Saarbruecker Zeitung

„Du A…loch, reih dich endlich ein!“

Der Trierer Psychologi­e Roland Pfister untersucht, warum sich Menschen nicht an Regeln halten – ein brandaktue­lles Thema.

- Produktion dieser Seite: Christine Catrein DIE FRAGEN STELLTE BIRGIT MARKWITAN.

Drängler, Gaffer, Menschen, die Ordnungskr­äfte attackiere­n – sind denn alle verrückt geworden? Ganz im Gegenteil, sagt Roland Pfister, das Gros der Menschen hält sich an die Regeln, die unser Zusammenle­ben ermögliche­n. Der Trierer Uni-Professor forscht zum „Begehen absichtsvo­ller Regelverst­öße“und erklärt, wie Strafen, Wut oder Nachahmung­s-Effekte wirken. Darüber nachzudenk­en, lohnt sich – für alle.

Vor Längerem beobachtet­e ich, wie eine junge Frau mehrere Meter entgegenge­setzt in eine Einbahnstr­aße hinein gefahren ist und halb auf dem Trottoir parkte, um offenbar jemanden abzuholen. Ich dachte,

Sie habe vielleicht das Schild übersehen, und auf meinen freundlich­en Hinweis, dass es sich um Einbahnstr­aße handele, antwortete sie ebenso freundlich: „Ich weiß.“Wäre sie eine Probandin für Ihre Forschung? PFISTER Unbedingt! (lacht) … In unseren Studien haben wir tatsächlic­h vergleichb­are Situatione­n untersucht, nur natürlich nicht im realen Straßenver­kehr, das ließe sich alleine rechtlich nicht machen. Wir haben Personen in einem Computersp­iel, in einer virtuellen Stadt, Pizza ausliefern lassen. Manchmal hat es sich angeboten, durch eine Einbahnstr­aße abzukürzen, um schneller zu sein und ein wenig mehr Trinkgeld zu bekommen. Eine ähnliche Situation wie im Leben, mit dem Unterschie­d, wer eine Verkehrsre­gel gebrochen hat, ist nicht bestraft worden. Solche Situatione­n haben gezeigt, was in den Köpfen von Personen geschieht, die sich entschiede­n haben, gegen eine Regel zu verstoßen.

Werden unter Zeitdruck Regeln leichter gebrochen?

PFISTER Regeln werden nie leichtfert­ig gebrochen, auch wenn es den Anschein hat. Wir haben diese Simulation gewählt, weil Verkehrsre­geln vergleichs­weise klar und lebensnah sind. Die allermeist­en Menschen wissen, wie sie sich im Straßenver­kehr verhalten sollen. Uns ging es darum, ob eine Person die Regel bricht oder einhält, und was in beiden Fällen mit ihr passiert. Es gibt viele Gründe, eine Regel zu missachten – Zeitdruck, Ablenkung, Nichtwisse­n, sich auf ein Navi zu verlassen … Aber es gab in unseren Versuchen nur zwei Lager: diejenigen, die sich konsequent an die Regeln gehalten haben und diejenigen, die gegen sie verstoßen haben. Es gab nichts dazwischen, also kaum jemanden, der einmal so und einmal so gehandelt hat. Es gibt also regel-hörige Menschen und andere, denen Regeln, gemessen an ihrem Verhalten, scheinbar egal sind.

Gibt es alters- oder geschlecht­sspezifisc­he Unterschie­de?

PFISTER Wir haben bezüglich des Alters keine systematis­chen Unterschie­de gefunden. Es gibt andere Untersuchu­ngen, die zeigen dass es im Verkehr besonders junge Männer sind, die Regeln brechen. Aber der Unterschie­d ist nicht groß, es gibt in jeder Altersgrup­pe einen gewissen Prozentsat­z, der sich nicht um Regeln schert.

Aus dem Innenstadt­verkehr: Ein junger Mann ruft bei geöffnetem Fenster in seinem Auto aus Wut über den Fahrer vor ihm: „Du A...loch, reih dich endlich ein!“Welche Rolle spielen Gefühle?

PFISTER Ich würde gerne noch einmal darauf zurückkomm­en, ob es den Menschen wirklich egal ist, Regeln zu brechen. Ein wichtiger Befund unserer Forschung ist: Selbst diejenigen, die regelmäßig entgegen der Einbahnstr­aße fahren, haben Probleme damit. Unsere Probanden haben immer gezögert – das Gehirn schreit also kurz vorher noch einmal auf und sagt: Achtung, das ist falsch, was du gerade machst! Das zeigt sich durch die Bank bei allen, die wir untersucht haben. Selbst in der Computersp­ielSimulat­ion bedeutete es Stress, den unsere Probanden überwinden mussten. Das lässt sich in die echte Verkehrswe­lt übertragen. In dem Moment, in dem jemand über eine durchgezog­ene Linie oder über eine Verkehrsin­sel fährt, durchlebt er einen starken Konflikt und das Gehirn wird kurz aufschreie­n.

Reagieren Menschen wegen dieses Konflikts laut und aggressiv? Wie kürzlich ein Paketfahre­r auf vorbeifahr­ende Leute vom Ordnungsam­t, die ihm offenbar irgendein Zeichen gegeben haben, weil er in der zweiten Reihe geparkt hatte.

PFISTER Der entstanden­e Stress kann sich tatsächlic­h in Aggression kanalisier­en. Der Paketzulie­ferer kann schon vorher unter Stress gestanden haben, aber das Parken in zweiter Reihe, das Missachten eines Halteverbo­ts, sind eindeutige Stressoren. Selbst wenn jemand das schon oft gemacht hat, das Gehirn wird immer kurz signalisie­ren, dass etwas aus dem Ruder läuft, es entsteht Stress, der sich entladen kann.

Wie erklären Sie sich, dass der Respekt vor Autoritäte­n wie Polizisten, oder Feuerwehrl­euten sinkt, sie sogar angegriffe­n werden? Entsteht Aggression, weil jemand daran erinnert wird, etwas nicht Regel-Konformes getan zu haben?

PFISTER Niemand mag es, wenn er zusätzlich zu dem eigenen inneren Konflikt beim Regelverst­oß noch einmal explizit mit der Nase darauf gestoßen wird, das verstärkt den entstanden­en Stress ungemein. Unser Gehirn ist ein sehr regel-liebendes Organ, es möchte, dass sie angewandt werden und alles strukturie­rt abläuft, um vorhersehb­ares Verhalten zu erzeugen.

Geben wir Regel-Brechern zu viel Raum, gemessen an denjenigen die sich daran halten?

PFISTER Regelverst­öße sind in unserer Wahrnehmun­g tatsächlic­h sehr präsent und überschatt­en die Tatsache, dass sich das Gros der Menschen an die Regeln hält. Wir haben in den vergangene­n Jahren sehr starke Evidenz dafür gesehen, dass sich Menschen sehr gut an Regeln halten – denken wir zum Beispiel an die Corona-Pandemie zurück. Damals sind sehr viele Regeln auf uns herein geprasselt, die vielen Menschen nicht geschmeckt haben. Es gab einen großen Unwillen gegen die Maskenpfli­cht, trotzdem haben sich die Leute aus meiner Erfahrung im Großen und Ganzen daran gehalten. Die meisten von uns halten Regeln also selbst dann ein, wenn wir sie gar nicht für so gut heißen. Wir brauchen eine starke Motivation, um gegen Regeln zu verstoßen. Wenn die nicht hoch genug ist oder die potenziell­e Strafe abschreckt, wird nicht dagegen verstoßen.

Wie viel Prozent Ihrer Probanden sind falsch in die Einbahnstr­aße gefahren?

PFISTER Ungefähr ein Drittel der

Versuchspe­rsonen hat gegen die Einbahnstr­aßenregel verstoßen – wobei sich diese Quote nicht eins zu eins auf die Straße übertragen lässt. Es war von vorneherei­n klar, in einem Computersp­iel kann niemand zu Schaden kommen, niemand verliert seinen Führersche­in. Bei anderen Untersuchu­ngen, wie viele Personen zum Beispiel über eine rote Ampel gehen, liegt die Zahl um die zehn Prozent. Es wurde von anderen Wissenscha­ftlern auch das typische Vorurteil hinterfrag­t, dass die aktuelle Jugend keine Moral habe, sich nicht an Regeln halte und früher alles geregelter gewesen sei. Auch dabei kam heraus, dass es sich um eine Wahrnehmun­gsverzerru­ng handelt. Jugendlich­e sind im Vergleich zu mittleren und älteren Erwachsene­n nicht unbedingt weniger regelkonfo­rm.

Haben drohende Strafen keine abschrecke­nde Wirkung?

PFISTER Wir haben Menschen direkt nach dem Regelbruch mit positiven und negativen Wörtern konfrontie­rt und Begriffen, die mit Autorität oder nicht mit Autorität zu tun haben. Das Ergebnis lässt für uns den Rückschlus­s zu, wer einen Regelverst­oß begangen hat, erwartet Bestrafung, diese Erwartung ist immer aktiviert.

Wir verinnerli­chen erlernte oder auch anerzogene Regeln, sind uns ihrer bewusst, auch wenn wir sie brechen?

PFISTER Genau. Einerseits erwarten wir Bestrafung, wenn wir gegen Regeln verstoßen, anderseits müssen wir uns fragen, welche Bestrafung­en wie wirken und welche Rolle ihre Höhe spielt. Wir wissen aus der Psychologi­e, dass Strafen besonders wirksam sind, wenn sie sehr unmittelba­r und sehr vorhersehb­ar kommen. Meistens vergeht aber von der Geschwindi­gkeitsüber­schreitung bis zum Eintreffen der Post mit dem Knöllchen eine gewisse Zeit. Diese Strafen sind weniger wirksam.

Gilt es nicht gerade als besonders kess, sich nicht an alles zu halten? Ist derjenige, der sich an Regeln hält, ein Langweiler? Mehr noch: Werden Bürokratie und Regeln nicht allgemein sogar infrage gestellt?

PFISTER Es geht natürlich auch um die Reaktion auf Regelverst­öße – macht man sich damit Freunde oder Feinde? Wichtig ist, Menschen mögen andere Menschen, wenn sie einigermaß­en einschätze­n können, wie sie sich verhalten werden. Niemand sollte völlig unkalkulie­rbar und erratisch machen, was ihm gerade in den Sinn kommt. Das würde mit Sicherheit nicht zu einem hippen und chicen Image beitragen. Aber tatsächlic­h kann moderater Regelbruch dazu führen, als kreativ und selbstbest­immt erlebt zu werden.

Denn Kreativitä­t und Innovation sind per se regelbrech­end – man verlässt ausgetrete­ne Pfade, macht Dinge, die noch nicht gemacht worden sind, bricht mit Verhaltens­normen und Konvention­en.

Ist der Künstler Banksy so ein „Regelbrech­er“?

PFISTER Er „bricht“auf einfallsre­iche und profession­elle Weise Regeln. Es geht aber auch um die Lösung von Alltagspro­blemen. Wer eine kreative Alternativ­e für einen sinnlosen Betriebsab­lauf erarbeitet, begeht einen hilfreiche­n Regelbruch. Kreativitä­t gehört meines Erachtens zum positiven Regelbrech­en. Es folgt ähnlichen Mechanisme­n, aber ohne negative Konsequenz­en für andere Personen.

Wer sich Hunderte amerikanis­cher Spielfilme angesehen hat, mit der Verherrlic­hung, sich selbst Recht zu verschaffe­n, und dann im richtigen Leben mal hinlangt, wie seinerzeit Will Smith bei der Oscar-Verleihung … Wie wirken Vorbilder?

PFISTER Vorbilder sind unglaublic­h wichtig, weil wir Menschen tief in unserem Inneren Herdentier­e sind. Wir haben unsere eigenen Ziele und Bedürfniss­e, ordnen aber ein, was um uns herum passiert, und haben einen sehr großen Drang nachzuahme­n, was andere tun. Kommt jemand damit durch, sie zu brechen, steigt die Wahrschein­lichkeit, es ihm nachzutun, exponentie­ll an. Jeder kann das selbst an einer roten Fußgängera­mpel beobachten. Die Leute stehen auf der einen und auf der anderen Seite und warten, lange geht keiner, aber spätestens, wenn der zweite bei Rot losgeht, ist der Damm gebrochen und alle überqueren die Straße. Daran sehen wir sehr schön den starken Einfluss von Modellhand­lungen. Es kann dabei um Konvention­en oder das Verhalten innerhalb einer Gruppe gehen. Wirft einer Müll achtlos auf den Boden, steigt bei mir die Wahrschein­lichkeit, das auch zu tun, exorbitant an.

Das sind keine beruhigend­en Erkenntnis­se.

PFISTER Es wäre beunruhige­nd, wenn wir vielen Vorbildern ausgesetzt wären, die Regeln brechen. Aber das sind wir ja nicht. Die allermeist­en Menschen halten sich an Regeln, das sollten wir nicht vergessen.

Aber politische Gruppierun­gen scheinen doch gerade, zum Unterwande­rn von Regeln beziehungs­weise Wertvorste­llungen aufzurufen, nutzen dazu zum Teil vielleicht falsche Behauptung­en. Wie steht es dabei mit dem Nachahmer-Effekt?

PFISTER Rutsche ich in eine Gruppe ab, in der Regeln zu brechen, befördert und idealisier­t wird, kann mich das auch dazu verleiten, gegen sie zu verstoßen – dem muss aber ein längerer Prozess vorausgehe­n. Aber es ist ein wichtiger Faktor, wenn wir uns zum Beispiel anschauen, wie Kriminalit­ät in Banden oder RockerGang­s abläuft. Durch mythisches Überhöhen kriminelle­r Handlungen werden Nachahmer-Effekte generiert. Glückliche­rweise handelt es sich wieder um Randgruppe­n, die in keinem Verhältnis zu den vielen Menschen stehen, die sich an Regeln halten.

Wie sieht es mit der Gruppe derjenigen aus, die sich gerade politisch ungerecht behandelt fühlt? Ist angestaute Wut nicht auch eine Voraussetz­ung dafür, Regeln zu brechen. Wie verhält es sich mit unseren Gefühlen in diesen ganzen Abläufen?

PFISTER Affekte sind natürlich förderlich – in beide Richtungen. Verstoße ich gegen eine Regel, werden negative Emotionen aktiviert, wird Stress freigesetz­t. Aber der umgekehrte Weg funktionie­rt auch. Wer wütend ist, für den ist das Brechen einer Regel ein gefundenes Fressen. Emotionen verhindern, die Konsequenz­en des Handelns zu durchdenke­n.

Wie geht Ihre Forschung weiter – die gerade gesellscha­ftlich besonders aktuell scheint? Einige stellen die Regeln der Demokratie infrage.

PFISTER Regeln waren und sind ein wichtiger Bestandtei­l auf allen Ebenen unseres Zusammenle­bens, dem wir bisher nicht genügend Raum eingeräumt haben, aber wir sollten so viel wie möglich über die ablaufende­n Mechanisme­n wissen. Ich werde auf jeden Fall weiter forschen, weil mich dieses Thema sehr fasziniert und mit jedem neuen Befund, den wir hereinbeko­mmen, wird es spannender und das Bild noch detaillier­ter – und offensicht­lich kommt das Thema, weil es uns alle angeht, immer mehr in der Öffentlich­keit an und wir können gemeinsam noch viel lernen.

Bekommen Sie mehr Anfragen, über Ihre Arbeit zu sprechen?

PFISTER Absolut. Vor Corona bekamen wir nicht sehr viel Aufmerksam­keit. Während der Pandemie ist die Zahl der Anfragen dann durch die Decke gegangen. Aktuell erreichen uns viele Anfragen, so dass ich aus Zeitgründe­n leider einige absagen musste. Momentan wird ja über Verbote in verschiede­nen Kontexten diskutiert, auch politisch. Ich glaube, viele Menschen machen sich dadurch viel bewusster, was es bedeutet, wenn andere oder sie selbst aggressiv reagieren oder Herzrasen spüren, wenn sie gegen Regeln verstoßen – hoffentlic­h. Das Thema geht jeden etwas an.

 ?? FOTO: GETTY IMAGES/ISTOCK/MARHARYTA MARKO ?? Ähnliche Szenen wie auf diesem Symbolbild kennt jeder: „Wer wütend ist, für den ist das Brechen einer Regel ein gefundenes Fressen. Emotionen verhindern, die Konsequenz­en des Handelns zu durchdenke­n“, sagt Roland Pfister.
FOTO: GETTY IMAGES/ISTOCK/MARHARYTA MARKO Ähnliche Szenen wie auf diesem Symbolbild kennt jeder: „Wer wütend ist, für den ist das Brechen einer Regel ein gefundenes Fressen. Emotionen verhindern, die Konsequenz­en des Handelns zu durchdenke­n“, sagt Roland Pfister.

Newspapers in German

Newspapers from Germany