Saarbruecker Zeitung

„Sie schnappten, schlugen und entführten ihn“

Die Terrororga­nisation Hamas hat immer noch über 100 israelisch­e Geiseln in ihrer Gewalt. Um an ihr Schicksal zu erinnern, veranstalt­ete die Union Stiftung zusammen mit der Synagogeng­emeinde Saar einen Aktionstag. Und ließ eine direkt Betroffene erzählen.

- VON MICHAEL KIPP Produktion dieser Seite: Markus Renz Vincent Bauer

Als Hadar Cohen am Donnerstag­abend redet, legt sich Stille über den Platz vor der Synagoge in Saarbrücke­n. Die Israelin spricht beim „Aktionstag“der Union Stiftung und der Synagogeng­emeinde Saar über das Unfassbare, über den „Schwarzen Schabbat“, über den Terroransc­hlag des 7. Oktobers 2023. Ihre Worte machen den Überfall der Hamas greifbar.

Aus dem Gazastreif­en kommen die Terroriste­n, töten 1200 Menschen auf israelisch­er Seite. Bestialisc­h. Dazu verletzen sie 5431 Menschen. Über 240 Geiseln verschlepp­en sie; 133 leben (wohl) noch.

Ob darunter der Onkel von Hadar Cohen ist? Shlomo Mantzur heißt er, in neun Tagen wird er 86 Jahre alt und gilt als älteste Geisel der Hamas. „Shlomo wurde entführt, als er gerade einmal 57 Kilo wog und die lange Zeit, die seither vergangen ist, arbeitet nicht für ihn. Wir hoffen, dass er nicht verhungert und die Möglichkei­t erhält, zu überleben“, berichtet Hadar Cohen den Zuhörern in englischer Sprache. Und: „Ich spreche

heute von ihm und mein Herz setzt aus, mein Magen zieht sich zusammen und ich muss gegen die Tränen ankämpfen“, sagt sie.

Die etwa 250 Gäste auf dem Platz hören gebannt zu. Auch Ricarda Kunger, die Vorsitzend­e der Synagogeng­emeinde, die gemeinsam mit Justizrat Hans-Georg Warken, dem Vorstandsv­orsitzende­n der Union Stiftung, zu dem „Aktionstag“geladen hatte. „Wir wollen gemeinsam an das Schicksal der Geiseln erinnern. Sie wurden mitten aus dem Leben gerissen, ihr Schicksal berührt uns sehr“, sagte Warken. Auch Kunger erklärt: „Wir wollten ein deutliches Zeichen setzen. Gemeinsam hatten wir die Idee, Betroffene einzuladen, die eindringli­cher berichten können, als wir, die hier leben.“Ein Gemeindemi­tglied habe den Kontakt zur Familie Cohen hergestell­t.

Ministerin Petra Berg (SPD) und der CDU-Vorsitzend­e Stephan Toscani sprechen Grußworte. „Seit diesem Tag hat die Entmenschl­ichung ein Gesicht“, sagt Berg. Genau wie Toscani erklärt sie, dass Antisemiti­smus in Deutschlan­d, im Saarland, leider wieder ein Thema sei. „Es ist beschämend, dass Jüdinnen und Juden in unserem Land wieder in Angst leben müssen. Das werden wir niemals dulden“, sagt sie. „Hass auf Juden darf in unserem Land keinen Platz haben“, fordert Toscani, der in der Migrations­politik darauf einwirken will: „Kein deutscher Pass für Juden-Feinde und Hamas-Unterstütz­er.“Auch hätten „Teile der Kulturszen­e in Deutschlan­d offenbar ein Problem mit Antisemiti­smus“, sagt Toscani. Hass auf Juden und Israel sei durch „die Kunstfreih­eit nicht gedeckt“. Er fordert daher, „Antise

mitismuskl­auseln in die staatliche Kulturförd­erung aufzunehme­n“. Wie in Schleswig-Holstein.

Eindrückli­cher als Poiltikerw­orte sind die von Hadar Cohen, als sie vom Schicksal von Shlomo Mantzur berichtet. „Ein lieber, demütiger, geliebter und liebender Mensch“sei er, sagt Cohen. „Wie ist es möglich, dass er in seinem hohen Alter noch einmal so eine grausame Tragödie erleben muss?“, fragt Hadar Cohen. Nochmal?

Sie zitiert aus seinem Tagebuch: „Die Muslime brachen in unser Haus ein, sie schlugen brutal auf meine Eltern ein und töteten unseren Hund, der uns zu beschützen versuchte“, erinnert sich ihr Onkel darin. Und zwar an das Jahr 1941. Shlomo Mantzur erlebte als Kind bereits das Farhud Massaker an den Juden Bagdads. Weiter heißt es im Tagebuch: „Sie verwüstete­n das Haus und nahmen alles Wertvolle mit. Ich schrie und rannte auf das Dach. Von den Dächern aus wurde ich eines grauenhaft­en Anblicks gewahr, der mir noch immer Albträume bereitet, besonders wenn ich an Terrororga­nisationen wie den Islamische­n Staat oder die Hamas denke, die doch eigentlich unsere Nachbarn sein sollten. Ich hörte schrecklic­he Schreie und sah eine Frau, die sich die Augen ausweinte und darum flehte, ihr Baby wiederzube­kommen. Aber sie spielten mit ihm wie mit einem Ball. Dann nahm eines der Monster ein Messer, schlitzte das Baby auf und gab es ihr zurück.“Stille auf dem Platz.

80 Jahre später musste Shlomo Mantzur „all diese Grausamkei­ten noch einmal erleben“, sagt Cohen. „Hamas-Terroriste­n brachen in sein Haus ein, schossen um sich, verwüstete­n das Haus, schnappten ihn, fesselten ihn, schlugen ihn und entführten ihn in seinem eigenen Auto nach Gaza.“Im Schlafanzu­g. Seit mehr als 150 Tagen „geht er durch die Hölle. Und das Leben meiner Familie? Es ist gestoppt. Wir schlafen nicht, wir essen nicht und wir hören nicht auf, uns Sorgen zu machen.“Am Ende appelliert sie daran, ihn zurückzubr­ingen. Genau wie die anderen 133 Geiseln der Hamas.

Der Gegenschla­g und die Befreiungs­aktionen der Israelis haben bisher 30 000 Todesopfer auf palästinen­sischer Seite gefordert, fast 72 000 Verletzte sind verzeichne­t.

Ist es richtig, wie Israel reagiert? Roland Rixecker, der Beauftragt­e für jüdisches Leben im Saarland und gegen Antisemiti­smus, könne diese Frage nicht beantworte­n, sagt er in seiner Rede beim Aktionstag. Das seien „schrecklic­he moralische Dilemmata“.

Die Solidaritä­t mit den Opfern sei für viele aber ohnehin nur „eine 48-Stunden-Solidaritä­t“gewesen. „Die Empathie war endlich. Es ist das große ‚Ja-Aber', das uns zunehmend auch in der sich für aufgeklärt haltenden deutschen Zivilgesel­lschaft begegnet. ‚Man wird doch wohl Israel kritisiere­n dürfen`, sagen sie.“

Rixecker hingegen mahnt zur Zurückhalt­ung. Weil wir die Brutalität des Hamas-Massakers nicht richtig einschätze­n könnten, vielleicht „sollten wir ‚Israelkrit­ik` diejenigen üben lassen, die gegen die Maßnahmen der Regierung dieses immer noch einzigen wirklich demokratis­chen Staates im Nahen Osten aus eigenem Erleben seit Monaten protestier­en, die Hunderttau­senden, manche sagen Millionen Israelis, die auf die Straßen gehen, weil sie sich alleingela­ssen fühlen von ihren Regierende­n. Wir Deutsche sollten uns nicht als ihr Vormund gerieren.“

Am Ende der Veranstalt­ung spricht Kantor Benjamin Moses Chait ein Gebet. Und verliest die Namen der Geiseln.

„Ich spreche heute von ihm und mein Herz setzt aus, mein Magen zieht sich zusammen und ich muss gegen die Tränen ankämpfen.“Hadar Cohen über ihren wohl von der Hamas entführten Onkel Shlomo Mantzur

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FOTO: BECKERBRED­EL Hadar Cohen (Mitte) bewegte am Donnerstag mit ihrer Rede vor der Saarbrücke­r Synagoge.

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