Jubel für das originelle Aschenputtel-Ballett
Beim Tanzfestival Saar gab es am Freitag und Samstag zweimal volles Haus: das Badische Staatsballett glänzte, und auch ein Ensemble aus Genf überzeugte.
Was heutzutage von Handlungsballett zu halten ist, darüber gehen die Ansichten bei Tanzfans stark auseinander. Für die einen ist es, besonders wenn es klassisch daherkommt, der Inbegriff von Ballettkunst. Für die anderen ist es völlig überholt, abendfüllende lineare Geschichten zu erzählen und dabei womöglich noch mit Pantomime auszudrücken, was man mit Sprache viel effektiver sagen könnte.
Auch auf der Staatstheaterbühne sind Handlungsballette, sieht man vom Nussknacker ab, rar geworden. War es nun aus Sehnsucht nach dieser Art Rarität oder aus Neugier, ob es doch funktioniert – beim „Aschenputtel-Ballett“, das das Tanzfestival Saar am Freitag eingeladen hatte, war das große Haus voll. Bridget Breiners Choreografie eilte aber auch ein sehr guter Ruf voraus. Hatte die Chefin des Karlsruher Badischen Staatsballetts mit ihrer besonderen Version vom armen Stiefkind unter der Knute der Stiefmutter doch den höchsten deutschen Theaterpreis, den Faust, errungen. Und wann sieht man schon mal ein 23-köpfiges Ensemble auf der Bühne?
Breiners Zugriff auf das Grimmsche Märchen ist erfrischend originell. Zum einen verlegt die Amerikanerin die Geschichte ins Milieu der amerikanischen Steinkohle-Bergarbeiter der 40er/50er Jahre, zum anderen will sie die weiblichen Hauptfiguren vom Gut-Böse-Schema befreien und mehr psychologische Tiefe und Verständnis angedeihen lassen, indem sie statt Aschenputtel alias Clara die große Stiefschwester Livia in den Mittelpunkt rückt. So dürfen hier coole rußverschmierte „Coal-Miner“-Jungs zuerst die Bühne stürmen, sie tanzen modern, als wär's eine West-Side-Story. Clara, der Rita Duclos etwas Koboldisches gibt, ist ihr Küken, ihr Vater der Vorarbeiter. Herrlich ruck-zuck wird erzählt, wie die Schwestern Livia und Sophia und ihre Mutter den Familienernährer verlieren. Mit einem überzeugenden Verführungs-Pasde-deux angelt sich die attraktive
Mutter (Alba Nadal) Aschenputtels Vater. In vielen ausdrucksstarken Zweier- und Dreier-Tänzen werden die Beziehungen zwischen den Frauenfiguren ausgeleuchtet.
Die ehrgeizige (Stief-)Mutter „wächst“hünenhaft auf Spitze, um dominant zu sein. Aschenputtel, auch das erstaunlich, ist hier nicht das geknechtete Kind am Aschenkasten, sondern ein freier Vogel. Weshalb die Stiefschwestern sie bewundern. Mit viel zugespitzter Ironie bedacht wird der Prinz und seine Welt: Der Bergwerkdirektor-Sohn
namens J.R. Prince (sehr gut: Baris Comak) ist ein Macho, dem sich die jungen Frauen an den Hals werfen. Kaum entbrennt er für Aschenputtel, ist er wie ausgewechselt.
Sehr schön setzt Breiner die Tanzstile gegeneinander: Sind die Figuren wie etwa beim Ball auf Bella Figura bedacht, lässt sie ihr Ensemble klassisch tanzen, dazu klingen dann Walzer oder Polka von Johann Strauss` Sohn vom Band. Musikalisch werden die verschiedensten Stile bis hin zu alten Arbeitersongs harmonisch zusammengeführt. Fal
len die Masken oder wird es innig, tanzt man moderner, oft zu melancholisch zeitgenössischen Akkordeonklängen, live gespielt von Marko Kassel. Höhepunkte sind ein Tanz zwischen Vater und Tochter Clara und der Liebestanz zwischen Clara und dem Prinzen. Auch Livia, der die leichtfüßige Francesca Berruto einen passend tragischen Ausdruck gibt, hat hier ihre gefühlvollen Pasde-Deux: Als Bergarbeiter Mitch wird Ledian Soto ihr zweimal zu einer (seltsam) selbstlosen Stütze, die ihr hilft, sich von der Fremd
bestimmung durch ihre Mutter zu befreien.
Zwar gehört, nachdem Aschenputtel mit dem Prinzen samt Entourage verschwindet, ihr auch der letzte (Solo-)Tanz. Doch der Aufstieg Livias zur Hauptfigur des Abends gelingt Breiner nicht ganz. Die Aschenputtel-Figur bleibt einfach zu stark und Interpretin Rita Duclos zu charismatisch. Stark ist auch Jürgen Franz Kirners Bühnenbild, das mit verblüffend wandelbaren Waschkaue-Drahtkörben herrliches Bergbau-Ambiente selbst auf dem Prinzen-Ball kreiert. Am Ende erhebt sich das Publikum zum langanhaltenden Jubel. Von einzelnen Zuschauern und Zuschauerinnen konnte man danach im Foyer jedoch auch kritische Worte vernehmen.
Die sah man dann am Samstagabend in der Alten Feuerwache strahlen. Definitiv zeitgenössisch ging es bei „Dive“zu, der Choreografie von Nachwuchschoreograf Édouard Houé für seine Genfer Beaver Dam Company. Die drei Frauen und vier Männer mit teils tänzeruntypischen Figuren scheinen sich erst mal warmtanzen zu müssen. Nach und nach eintrudelnd nehmen sie in einer Reihe auf dem Boden Platz und unterhalten mit verspielten, minimalistischen Armgesten. Verstärkte Wirkung erhält dies, weil sich alles im Boden wie auf einer nachtschwarzen Wasserfläche spiegelt und so verdoppelt. Unmerklich gerät der Auftritt in Fahrt. Selten sieht man Tänzer so vergnüglich lächelnd sich verausgaben. Wie sie alles loslassen, sich nachmachen, wieder zusammenraufen, das wirkt improvisiert, was es nicht ist. Unwiderstehlich auch Jonathan Soucasse elektronisch veränderte Body-Percussion, zu der man beinahe selbst auf die Bühne springen möchte und wozu sie uns mit den Händen, witzig in die Luft stupsend, animieren. In Teil zwei, nun in schimmernder Kleidung, bauen sie transartige Gruppenbilder wieder auf einer Linie und dann flach auf dem Boden. Römische Orgien hat man sich fast so vorgestellt, nur nicht so lustvoll.
Choreografin Bridget Breiner verlegt das Grimm’sche Märchen in das Milieu der amerikanischen Kohle-Bergarbeiter.