„Du A…loch, reih dich endlich ein!“
Der Trierer Psychologie Roland Pfister untersucht, warum sich Menschen nicht an Regeln halten – ein brandaktuelles Thema.
Drängler, Gaffer, Menschen, die Ordnungskräfte attackieren – sind denn alle verrückt geworden? Ganz im Gegenteil, sagt Roland Pfister, das Gros der Menschen hält sich an die Regeln, die unser Zusammenleben ermöglichen. Der Trierer Uni-Professor forscht zum „Begehen absichtsvoller Regelverstöße“und erklärt, wie Strafen, Wut oder Nachahmungs-Effekte wirken. Darüber nachzudenken, lohnt sich – für alle.
Vor Längerem beobachtete ich, wie eine junge Frau mehrere Meter entgegengesetzt in eine Einbahnstraße hinein gefahren ist und halb auf dem Trottoir parkte, um offenbar jemanden abzuholen. Ich dachte,
Sie habe vielleicht das Schild übersehen, und auf meinen freundlichen Hinweis, dass es sich um Einbahnstraße handele, antwortete sie ebenso freundlich: „Ich weiß.“Wäre sie eine Probandin für Ihre Forschung? PFISTER Unbedingt! (lacht) … In unseren Studien haben wir tatsächlich vergleichbare Situationen untersucht, nur natürlich nicht im realen Straßenverkehr, das ließe sich alleine rechtlich nicht machen. Wir haben Personen in einem Computerspiel, in einer virtuellen Stadt, Pizza ausliefern lassen. Manchmal hat es sich angeboten, durch eine Einbahnstraße abzukürzen, um schneller zu sein und ein wenig mehr Trinkgeld zu bekommen. Eine ähnliche Situation wie im Leben, mit dem Unterschied, wer eine Verkehrsregel gebrochen hat, ist nicht bestraft worden. Solche Situationen haben gezeigt, was in den Köpfen von Personen geschieht, die sich entschieden haben, gegen eine Regel zu verstoßen.
Werden unter Zeitdruck Regeln leichter gebrochen?
PFISTER Regeln werden nie leichtfertig gebrochen, auch wenn es den Anschein hat. Wir haben diese Simulation gewählt, weil Verkehrsregeln vergleichsweise klar und lebensnah sind. Die allermeisten Menschen wissen, wie sie sich im Straßenverkehr verhalten sollen. Uns ging es darum, ob eine Person die Regel bricht oder einhält, und was in beiden Fällen mit ihr passiert. Es gibt viele Gründe, eine Regel zu missachten – Zeitdruck, Ablenkung, Nichtwissen, sich auf ein Navi zu verlassen … Aber es gab in unseren Versuchen nur zwei Lager: diejenigen, die sich konsequent an die Regeln gehalten haben und diejenigen, die gegen sie verstoßen haben. Es gab nichts dazwischen, also kaum jemanden, der einmal so und einmal so gehandelt hat. Es gibt also regel-hörige Menschen und andere, denen Regeln, gemessen an ihrem Verhalten, scheinbar egal sind.
Gibt es alters- oder geschlechtsspezifische Unterschiede?
PFISTER Wir haben bezüglich des Alters keine systematischen Unterschiede gefunden. Es gibt andere Untersuchungen, die zeigen dass es im Verkehr besonders junge Männer sind, die Regeln brechen. Aber der Unterschied ist nicht groß, es gibt in jeder Altersgruppe einen gewissen Prozentsatz, der sich nicht um Regeln schert.
Aus dem Innenstadtverkehr: Ein junger Mann ruft bei geöffnetem Fenster in seinem Auto aus Wut über den Fahrer vor ihm: „Du A...loch, reih dich endlich ein!“Welche Rolle spielen Gefühle?
PFISTER Ich würde gerne noch einmal darauf zurückkommen, ob es den Menschen wirklich egal ist, Regeln zu brechen. Ein wichtiger Befund unserer Forschung ist: Selbst diejenigen, die regelmäßig entgegen der Einbahnstraße fahren, haben Probleme damit. Unsere Probanden haben immer gezögert – das Gehirn schreit also kurz vorher noch einmal auf und sagt: Achtung, das ist falsch, was du gerade machst! Das zeigt sich durch die Bank bei allen, die wir untersucht haben. Selbst in der ComputerspielSimulation bedeutete es Stress, den unsere Probanden überwinden mussten. Das lässt sich in die echte Verkehrswelt übertragen. In dem Moment, in dem jemand über eine durchgezogene Linie oder über eine Verkehrsinsel fährt, durchlebt er einen starken Konflikt und das Gehirn wird kurz aufschreien.
Reagieren Menschen wegen dieses Konflikts laut und aggressiv? Wie kürzlich ein Paketfahrer auf vorbeifahrende Leute vom Ordnungsamt, die ihm offenbar irgendein Zeichen gegeben haben, weil er in der zweiten Reihe geparkt hatte.
PFISTER Der entstandene Stress kann sich tatsächlich in Aggression kanalisieren. Der Paketzulieferer kann schon vorher unter Stress gestanden haben, aber das Parken in zweiter Reihe, das Missachten eines Halteverbots, sind eindeutige Stressoren. Selbst wenn jemand das schon oft gemacht hat, das Gehirn wird immer kurz signalisieren, dass etwas aus dem Ruder läuft, es entsteht Stress, der sich entladen kann.
Wie erklären Sie sich, dass der Respekt vor Autoritäten wie Polizisten, oder Feuerwehrleuten sinkt, sie sogar angegriffen werden? Entsteht Aggression, weil jemand daran erinnert wird, etwas nicht Regel-Konformes getan zu haben?
PFISTER Niemand mag es, wenn er zusätzlich zu dem eigenen inneren Konflikt beim Regelverstoß noch einmal explizit mit der Nase darauf gestoßen wird, das verstärkt den entstandenen Stress ungemein. Unser Gehirn ist ein sehr regel-liebendes Organ, es möchte, dass sie angewandt werden und alles strukturiert abläuft, um vorhersehbares Verhalten zu erzeugen.
Geben wir Regel-Brechern zu viel Raum, gemessen an denjenigen die sich daran halten?
PFISTER Regelverstöße sind in unserer Wahrnehmung tatsächlich sehr präsent und überschatten die Tatsache, dass sich das Gros der Menschen an die Regeln hält. Wir haben in den vergangenen Jahren sehr starke Evidenz dafür gesehen, dass sich Menschen sehr gut an Regeln halten – denken wir zum Beispiel an die Corona-Pandemie zurück. Damals sind sehr viele Regeln auf uns herein geprasselt, die vielen Menschen nicht geschmeckt haben. Es gab einen großen Unwillen gegen die Maskenpflicht, trotzdem haben sich die Leute aus meiner Erfahrung im Großen und Ganzen daran gehalten. Die meisten von uns halten Regeln also selbst dann ein, wenn wir sie gar nicht für so gut heißen. Wir brauchen eine starke Motivation, um gegen Regeln zu verstoßen. Wenn die nicht hoch genug ist oder die potenzielle Strafe abschreckt, wird nicht dagegen verstoßen.
Wie viel Prozent Ihrer Probanden sind falsch in die Einbahnstraße gefahren?
PFISTER Ungefähr ein Drittel der
Versuchspersonen hat gegen die Einbahnstraßenregel verstoßen – wobei sich diese Quote nicht eins zu eins auf die Straße übertragen lässt. Es war von vorneherein klar, in einem Computerspiel kann niemand zu Schaden kommen, niemand verliert seinen Führerschein. Bei anderen Untersuchungen, wie viele Personen zum Beispiel über eine rote Ampel gehen, liegt die Zahl um die zehn Prozent. Es wurde von anderen Wissenschaftlern auch das typische Vorurteil hinterfragt, dass die aktuelle Jugend keine Moral habe, sich nicht an Regeln halte und früher alles geregelter gewesen sei. Auch dabei kam heraus, dass es sich um eine Wahrnehmungsverzerrung handelt. Jugendliche sind im Vergleich zu mittleren und älteren Erwachsenen nicht unbedingt weniger regelkonform.
Haben drohende Strafen keine abschreckende Wirkung?
PFISTER Wir haben Menschen direkt nach dem Regelbruch mit positiven und negativen Wörtern konfrontiert und Begriffen, die mit Autorität oder nicht mit Autorität zu tun haben. Das Ergebnis lässt für uns den Rückschluss zu, wer einen Regelverstoß begangen hat, erwartet Bestrafung, diese Erwartung ist immer aktiviert.
Wir verinnerlichen erlernte oder auch anerzogene Regeln, sind uns ihrer bewusst, auch wenn wir sie brechen?
PFISTER Genau. Einerseits erwarten wir Bestrafung, wenn wir gegen Regeln verstoßen, anderseits müssen wir uns fragen, welche Bestrafungen wie wirken und welche Rolle ihre Höhe spielt. Wir wissen aus der Psychologie, dass Strafen besonders wirksam sind, wenn sie sehr unmittelbar und sehr vorhersehbar kommen. Meistens vergeht aber von der Geschwindigkeitsüberschreitung bis zum Eintreffen der Post mit dem Knöllchen eine gewisse Zeit. Diese Strafen sind weniger wirksam.
Gilt es nicht gerade als besonders kess, sich nicht an alles zu halten? Ist derjenige, der sich an Regeln hält, ein Langweiler? Mehr noch: Werden Bürokratie und Regeln nicht allgemein sogar infrage gestellt?
PFISTER Es geht natürlich auch um die Reaktion auf Regelverstöße – macht man sich damit Freunde oder Feinde? Wichtig ist, Menschen mögen andere Menschen, wenn sie einigermaßen einschätzen können, wie sie sich verhalten werden. Niemand sollte völlig unkalkulierbar und erratisch machen, was ihm gerade in den Sinn kommt. Das würde mit Sicherheit nicht zu einem hippen und chicen Image beitragen. Aber tatsächlich kann moderater Regelbruch dazu führen, als kreativ und selbstbestimmt erlebt zu werden.
Denn Kreativität und Innovation sind per se regelbrechend – man verlässt ausgetretene Pfade, macht Dinge, die noch nicht gemacht worden sind, bricht mit Verhaltensnormen und Konventionen.
Ist der Künstler Banksy so ein „Regelbrecher“?
PFISTER Er „bricht“auf einfallsreiche und professionelle Weise Regeln. Es geht aber auch um die Lösung von Alltagsproblemen. Wer eine kreative Alternative für einen sinnlosen Betriebsablauf erarbeitet, begeht einen hilfreichen Regelbruch. Kreativität gehört meines Erachtens zum positiven Regelbrechen. Es folgt ähnlichen Mechanismen, aber ohne negative Konsequenzen für andere Personen.
Wer sich Hunderte amerikanischer Spielfilme angesehen hat, mit der Verherrlichung, sich selbst Recht zu verschaffen, und dann im richtigen Leben mal hinlangt, wie seinerzeit Will Smith bei der Oscar-Verleihung … Wie wirken Vorbilder?
PFISTER Vorbilder sind unglaublich wichtig, weil wir Menschen tief in unserem Inneren Herdentiere sind. Wir haben unsere eigenen Ziele und Bedürfnisse, ordnen aber ein, was um uns herum passiert, und haben einen sehr großen Drang nachzuahmen, was andere tun. Kommt jemand damit durch, sie zu brechen, steigt die Wahrscheinlichkeit, es ihm nachzutun, exponentiell an. Jeder kann das selbst an einer roten Fußgängerampel beobachten. Die Leute stehen auf der einen und auf der anderen Seite und warten, lange geht keiner, aber spätestens, wenn der zweite bei Rot losgeht, ist der Damm gebrochen und alle überqueren die Straße. Daran sehen wir sehr schön den starken Einfluss von Modellhandlungen. Es kann dabei um Konventionen oder das Verhalten innerhalb einer Gruppe gehen. Wirft einer Müll achtlos auf den Boden, steigt bei mir die Wahrscheinlichkeit, das auch zu tun, exorbitant an.
Das sind keine beruhigenden Erkenntnisse.
PFISTER Es wäre beunruhigend, wenn wir vielen Vorbildern ausgesetzt wären, die Regeln brechen. Aber das sind wir ja nicht. Die allermeisten Menschen halten sich an Regeln, das sollten wir nicht vergessen.
Aber politische Gruppierungen scheinen doch gerade, zum Unterwandern von Regeln beziehungsweise Wertvorstellungen aufzurufen, nutzen dazu zum Teil vielleicht falsche Behauptungen. Wie steht es dabei mit dem Nachahmer-Effekt?
PFISTER Rutsche ich in eine Gruppe ab, in der Regeln zu brechen, befördert und idealisiert wird, kann mich das auch dazu verleiten, gegen sie zu verstoßen – dem muss aber ein längerer Prozess vorausgehen. Aber es ist ein wichtiger Faktor, wenn wir uns zum Beispiel anschauen, wie Kriminalität in Banden oder RockerGangs abläuft. Durch mythisches Überhöhen krimineller Handlungen werden Nachahmer-Effekte generiert. Glücklicherweise handelt es sich wieder um Randgruppen, die in keinem Verhältnis zu den vielen Menschen stehen, die sich an Regeln halten.
Wie sieht es mit der Gruppe derjenigen aus, die sich gerade politisch ungerecht behandelt fühlt? Ist angestaute Wut nicht auch eine Voraussetzung dafür, Regeln zu brechen. Wie verhält es sich mit unseren Gefühlen in diesen ganzen Abläufen?
PFISTER Affekte sind natürlich förderlich – in beide Richtungen. Verstoße ich gegen eine Regel, werden negative Emotionen aktiviert, wird Stress freigesetzt. Aber der umgekehrte Weg funktioniert auch. Wer wütend ist, für den ist das Brechen einer Regel ein gefundenes Fressen. Emotionen verhindern, die Konsequenzen des Handelns zu durchdenken.
Wie geht Ihre Forschung weiter – die gerade gesellschaftlich besonders aktuell scheint? Einige stellen die Regeln der Demokratie infrage.
PFISTER Regeln waren und sind ein wichtiger Bestandteil auf allen Ebenen unseres Zusammenlebens, dem wir bisher nicht genügend Raum eingeräumt haben, aber wir sollten so viel wie möglich über die ablaufenden Mechanismen wissen. Ich werde auf jeden Fall weiter forschen, weil mich dieses Thema sehr fasziniert und mit jedem neuen Befund, den wir hereinbekommen, wird es spannender und das Bild noch detaillierter – und offensichtlich kommt das Thema, weil es uns alle angeht, immer mehr in der Öffentlichkeit an und wir können gemeinsam noch viel lernen.
Bekommen Sie mehr Anfragen, über Ihre Arbeit zu sprechen?
PFISTER Absolut. Vor Corona bekamen wir nicht sehr viel Aufmerksamkeit. Während der Pandemie ist die Zahl der Anfragen dann durch die Decke gegangen. Aktuell erreichen uns viele Anfragen, so dass ich aus Zeitgründen leider einige absagen musste. Momentan wird ja über Verbote in verschiedenen Kontexten diskutiert, auch politisch. Ich glaube, viele Menschen machen sich dadurch viel bewusster, was es bedeutet, wenn andere oder sie selbst aggressiv reagieren oder Herzrasen spüren, wenn sie gegen Regeln verstoßen – hoffentlich. Das Thema geht jeden etwas an.