über seinen Tag und wie er an ihn herangeht. Sie sind Teil von Hirayamas Geschichte. Das ist die Musik, die er gehört hat, als er jung war. Und nun funktioniert sie wie ein altmodisches Mixtape, das er mit uns teilt.
Ein Mixtape ist nichts Zufälliges, sondern etwas Kuratiertes.
WENDERS Ja, jedes Band erzählt eine Geschichte, hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, da ist entscheidend, was aufeinanderfolgt. Das ist etwas grundsätzlich anderes als eine Playlist heute. Die ist virtuell, oft zufällig und beliebig, ein Mixtape oder Compilation Tape dagegen handgemacht. Hirayamas Geschichte fängt mit „House of the Rising Sun“von den Animals an und endet mit „Feeling Good“von Nina Simone. Hirayama lässt mit diesen Songs sein Unterbewusstsein erzählen, wenn Sie so wollen.
Im Film erfährt man wenig über die Vergangenheit der Hauptfigur. „House of the Rising Sun“könnte aber ein Hinweis auf eine mögliche Sucht-Vergangenheit sein. WENDERS Kann man sich so zurechtlegen, ja. Meine Idee von seiner Vergangenheit habe ich für Koji Yakusho, den Hauptdarsteller, aufgeschrieben: Hirayama kam aus einem reichen Elternhaus, er war mal ein erfolgreicher Businessmann, trank und nahm auch Drogen. Es wird angedeutet, dass es eine andere Welt gab für ihn, die er hinter sich gelassen hat, als bewusste Entscheidung. In meiner Geschichte ist er dann Gärtner geworden, und aus dem Gärtnern hat er den Job mit den Toiletten übernommen.
Dass er Gärtner war, spürt man. Er nimmt jeden Tag ein Foto auf: das Sonnenlicht durch die Zweige der Bäume. Dazu passt, dass die meisten der von Ihnen ausgesuchten Songs die Sonne thematisieren: „Sittin' On The Dock of the Bay“, „Sunny Afternoon“, „Feeling Good“...
WENDERS Absolut. (lacht) Sie kommen mir auf die Schliche. Die Songs handeln wirklich sehr viel von Licht.
Hirayama hört Musik meist im Auto. Es wird zur Zeitkapsel, und ihr Film wieder mal zum Road Movie.
WENDERS Ich liebe Tokio. Ich fahre auch gerne mit dem Auto durch die Stadt. Ich mag vor allem die Highways, über die man in mehreren Stockwerken durch die Stadt fährt. Das eröffnet mitunter Perspektiven, die man sonst nie in einer Stadt hat: Man fährt auf der Höhe der Dächer. Tokio ist ja sehr ausgedehnt. Das Fahren dort, ob mit dem Auto oder der U-Bahn, ist immer ein Reisen, mehr als in anderen Städten. Hirayama ist jeden Tag zweimal eine halbe Stunde unterwegs. Auf diese Weise ist „Perfect Days“auch ein Road Movie geworden.
Warum hört Hirayama Musik nur von Kassetten?
WENDERS Weil er sie noch behalten hat. Wahrscheinlich waren sie längst im Keller, weil er als Geschäftsmann gar keine Musik mehr gehört hat in seiner teuren Wohnung. Und als er ein einfaches Leben angefangen hat, hat er seine Kassetten wiedergefunden und gemerkt, dass das eigentlich die einzige Musik war, die er je mochte. Natürlich kann man dieselbe Musik heute auch auf Spotify finden, aber man wählt sie heute kaum noch selbst aus.
Sie werden in Playlisten ausgespielt... WENDERS ...die ein Algorithmus auswählt. Die meisten jungen Leute rezipieren Alben nicht mehr als Geschichten, bei der ein Song auf den anderen folgt, wie auf einer Schallplatte, sondern sie rezipieren nurmehr einzelne losgelöste Songs. Eine Kassette kann man nicht anders als in der vorgegebenen Reihenfolge hören, das ist ein großer kultureller Unterschied. So ist ja auch ein Mixtape wie ein Album und hat eine Geschichte in sich. Vor ein paar Jahren hat Taylor Swift nur unter der Bedingung ihre Alben für Spotify freigegeben, dass die Reihenfolge dabei eingehalten würde. Das war ein Riesenproblem für Spotify, die kannten ja praktisch nur den Random Mode. Das war nicht bloß ein Anachronismus, da ist jemand für seine Rechte als Künstler eingestanden. Ich habe Taylor Swift dafür sehr geschätzt.
Ihre besondere Beziehung zu Mixtapes wurde durch Ihren Bruder begründet.
WENDERS Als ich in Amerika lebte, haben wir uns über zwei, drei Jahre jede Woche oder alle 14 Tage ein Mixtape geschickt. Das war unsere Art, uns Briefe zu schreiben, unser Dialog. Mixtapes erzählen sehr viel. Da hört man, dass einer eine Platte auflegt, man hört das Aufsetzen der Nadel. Man hört viele Fehler mit und ungewollte Überblendungen, daraus wird so eine schöne, persönliche Geschichte. Und man hört, was sich einer denkt: Was spiele ich ihm als nächsten Song? Was könnte meinen Bruder überraschen? Aha, BAP kennt er wahrscheinlich in Amerika nicht.
BAP?
WENDERS Ja, die kölschen Freunde. Ich war in Amerika, als die aufkamen. Mein Bruder war großer Fan, und ich hätte von denen sonst nichts mitbekommen im fernen Kalifornien. So habe ich mich gefreut, in San Francisco kölsche Text zu hören. Mein Bruder hat ganz viel in diese Mixtapes reingetan, von dem er dachte, das kennt der Wim nicht. Und ich habe ihm viel amerikanische Musik reingemixt. Es war ein gegenseitiger Kulturaustausch.
Wie hören Sie heute Musik?
WENDERS Ich kaufe wieder viel Vinyl. Ich mag das Objekt zur Musik. Als man Musik hochauflösend runterladen konnte, habe ich das auch getan, aber gleichzeitig die CD oder LP dazu gekauft, wegen der Cover, Texte und Informationen. Ich habe da mein ganz eigenes System...
Bitte erläutern Sie es.
WENDERS Ich habe eine große Musiksammlung, richtig viel, und ich habe allmählich alles auf meinen eigenen Server runtergeladen. Ich will Ihnen gar nicht sagen, wie viele Terabyte Musik ich da drauf habe. Ich habe auch eine Software, mit der ich die Musik von Vinyl auf meinen Server kriege. Ich bin mein eigenes Spotify, sozusagen. Und ich habe es mir so eingerichtet, dass nur das, was ich mit fünf Sternen bewerte, auf mein iPhone kommt. Darauf sind also automatisch nur Sachen, die ich wirklich mag. Und fünf Sterne sind selten.
Sie bewerten jeden Song?
WENDERS Wenn ich Musik neu kaufe, bewerte ich die Songs beim ersten Hören und vergebe Sterne. Nur die fünf Sterne kommen automatisch in die Auswahl, die mit dem iPhone synchronisiert wird und die ich unterwegs dabei habe. Das ist aber auch noch ziemlich viel.
Wie viel genau?
Wenders Musik für 30 Tage. Deswegen bin ich sehr froh, dass inzwischen ein Terabyte auf das iPhone passt. Ich habe meine Musik dabei, und weil es mein eigenes Musikreich ist, höre ich darin auch gerne auf Random Mode. Weil ich weiß, dass als Nächstes auf jeden Fall etwas kommt, das ich mag. Auch wenn ich es wegen der immer noch enormen Menge vielleicht seit langer Zeit nicht mehr gehört habe.
Können Sie drei Alben nennen, die Sie immer dabei haben?
WENDERS Das müssen Alben sein, auf denen tatsächlich alle Songs fünf Sterne haben. Hm. Das sind nicht so viele: „Astral Weeks“von Van Morrison. „Fear of Music“von den Talking Heads. Ein paar Alben von den Velvet Underground und Lou Reed. Patti Smith. Dylan hat in der letzten Zeit auch eine ganze Menge Fünf-Sterne-Songs eingeheimst. „Murder Most Foul“, der 15-Minuten-Song über den Tod von Kennedy, ist einer der tollsten, den er in seinem Leben je geschrieben hat. Und in der letzten Zeit hat es nur Billie Eilish geschafft, mich mit einem kompletten Album zu überzeugen.
Sie entdecken also weiterhin das Neue?
WENDERS Es macht ja nur Spaß, wenn man weiterhört. Die Musik hört ja nicht auf. Ich finde es traurig, wenn man sich nur in der Vergangenheit auskennt. Ich höre sehr viel neue Musik. Afrikanische Musik, Popmusik, Rock and Roll.
Mögen Sie Taylor Swift?
WENDERS Ich finde, sie ist eine intelligente und einfallsreiche Songschreiberin. Es ist thematisch oft nicht so mein Fall, aber ich mag das eine oder andere Lied sehr gerne. Billie Eilish ist für mich innovativer, auch tiefer und persönlicher. Hat also mehr fünf Sterne. Lana Del Rey mag ich auch, die ist eine große zeitgenössische Songschreiberin.
Noch mal zur Musik im neuen Film. Lou Reed, Van Morrison, die Kinks: Die Auswahl ist die Playlist Ihres Lebens, oder?
WENDERS Naja, ein Teil davon. Den Kinks habe ich meinen ersten Film gewidmet...
„Summer In the City“, 1970.
WENDERS Mit dem Untertitel: „Dedicated To The Kinks“. Die Kinks kamen auch im „Amerikanischen Freund“vor, Van Morrison hat in „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“gesungen. Ja, die Musik in „Perfect Days“ist „the Soundtrack of my Life“.
Ihr persönliches Mixtape.
WENDERS Genau. Ich war der DJ im Drehbuch.