Wie fing die Globalisierung eigentlich an?
Der kürzlich emeritierte Saarbrücker Historiker Wolfgang Behringer legt mit „Der große Aufbruch“eine Globalgeschichte der frühen Neuzeit vor.
1000 Seiten Text, denen noch 200 Seiten Anmerkungen plus weitere 100 Seiten für das Personen-, Orts- und Sachregister folgen: Wolfgang Behringers unter dem Titel „Der große Aufbruch“erschienene Globalgeschichte der frühen Neuzeit ist ein großer Wurf. Ein Kompendium, das schier überquillt von Detailwissen, Lebensläufen, Bezügen und Verweisen.
Wer sich durch dieses ungeheuer komplexe, immer wieder ausufernde, doch nie den Blick fürs Ganze aus den Augen verlierende Buch durchkämpft – seine Lektüre ist ein Kraftakt –, muss allerdings angesichts all der von Behringer eingeschlagenen historischen Pfade zusehen, nicht verloren zu gehen.
„Bis vor wenigen Jahren tauchte Globalgeschichte in keiner Einführung in das Studium der Geschichte auf“, schreibt der 2023 emeritierte Saarbrücker Historiker eingangs und fährt fort: „Man reibt sich die Augen: Wie war das möglich? Globalgeschichte ist der natürliche Zustand der Menschheit.“Allerdings erst mit Beginn der Neuzeit im Jahr 1492, als Kolumbus (1451-1506), beginnend mit seinem Anlanden auf den Bahamas, Amerika statt China entdeckte, das von ihm „als ein Teil des hinteren Indien aufgefasst wurde“. Damit setzte die neue Zeitrechnung im Zeichen der Verknüpfung ganzer Kontinente ein. Ungeachtet dessen, dass der Venezianer Marco Polo (1254-1324) bereits zwei Jahrhunderte zuvor bis nach China vorgedrungen war.
Nach und nach nahmen Teile der Alten Welt, bestehend aus Europa, Asien und Afrika, nach Kolumbus`
Entdeckungsfahrt dann den amerikanischen Doppelkontinent in Beschlag. Zugleich kam damit ein Jahrhunderte währendes Karussell der Machtkämpfe, Intrigen und Demütigungen in Gang, in dem die frühen Kolonialmächte (Spanien, Portugal, Frankreich, England sowie die Niederlande) sich immer wieder an Ausbeutungsfuror und Raffinesse überboten. Wobei die jeweiligen Monarchen zu Beginn, wie Behringer schreibt, „lediglich Lizenzen an Abenteurer und Glücksritter“vergaben, „die auf eigenes Risiko und eigene Kosten waghalsige Unternehmungen starten wollten“. Eine Sonderrolle kam in den Anfängen der Seerepublik Venedig zu.
Globalgeschichte nennt sich Behringers vorzügliches Werk aus gutem Grund deshalb, weil es zum Verständnis des letzten halben Jahrtausends nicht alleine die EuropaBrille aufsetzt. Vielmehr werden auch die damals ungleich entwickelteren Zivilisationen im Verlauf ihrer über die Jahrhunderte erlittenen Höhen und Tiefen ausführlich berücksichtigt. Ob das Osmanische Reich oder die Abbasiden, ob China, Indien, ob die buddhistischen Reiche in Südostasien oder die westafrikanischen Großreiche.
Behringer nennt sein pars pro toto-Verfahren, gut vier Jahrhunderte Welthistorie anhand von Themen, Regionen und Biografien exemplarisch vor Augen zu führen, „Mikrogeschichte“und folgert: „Damit verbindet sich die Erwartung, dass sich die Tupfer wie bei einem pointillistischen Gemälde zu einem Bild zusammensetzen.“Sie tun es, im Ganzen gelingt ein globales Panoramagemälde des 15. bis 18. Jahrhunderts, dessen Erstellen ein sisyphoshafter Sichtungs- und Auswertungsmarathon vorangegangen sein muss, der alleine schon höchste Anerkennung verdient.
In sieben Großkapiteln sequenziert Behringer das von ihm gezeichnete Weltpanorama weitgehend chronologisch. Im Zentrum steht ein Kapitel-Tryptychon, das erst „die Zeit des Aufbruchs“, anschließend „die Welt im Krisenmodus“und hernach „das Jahrhundert des Fortschritts“skizziert und damit den großen Bogen vom 16. bis ans Ende des 18. Jahrhunderts schlägt. Gerahmt werden sie von drei weiteren, die zum einen die Vorläufer der Neuzeit, zum anderen deren grundlegenden Folgen resümieren.
Schon bei seiner Skizzierung der Ausgangsbedingungen der Neuzeit verdeutlicht Behringer, dass die seinerzeitigen, allesamt nicht in Europa liegenden, auf einer leistungsfähigen Landwirtschaft basierenden Hochkulturen in Afrika, Asien sowie der altamerikanischen Reiche der Inkas, Maya und Azteken alle in gemäßigten Breiten beheimatet waren. Überhaupt würdigt Behringer, der immer schon viel Umwelthistorie betrieben hat, immer wieder die Bedeutung klimatischer Einflüsse – bis hin zu ihrem Bedingen von Aufständen und Massensterben infolge von Missernten, Überschwemmungen, Dürreperioden oder einer globalen Abkühlung als Folge von zahllosen Vulkanausbrüchen.
Interessant sind die Interdependenzen, die Behringer herausarbeitet. Sei es, dass er zeigt, dass für die weltweiten Verwerfungen im 14. Jahrhundert eine kleine Eiszeit maßgeblicher war als die Pest. Oder indem er verdeutlicht, dass die Ausdehnung des Mongolenreichs indirekt den Aufstieg Europas begünstigte, weil die damit einhergehende, vorübergehende Schwächung des Osmanischen Reichs griechische Gelehrte nach Italien brachte und so der Renaissance den Boden bereitete. Ähnlich erhellend sind seine Einsichten in die Folgen des Silberhandels, der den weltweiten Zahlungsverkehr steuerte und bei Engpässen ganze Volkswirtschaften wie die Ming-Dynastie in tiefe Krisen stürzte.
Was Behringer, zurückgehend auf Alfred W. Corosby den „Columbian Exchange“nennt, bestimmte dann als Transfer von Nutzpflanzen, Gewürzen, Luxusartikeln, Tieren, aber auch Sklaven und Krankheitserregern über Jahrhunderte die interkontinentalen Beziehungen. Weltumseglungen kamen auf, wobei der Triumph des Ersten wohl dem Basken Juan Sebastián Elcano (14861526) gebührt und nicht Ferdinand Magellan.
Manchmal überstrapaziert Behringer die Geduld des Lesers mit ganzen Satzkaskaden unnötiger Details, sodass der rote Faden seiner, Rettungsankern gleich in zahllose Unterkapitel gegliederten pointillistischen Erzählung bisweilen verloren geht. Wer durchhält, lernt viel. Etwa über die Selbstregierung der indigenen aztekischen Stadtstaaten im frühen 16. Jahrhundert. Oder über das Prinzip der Kolonialisten, Indigene zu entführen, um sie zu Dolmetschern und Vermittlern auszubilden. Oder über den Zusammenhang zwischen dem Aussterben der für ihre 20 Meter hohen, 270 Tonnen schweren Statuen bekannten Rapanui in Polynesien und ihrer Abholzung von Palmwäldern.
Eine Frucht der frühen Globalisierung war die kulturelle Vermischung – ob in Eurasien, dem Islam oder in Indochina, das die von Behringer so genannte „Hybridisierung“bereits im Namen führt. Eigene „Kontaktsprachen“wie Pidgin, Kreol oder Suaheli waren die Folge dieser interkulturellen Verbindungen.
Weshalb die europäischen und nicht die ursprünglich weiter entwickelten asiatischen und islamischen Gesellschaften im Zuge der europäischen Revolutionen und Industrialisierungen dauerhaft Oberwasser gewannen, erklärt Behringer mit der Wissens-, Wissenschafts- und Handelsfreiheit, begleitet 1) von der grundstürzenden Säkularisierung im Zeichen der Aufklärung, 2) dem hohen Gut der Rechtsstaatlichkeit als maßgeblichem Garanten für Investitionen sowie 3) der Kapitalakkumulation durch die Erträge aus dem Sklaven- und Plantagenhandel.
Bezeichnenderweise erfolgten alle Weltreisen von Nicht-Europäern, Japan ausgenommen, auf europäischen Schiffen. „Die islamischen Herrscher Persiens, Marokkos oder Indiens verharrten auf ihren Plätzen“, schreibt Behringer, während China sich sowieso als Nabel der Welt ansah, der Europäern allenfalls Audienzen einräumte oder aber verweigerte. Was Behringer mit Bezug auf China folgert, gilt auch für die übrigen alten Kulturen: „Es fehlte nicht an Wissen oder Können, sondern am Wollen, auf staatlicher und auf privater Seite.“Zu Recht bilanziert er am Ende dieser lesenswerten Mikrogeschichte, dass die alten Zivilisationen heute nicht verschwunden sind. Ganz im Gegenteil: „Ihre kulturellen Ressourcen befähigen sie zu einer Resilienz, mit der Zeiten des Niedergangs überstanden werden konnten.“Man denke etwa an Indien, Russland oder den islamischen Raum.
Globalgeschichte nennt sich Behringers vorzügliches Werk aus gutem Grund deshalb, weil es zum Verständnis des letzten halben Jahrtausends nicht alleine die Europa-Brille aufsetzt.
Wolfgang Behringer: Der große Aufbruch. Globalgeschichte der frühen Neuzeit. Verlag C.H. Beck, 1320 Seiten,