Pistorius schaut norwegischen Wehrpflichtigen über die Schulter
Verteidigungsminister Boris Pistorius stoppt auf seiner Skandinavien-Reise in Norwegen und kommt der russischen Landgrenze sehr nahe.
Vielleicht ist das auch eine Antwort auf den Lauschangriff aus Moskau. Noch knapp 2000 Meter, dann ist Boris Pistorius in Russland. Aber der deutsche Verteidigungsminister wird diese 2000Meter nicht mehr fahren – und auch nicht gehen. Hier oben, ganz im Norden von Norwegen, Nato-Terrain, herrscht eine fast unheimliche Stille angesichts der Nähe zum großen Nachbarn im Osten. Stille, obwohl eigentlich Sturm ist in Europa. Krieg. Hier das Bündnis, dort der Aggressor Russland. Jeder Quadratmeter des Bündnisgebietes würde gegen eine mögliche Aggression oder gar einen Angriff aus Russland verteidigt, haben Pistorius, Bundeskanzler Olaf
Scholz und zahlreiche westliche Politiker immer wieder beteuert. Die Smartphones sind bei Pistorius und Begleitung jetzt aus, IPads und Laptops ebenfalls. Bloß kein nächster Abhörskandal – noch dazu bei einer Reise des deutschen Verteidigungsministers. Dass der Feind mithören kann, hat Pistorius zuletzt im TaurusAbhörskandal schmerzhaft erfahren.
Aber Pistorius ist kein Mann dünner Nerven und überhasteter Reaktionen. Den Gefallen, hohe Generäle bis hin zum Inspekteur der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, Putins Propagandakrieg zu opfern, wollte der SPD-Politiker dem Kreml-Diktator nicht tun. Dann lieber sechs Stunden kein Handyempfang. Sicherheit für das eigene Smartphone kann in diesem Fall auch Sicherheit für das Bündnis bedeuten. Der deutsche Verteidigungsminister taucht in Norwegen vor einem denkbaren russischen Abhörmanöver ab.
Pistorius ist an diesem Mittag während seiner viertägigen Skandinavien-Reise gelandet in Kirkenes, knapp 4000 Einwohner, 400Kilometer nördlich des Polarkreises. Die Straßenschilder dort sind zweisprachig: norwegisch und russisch. Im Kalten
Krieg hatte die Region um Kirkenes – neben der Grenze der Türkei mit der Sowjetunion – die einzige unmittelbare Landgrenze der Nato zur damaligen Sowjetunion. Nun steht das Bündnis dort wieder einem Staat gegenüber, dessen Regime das Staatsgebiet der Ukraine rauben will. Der kleine tägliche Grenzverkehr, der vor dem Ukrainekrieg für Menschen aus Kirkenes wie für ihre russischen Nachbarn normal war, ist inzwischen eingestellt, es sei denn, jemand käme mit einem Visum. Den Grenzübergang hat Norwegen kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges im Frühjahr 2022 geschlossen. Das kleine Kirkenes ist eine Grenzstadt zwischen den Welten geworden. Pistorius steht an diesem Nachmittag in der Kälte des Grenzpostens
Björnsundhöyden und blickt auf die andere Seite: auf das Terrain der Russischen Föderation, auf einen Zipfel des Riesenreiches von Wladimir Putin. Hier die gelben Grenzpfosten der Norweger, dort die grün-roten Grenzpfähle der Russen.
Die knapp 200 Kilometer lange Grenze zu Russland bewachen in Norwegen – aufgepasst – fast ausschließlich Wehrpflichtige, geführt von wenigen Offizieren. Wie bitte? „Wir vertrauen ihnen. Sie sind sehr gut ausgebildet. Sie sind hoch motiviert“, sagt einer der Norweger. Die jungen Leute stehen nach nur sechs Monaten Ausbildung gewissermaßen Auge in Auge mit einem mächtigen Gegner, der zum Feind geworden ist. Die russischen Grenztruppen auf der anderen Seite des Flusses Pasvik, der an dieser Stelle Norwegen von Russland trennt, würden seit Kriegsbeginn nur Bewegungen in eine Richtung beobachten, erzählt ein Norweger: Bewegungen aus Russland heraus.
Auf russischer Seite gebe es eine Pufferzone und einen Zaun. Niemand soll Russland ohne Weiteres in Richtung Norwegen verlassen können. Pistorius ist nach dem Wehrpflicht-Modell in Schweden, das er tags zuvor in Stockholm besichtigt hat, auch von der norwegischen Wehrpflicht-Variante angetan. Der Minister ist beeindruckt nach dem Besuch auf dem Wachturm in Björnsundhöyden. Er will die Debatte über eine Wehrpflicht in Deutschland unbedingt anschieben – nach PistoriusArt: einfach machen.