Saarbruecker Zeitung

Die französisc­he Kinowelt bricht ihr Schweigen

Dass Regisseure Sex mit minderjähr­igen Darsteller­innen hatten, schien lange akzeptiert. Die Schauspiel­erin Judith Godrèche rüttelt die Branche nun auf.

- VON SABINE GLAUBITZ

(dpa) Im Jahr 2019 sorgte Adèle Haenel für einen Eklat in Frankreich­s Kinowelt. Sie war die erste Schauspiel­erin nach Beginn der MeToo-Bewegung, die sich in Frankreich offiziell zu Wort meldete, um sexuelle Gewalt anzuprange­rn. Trotz zahlreiche­r weiterer Skandale hat sich Frankreich mit der MeToo-Bewegung schwergeta­n. Nun scheint die Kinowelt das Schweigen zu brechen. Forderunge­n nach mehr Kontrolle bei Dreharbeit­en mit Minderjähr­igen kommen auf – und männliche Missbrauch­sopfer melden sich zu Wort.

Seit den Anklagen von Judith Godrèche gegen zwei bekannte Regisseure scheint das Schweigen ein Ende zu haben. „Das Bild unserer idealisier­ten Väter wird beschädigt. Die Macht scheint fast zu schwanken. Könnte es sein, dass wir der Wahrheit ins Auge sehen? Unsere Verantwort­ung übernehmen?“, fragte die Schauspiel­erin die illustre Kinowelt anlässlich der Vergabe der renommiert­en César-Filmpreise Ende Februar. Und erklärte weiter: „Ich weiß, es ist beängstige­nd: Stipendien zu verlieren, Stellen zu verlieren, den Job zu verlieren. Auch ich habe Angst.“Die Schauspiel­erin hatte Anfang Februar gegen die bekannten Regisseure Benoît Jacquot („Tagebuch einer Kammerzofe“) und Jacques Doillon („Der junge Werther“) Klage wegen Missbrauch­s einer Minderjähr­igen unter 15 Jahren erhoben – und eine neue MeToo-Welle ausgelöst: So will nun auch Isild Le Besco („Sade“) gegen die beiden Filmemache­r vorgehen. Mitte Februar wurde eine weitere Klage gegen Gérard Depardieu bekannt, eine mehr auf der Liste von Frauen, die dem Schauspiel­er sexuelle Übergriffe vorwerfen.

Die Klägerin, eine 53-jährige Dekorateur­in, beschuldig­t Depardieu, sie bei den Dreharbeit­en zum Film „Les Volets verts“(Die grünen Fensterläd­en) sexuell belästigt zu haben. Gegen Depardieu („Cyrano von Bergerac“, „Asterix und Obelix“) wird seit 2020 wegen des Vorwurfs der Vergewalti­gung ermittelt.

Durch Godrèche motiviert hat Aurélien Wiik den Hashtag „#MeToogarco­ns“lanciert, unter dem Männer ihre Erlebnisse publik machen können. Zuvor berichtete der 43-jährige Schauspiel­er in den sozialen Netzwerken, dass er von seinem 11. bis 15. Lebensjahr unter anderem von seinem Agenten misshandel­t wurde. Zeitgleich rief Casting-Direktor Stéphane Gaillard dazu auf, unter der E-Mail-Adresse „metooacteu­r@gmail.com“die Geschichte­n in absoluter Anonymität zu erzählen.

Gegen den renommiert­en Filmemache­r André Téchiné („Wilde Herzen“, „Wir waren Zeugen“) und einen Casting-Direktor hat jetzt Francis Renaud wegen sexuellen Missbrauch­s Strafanzei­ge erhoben. Die Vorfälle sollen sich zwischen 1988 und 2004 ereignet habe. Téchiné, heute 80, hat sich dazu über seine Anwältin in der Zeitung Le Parisien geäußert.

Er bedauere, ihn wegen seiner sentimenta­len, ungeschick­ten verbalen Herangehen­sweise in Verlegenhe­it gebracht zu haben. Und weiter: Natürlich habe er sich damals geirrt, als er aufgrund seines Status als Regisseur nicht erkennen konnte, dass ihre Beziehung in Renauds Augen nicht auf Augenhöhe gewesen sei. Anderersei­ts könne er heute nur sein Unverständ­nis über diese Strafanzei­ge äußern.

Godrèche ist zur Galionsfig­ur einer zweiten MeToo-Welle geworden. Im Oberhaus des französisc­hen Parlaments sprach sie vor der Delegation für Frauenrech­te und legte

konkrete Vorschläge auf den Tisch. Die 51-Jährige forderte die Einrichtun­g einer Untersuchu­ngskommiss­ion für sexuelle und sexistisch­e Gewalt in der Filmindust­rie sowie eine Vorschrift, die einen neutralen Referenten bei Dreharbeit­en mit Minderjähr­igen vorsieht, damit ein Kind niemals allein am Set gelassen werde. Zudem wünschte sie sich „einen Intimitäts-Coach“für Szenen sexueller Natur. Das ist etwa bei USamerikan­ischen Drehs inzwischen üblich.

Auch Frankreich­s Kulturmini­sterin Rachida Dati fand klare Worte. Kreative Freiheit sei wichtig, aber man rede hier nicht über Kunst, sondern über Kriminalit­ät, sagte die 58-Jährige, die einst Justizmini­sterin war.

In der langen und bewegenden Rede anlässlich der César-Filmpreisv­ergabe spielte Godrèche auf ihre Erlebnisse mit Jacquot und Doillon an. Sie sprach von 45 Filmaufnah­men mit zwei ekelhaften Händen an ihren 15 Jahre alten Brüsten und einem Regisseur, der sie flüsternd in sein Bett zerrte, unter dem Vorwand, verstehen zu müssen, wer sie wirklich sei.

„Warum sollten wir akzeptiere­n, dass diese Kunst, die wir so sehr lieben, diese Kunst, die uns verbindet, als Deckmantel für den illegalen Handel mit jungen Mädchen genutzt wird?“, fragte sie das Publikum.

Die Missbrauch­svorfälle gegen Godrèche sollen sich zwischen 1986 und 1992 ereignet haben. Gegen Jacquot, der mit ihr eine sechsjähri­ge Beziehung führte, die sie „die Geschichte eines entführten Kindes“nennt, wurden Vorermittl­ungen eingeleite­t. Der heute 77-Jährige sagt, dass seine Beziehung zu Godrèche eine einvernehm­liche Liebesgesc­hichte gewesen sei. Jacquot war damals 40, Godrèche 14.

Er glaubt, Opfer einer großen „Kommunikat­ionsoperat­ion“der Schauspiel­erin und Regisseuri­n zu sein, um für ihre auf Arte verfügbare­n Serie „Icon of French Cinema“aufmerksam zu machen. Doillon will gegen Godrèche wegen Rufmordes vorgehen. Sein neuer Film „CE2“, der am 27. März hätte erscheinen sollen, wurde bis auf Weiteres verschoben.

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FOTO: MICHEL EULER/AP Judith Godrèche wirft zwei berühmten Regisseure­n vor, sie als junges Mädchen missbrauch­t zu haben.

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