Meuterei gegen Weitsprung-Revolution
Die Diskussion über die Abschaffung des Weitsprung-Balkens spaltet die Leichtathletik-Welt. Auch Legende Carl Lewis reagiert mit Unverständnis.
(sid) Für den größten Weitspringer der Geschichte ist die angedachte Revolution nichts weiter als eine Schnapsidee. „Vielleicht sollte man mit Aprilscherzen bis zum 1. April warten“, sagt Carl Lewis zu den Überlegungen des Leichtathletik-Weltverbandes, den seit der Antike bewährten Absprungbalken durch eine Absprungzone zu ersetzen: „Beim Basketball macht man ja auch nicht den Korb größer, wenn viele Leute daneben werfen.“
Auf den Weitsprung übertragen haben die Weltverbands-Granden um Präsident Sebastian Coe aber genau dies vor. „Bei den Weltmeisterschaften 2023 waren rund ein Drittel der Sprünge ungültig“, rechnete der Brite am Rande der Hallen-WM in Glasgow am vergangenen Wochenende vor, das sei doch langweilig für das Publikum. „Unser Sport ist 150 Jahre alt. Es gibt unantastbare Elemente, die wir schützen wollen. Aber es gibt auch Bereiche, welche die Zuschauer kalt lassen“, sagte Coe mit Blick auf den Weitsprung.
Der Vorschlag deshalb: Der Balken, der nicht übertreten werden darf und von dessen Rand die Sprungweite gemessen wird, soll einem Bereich weichen, in dem die Athleten und Athletinnen frei abspringen dürfen. Die effektive Weite wird gemessen, es gibt keine ungültigen Versuche, die Zuschauer murren nicht. Gut, oder?
Das sieht Miltiadis Tentoglou sehr anders. „Wenn das passiert, werde ich mit dem Weitsprung aufhören“, drohte der griechische Olympiasieger nach erfolgreicher Titelverteidigung in Glasgow: „Das würde dem
Weitsprung die Notwendigkeit von Fähigkeiten entziehen.“Aus dem faszinierenden Zusammenspiel von Geschwindigkeit und Präzision falle letztere heraus. Fehle der Balken, fehle der Anspruch, fehle der Reiz. Und der Weitsprung, seit 1896 neuolympisch, sei ruiniert. „Wer solche Entscheidungen treffen will, hatte nie näher mit dem Sport zu tun“, mault Serbiens Weltmeisterin Ivana Spanovic. Etwas diplomatischer äußert sich die deutsche Olympiasiegerin Malaika Mihambo. „Ich glaube, es ist Geschmackssache. Beides hat seine Berechtigung, es setzt andere Schwerpunkte.“
Doch was würde sich ändern?
Wenn man sich nur die Ergebnislisten anschaut: wenig. Tentoglou und Spanovic hätten auch bei effektiver Messung WM-Gold geholt. Der Weltrekord von Mike Powell würde statt bei 8,95 bei 8,98 Meter stehen – drei Zentimeter hatte der US-Amerikaner beim legendären WM-Duell 1991 mit Lewis in Tokio verschenkt. Dennoch wäre der Weitsprung künftig eine andere Disziplin: Wer nicht mehr auf das Brett schauen muss, läuft ganz anders an. „Der Weitsprung ist dann die einfachste Disziplin“, sagt Tentoglou.
Was den Griechen besonders auf die Palme bringt, ist die Entscheidungsfindung. „Wir werden nie gefragt“, schimpfte er: „Ich bin Olympiasieger und Weltmeister, aber meine Meinung interessiert niemanden.“Auch für den viermaligen Weitsprung-Olympiasieger Lewis ist dies das Kernproblem. „Die Athleten würden dem nie zustimmen“, sagt er. Wenn man den Weitsprung wieder attraktiver machen wolle, gebe es eine einfache Lösung. „Alle Menschen, die je über 8,80 Meter gesprungen sind, leben noch. Vielleicht sollte man die mal fragen, wie sie das gemacht haben.“