„Sie schnappten, schlugen und entführten ihn“
Die Terrororganisation Hamas hat immer noch über 100 israelische Geiseln in ihrer Gewalt. Um an ihr Schicksal zu erinnern, veranstaltete die Union Stiftung zusammen mit der Synagogengemeinde Saar einen Aktionstag. Und ließ eine direkt Betroffene erzählen.
Als Hadar Cohen am Donnerstagabend redet, legt sich Stille über den Platz vor der Synagoge in Saarbrücken. Die Israelin spricht beim „Aktionstag“der Union Stiftung und der Synagogengemeinde Saar über das Unfassbare, über den „Schwarzen Schabbat“, über den Terroranschlag des 7. Oktobers 2023. Ihre Worte machen den Überfall der Hamas greifbar.
Aus dem Gazastreifen kommen die Terroristen, töten 1200 Menschen auf israelischer Seite. Bestialisch. Dazu verletzen sie 5431 Menschen. Über 240 Geiseln verschleppen sie; 133 leben (wohl) noch.
Ob darunter der Onkel von Hadar Cohen ist? Shlomo Mantzur heißt er, in neun Tagen wird er 86 Jahre alt und gilt als älteste Geisel der Hamas. „Shlomo wurde entführt, als er gerade einmal 57 Kilo wog und die lange Zeit, die seither vergangen ist, arbeitet nicht für ihn. Wir hoffen, dass er nicht verhungert und die Möglichkeit erhält, zu überleben“, berichtet Hadar Cohen den Zuhörern in englischer Sprache. Und: „Ich spreche
heute von ihm und mein Herz setzt aus, mein Magen zieht sich zusammen und ich muss gegen die Tränen ankämpfen“, sagt sie.
Die etwa 250 Gäste auf dem Platz hören gebannt zu. Auch Ricarda Kunger, die Vorsitzende der Synagogengemeinde, die gemeinsam mit Justizrat Hans-Georg Warken, dem Vorstandsvorsitzenden der Union Stiftung, zu dem „Aktionstag“geladen hatte. „Wir wollen gemeinsam an das Schicksal der Geiseln erinnern. Sie wurden mitten aus dem Leben gerissen, ihr Schicksal berührt uns sehr“, sagte Warken. Auch Kunger erklärt: „Wir wollten ein deutliches Zeichen setzen. Gemeinsam hatten wir die Idee, Betroffene einzuladen, die eindringlicher berichten können, als wir, die hier leben.“Ein Gemeindemitglied habe den Kontakt zur Familie Cohen hergestellt.
Ministerin Petra Berg (SPD) und der CDU-Vorsitzende Stephan Toscani sprechen Grußworte. „Seit diesem Tag hat die Entmenschlichung ein Gesicht“, sagt Berg. Genau wie Toscani erklärt sie, dass Antisemitismus in Deutschland, im Saarland, leider wieder ein Thema sei. „Es ist beschämend, dass Jüdinnen und Juden in unserem Land wieder in Angst leben müssen. Das werden wir niemals dulden“, sagt sie. „Hass auf Juden darf in unserem Land keinen Platz haben“, fordert Toscani, der in der Migrationspolitik darauf einwirken will: „Kein deutscher Pass für Juden-Feinde und Hamas-Unterstützer.“Auch hätten „Teile der Kulturszene in Deutschland offenbar ein Problem mit Antisemitismus“, sagt Toscani. Hass auf Juden und Israel sei durch „die Kunstfreiheit nicht gedeckt“. Er fordert daher, „Antise
mitismusklauseln in die staatliche Kulturförderung aufzunehmen“. Wie in Schleswig-Holstein.
Eindrücklicher als Poiltikerworte sind die von Hadar Cohen, als sie vom Schicksal von Shlomo Mantzur berichtet. „Ein lieber, demütiger, geliebter und liebender Mensch“sei er, sagt Cohen. „Wie ist es möglich, dass er in seinem hohen Alter noch einmal so eine grausame Tragödie erleben muss?“, fragt Hadar Cohen. Nochmal?
Sie zitiert aus seinem Tagebuch: „Die Muslime brachen in unser Haus ein, sie schlugen brutal auf meine Eltern ein und töteten unseren Hund, der uns zu beschützen versuchte“, erinnert sich ihr Onkel darin. Und zwar an das Jahr 1941. Shlomo Mantzur erlebte als Kind bereits das Farhud Massaker an den Juden Bagdads. Weiter heißt es im Tagebuch: „Sie verwüsteten das Haus und nahmen alles Wertvolle mit. Ich schrie und rannte auf das Dach. Von den Dächern aus wurde ich eines grauenhaften Anblicks gewahr, der mir noch immer Albträume bereitet, besonders wenn ich an Terrororganisationen wie den Islamischen Staat oder die Hamas denke, die doch eigentlich unsere Nachbarn sein sollten. Ich hörte schreckliche Schreie und sah eine Frau, die sich die Augen ausweinte und darum flehte, ihr Baby wiederzubekommen. Aber sie spielten mit ihm wie mit einem Ball. Dann nahm eines der Monster ein Messer, schlitzte das Baby auf und gab es ihr zurück.“Stille auf dem Platz.
80 Jahre später musste Shlomo Mantzur „all diese Grausamkeiten noch einmal erleben“, sagt Cohen. „Hamas-Terroristen brachen in sein Haus ein, schossen um sich, verwüsteten das Haus, schnappten ihn, fesselten ihn, schlugen ihn und entführten ihn in seinem eigenen Auto nach Gaza.“Im Schlafanzug. Seit mehr als 150 Tagen „geht er durch die Hölle. Und das Leben meiner Familie? Es ist gestoppt. Wir schlafen nicht, wir essen nicht und wir hören nicht auf, uns Sorgen zu machen.“Am Ende appelliert sie daran, ihn zurückzubringen. Genau wie die anderen 133 Geiseln der Hamas.
Der Gegenschlag und die Befreiungsaktionen der Israelis haben bisher 30 000 Todesopfer auf palästinensischer Seite gefordert, fast 72 000 Verletzte sind verzeichnet.
Ist es richtig, wie Israel reagiert? Roland Rixecker, der Beauftragte für jüdisches Leben im Saarland und gegen Antisemitismus, könne diese Frage nicht beantworten, sagt er in seiner Rede beim Aktionstag. Das seien „schreckliche moralische Dilemmata“.
Die Solidarität mit den Opfern sei für viele aber ohnehin nur „eine 48-Stunden-Solidarität“gewesen. „Die Empathie war endlich. Es ist das große ‚Ja-Aber', das uns zunehmend auch in der sich für aufgeklärt haltenden deutschen Zivilgesellschaft begegnet. ‚Man wird doch wohl Israel kritisieren dürfen`, sagen sie.“
Rixecker hingegen mahnt zur Zurückhaltung. Weil wir die Brutalität des Hamas-Massakers nicht richtig einschätzen könnten, vielleicht „sollten wir ‚Israelkritik` diejenigen üben lassen, die gegen die Maßnahmen der Regierung dieses immer noch einzigen wirklich demokratischen Staates im Nahen Osten aus eigenem Erleben seit Monaten protestieren, die Hunderttausenden, manche sagen Millionen Israelis, die auf die Straßen gehen, weil sie sich alleingelassen fühlen von ihren Regierenden. Wir Deutsche sollten uns nicht als ihr Vormund gerieren.“
Am Ende der Veranstaltung spricht Kantor Benjamin Moses Chait ein Gebet. Und verliest die Namen der Geiseln.
„Ich spreche heute von ihm und mein Herz setzt aus, mein Magen zieht sich zusammen und ich muss gegen die Tränen ankämpfen.“Hadar Cohen über ihren wohl von der Hamas entführten Onkel Shlomo Mantzur