Mit Fingern auf Papier reisen
Ein lange nicht vernommenes Wort trifft meine Gehörgänge. Es zwingt mich unwillkürlich zum Lauschen. „Haben sie Landkarten?“, fragt eine Dame gehobenen Alters in der Schreibwarenabteilung eines Kaufhauses. Die angesprochenen Verkäuferinnen schweigen kurz, schauen sie sich an, Verblüffung im Antlitz. Als sei nach etwas Ungehörigem oder zumindest in Kaufhäusern nie zu erstehender Ware gefragt worden. Nach einer Planierraupe etwa, einem Wunschbrunnen, einer Ladung Eselsmist.
Die erste, die die Fassung wiedergewinnt, verneint: „Ne, hamma nich.“Drauf wird kurz und bündig eine ortsbekannte Buchhandlung empfohlen. Eine Antwort war von der Dame für mich nicht mehr vernehmbar. Wie sie sich gefühlt haben muss? Ich kann's mir vorstellen. Ein bisschen beschämt, weil offenbar aus der Zeit gefallen. Ein bisschen verwirrt, da ihr das zuvor nicht so bewusst war. Ein bisschen irritiert. Sollte sie es wagen, selbige Frage wirklich nochmal zu stellen? Und
Wer heute im Kaufhaus oder in der Buchhandlung nach einer Landkarte fragt, wird ungläubig angeschaut. Dabei war es doch so schön, mit dem Finger den Straßen zu folgen und selbst den Weg zum Ziel zu finden, statt ein modernes Navigationsgerät zu benutzen.
Und das Falten der Karte war eine echte Herausforderung! sei es in einer Buchhandlung…? „Werden Landkarten überhaupt noch produziert?“, ging mir durch den Kopf. In welch infinitesimalem Bereich sich ihr Verkaufserfolg wohl niederschlägt? Ich meine keine Stadtpläne, sondern diese Dinger, die nach einem spitzfindigen, mathematisch fundierten Verfahren zusammengefaltet waren, nach dem sie sich später nie mehr zurückfalten ließen. Die man klugerweise vorm Einsteigen ins Auto auf den benötigten Ausschnitt origamimäßig hinknickte, da verspätetes Falten die Sicht des Fahrers bedrohlich behinderte. Und man sich selbst unauffindbar im Papiergewühl verhedderte.
Ach, so schön waren diese Landkarten! Verheißungsvoll wanden sich die Straßen. Man folgte ihnen mit den Fingern, eilte auf dem
Weg voraus. Und war plötzlich da, im Belchenthal, in Murbach, am Grand Ballon. Selber gefunden. Welch Abenteuer!