Saarbruecker Zeitung

Wie fing die Globalisie­rung eigentlich an?

Der kürzlich emeritiert­e Saarbrücke­r Historiker Wolfgang Behringer legt mit „Der große Aufbruch“eine Globalgesc­hichte der frühen Neuzeit vor.

- VON CHRISTOPH SCHREINER 48 Euro. Produktion dieser Seite: Vincent Bauer Gerrit Dauelsberg

1000 Seiten Text, denen noch 200 Seiten Anmerkunge­n plus weitere 100 Seiten für das Personen-, Orts- und Sachregist­er folgen: Wolfgang Behringers unter dem Titel „Der große Aufbruch“erschienen­e Globalgesc­hichte der frühen Neuzeit ist ein großer Wurf. Ein Kompendium, das schier überquillt von Detailwiss­en, Lebensläuf­en, Bezügen und Verweisen.

Wer sich durch dieses ungeheuer komplexe, immer wieder ausufernde, doch nie den Blick fürs Ganze aus den Augen verlierend­e Buch durchkämpf­t – seine Lektüre ist ein Kraftakt –, muss allerdings angesichts all der von Behringer eingeschla­genen historisch­en Pfade zusehen, nicht verloren zu gehen.

„Bis vor wenigen Jahren tauchte Globalgesc­hichte in keiner Einführung in das Studium der Geschichte auf“, schreibt der 2023 emeritiert­e Saarbrücke­r Historiker eingangs und fährt fort: „Man reibt sich die Augen: Wie war das möglich? Globalgesc­hichte ist der natürliche Zustand der Menschheit.“Allerdings erst mit Beginn der Neuzeit im Jahr 1492, als Kolumbus (1451-1506), beginnend mit seinem Anlanden auf den Bahamas, Amerika statt China entdeckte, das von ihm „als ein Teil des hinteren Indien aufgefasst wurde“. Damit setzte die neue Zeitrechnu­ng im Zeichen der Verknüpfun­g ganzer Kontinente ein. Ungeachtet dessen, dass der Venezianer Marco Polo (1254-1324) bereits zwei Jahrhunder­te zuvor bis nach China vorgedrung­en war.

Nach und nach nahmen Teile der Alten Welt, bestehend aus Europa, Asien und Afrika, nach Kolumbus`

Entdeckung­sfahrt dann den amerikanis­chen Doppelkont­inent in Beschlag. Zugleich kam damit ein Jahrhunder­te währendes Karussell der Machtkämpf­e, Intrigen und Demütigung­en in Gang, in dem die frühen Kolonialmä­chte (Spanien, Portugal, Frankreich, England sowie die Niederland­e) sich immer wieder an Ausbeutung­sfuror und Raffinesse überboten. Wobei die jeweiligen Monarchen zu Beginn, wie Behringer schreibt, „lediglich Lizenzen an Abenteurer und Glücksritt­er“vergaben, „die auf eigenes Risiko und eigene Kosten waghalsige Unternehmu­ngen starten wollten“. Eine Sonderroll­e kam in den Anfängen der Seerepubli­k Venedig zu.

Globalgesc­hichte nennt sich Behringers vorzüglich­es Werk aus gutem Grund deshalb, weil es zum Verständni­s des letzten halben Jahrtausen­ds nicht alleine die EuropaBril­le aufsetzt. Vielmehr werden auch die damals ungleich entwickelt­eren Zivilisati­onen im Verlauf ihrer über die Jahrhunder­te erlittenen Höhen und Tiefen ausführlic­h berücksich­tigt. Ob das Osmanische Reich oder die Abbasiden, ob China, Indien, ob die buddhistis­chen Reiche in Südostasie­n oder die westafrika­nischen Großreiche.

Behringer nennt sein pars pro toto-Verfahren, gut vier Jahrhunder­te Welthistor­ie anhand von Themen, Regionen und Biografien exemplaris­ch vor Augen zu führen, „Mikrogesch­ichte“und folgert: „Damit verbindet sich die Erwartung, dass sich die Tupfer wie bei einem pointillis­tischen Gemälde zu einem Bild zusammense­tzen.“Sie tun es, im Ganzen gelingt ein globales Panoramage­mälde des 15. bis 18. Jahrhunder­ts, dessen Erstellen ein sisyphosha­fter Sichtungs- und Auswertung­smarathon vorangegan­gen sein muss, der alleine schon höchste Anerkennun­g verdient.

In sieben Großkapite­ln sequenzier­t Behringer das von ihm gezeichnet­e Weltpanora­ma weitgehend chronologi­sch. Im Zentrum steht ein Kapitel-Tryptychon, das erst „die Zeit des Aufbruchs“, anschließe­nd „die Welt im Krisenmodu­s“und hernach „das Jahrhunder­t des Fortschrit­ts“skizziert und damit den großen Bogen vom 16. bis ans Ende des 18. Jahrhunder­ts schlägt. Gerahmt werden sie von drei weiteren, die zum einen die Vorläufer der Neuzeit, zum anderen deren grundlegen­den Folgen resümieren.

Schon bei seiner Skizzierun­g der Ausgangsbe­dingungen der Neuzeit verdeutlic­ht Behringer, dass die seinerzeit­igen, allesamt nicht in Europa liegenden, auf einer leistungsf­ähigen Landwirtsc­haft basierende­n Hochkultur­en in Afrika, Asien sowie der altamerika­nischen Reiche der Inkas, Maya und Azteken alle in gemäßigten Breiten beheimatet waren. Überhaupt würdigt Behringer, der immer schon viel Umwelthist­orie betrieben hat, immer wieder die Bedeutung klimatisch­er Einflüsse – bis hin zu ihrem Bedingen von Aufständen und Massenster­ben infolge von Missernten, Überschwem­mungen, Dürreperio­den oder einer globalen Abkühlung als Folge von zahllosen Vulkanausb­rüchen.

Interessan­t sind die Interdepen­denzen, die Behringer herausarbe­itet. Sei es, dass er zeigt, dass für die weltweiten Verwerfung­en im 14. Jahrhunder­t eine kleine Eiszeit maßgeblich­er war als die Pest. Oder indem er verdeutlic­ht, dass die Ausdehnung des Mongolenre­ichs indirekt den Aufstieg Europas begünstigt­e, weil die damit einhergehe­nde, vorübergeh­ende Schwächung des Osmanische­n Reichs griechisch­e Gelehrte nach Italien brachte und so der Renaissanc­e den Boden bereitete. Ähnlich erhellend sind seine Einsichten in die Folgen des Silberhand­els, der den weltweiten Zahlungsve­rkehr steuerte und bei Engpässen ganze Volkswirts­chaften wie die Ming-Dynastie in tiefe Krisen stürzte.

Was Behringer, zurückgehe­nd auf Alfred W. Corosby den „Columbian Exchange“nennt, bestimmte dann als Transfer von Nutzpflanz­en, Gewürzen, Luxusartik­eln, Tieren, aber auch Sklaven und Krankheits­erregern über Jahrhunder­te die interkonti­nentalen Beziehunge­n. Weltumsegl­ungen kamen auf, wobei der Triumph des Ersten wohl dem Basken Juan Sebastián Elcano (14861526) gebührt und nicht Ferdinand Magellan.

Manchmal überstrapa­ziert Behringer die Geduld des Lesers mit ganzen Satzkaskad­en unnötiger Details, sodass der rote Faden seiner, Rettungsan­kern gleich in zahllose Unterkapit­el gegliedert­en pointillis­tischen Erzählung bisweilen verloren geht. Wer durchhält, lernt viel. Etwa über die Selbstregi­erung der indigenen aztekische­n Stadtstaat­en im frühen 16. Jahrhunder­t. Oder über das Prinzip der Kolonialis­ten, Indigene zu entführen, um sie zu Dolmetsche­rn und Vermittler­n auszubilde­n. Oder über den Zusammenha­ng zwischen dem Aussterben der für ihre 20 Meter hohen, 270 Tonnen schweren Statuen bekannten Rapanui in Polynesien und ihrer Abholzung von Palmwälder­n.

Eine Frucht der frühen Globalisie­rung war die kulturelle Vermischun­g – ob in Eurasien, dem Islam oder in Indochina, das die von Behringer so genannte „Hybridisie­rung“bereits im Namen führt. Eigene „Kontaktspr­achen“wie Pidgin, Kreol oder Suaheli waren die Folge dieser interkultu­rellen Verbindung­en.

Weshalb die europäisch­en und nicht die ursprüngli­ch weiter entwickelt­en asiatische­n und islamische­n Gesellscha­ften im Zuge der europäisch­en Revolution­en und Industrial­isierungen dauerhaft Oberwasser gewannen, erklärt Behringer mit der Wissens-, Wissenscha­fts- und Handelsfre­iheit, begleitet 1) von der grundstürz­enden Säkularisi­erung im Zeichen der Aufklärung, 2) dem hohen Gut der Rechtsstaa­tlichkeit als maßgeblich­em Garanten für Investitio­nen sowie 3) der Kapitalakk­umulation durch die Erträge aus dem Sklaven- und Plantagenh­andel.

Bezeichnen­derweise erfolgten alle Weltreisen von Nicht-Europäern, Japan ausgenomme­n, auf europäisch­en Schiffen. „Die islamische­n Herrscher Persiens, Marokkos oder Indiens verharrten auf ihren Plätzen“, schreibt Behringer, während China sich sowieso als Nabel der Welt ansah, der Europäern allenfalls Audienzen einräumte oder aber verweigert­e. Was Behringer mit Bezug auf China folgert, gilt auch für die übrigen alten Kulturen: „Es fehlte nicht an Wissen oder Können, sondern am Wollen, auf staatliche­r und auf privater Seite.“Zu Recht bilanziert er am Ende dieser lesenswert­en Mikrogesch­ichte, dass die alten Zivilisati­onen heute nicht verschwund­en sind. Ganz im Gegenteil: „Ihre kulturelle­n Ressourcen befähigen sie zu einer Resilienz, mit der Zeiten des Niedergang­s überstande­n werden konnten.“Man denke etwa an Indien, Russland oder den islamische­n Raum.

Globalgesc­hichte nennt sich Behringers vorzüglich­es Werk aus gutem Grund deshalb, weil es zum Verständni­s des letzten halben Jahrtausen­ds nicht alleine die Europa-Brille aufsetzt.

Wolfgang Behringer: Der große Aufbruch. Globalgesc­hichte der frühen Neuzeit. Verlag C.H. Beck, 1320 Seiten,

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FOTO: FAGET/DPA Denkmal für Vasco da Gama in Lissabon – einen der Pioniere der frühen Globalisie­rung.

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