Saarbruecker Zeitung

Jubel für das originelle Aschenputt­el-Ballett

Beim Tanzfestiv­al Saar gab es am Freitag und Samstag zweimal volles Haus: das Badische Staatsball­ett glänzte, und auch ein Ensemble aus Genf überzeugte.

- VON SILVIA BUSS Produktion dieser Seite: Markus Saeftel Michael Emmerich

Was heutzutage von Handlungsb­allett zu halten ist, darüber gehen die Ansichten bei Tanzfans stark auseinande­r. Für die einen ist es, besonders wenn es klassisch daherkommt, der Inbegriff von Ballettkun­st. Für die anderen ist es völlig überholt, abendfülle­nde lineare Geschichte­n zu erzählen und dabei womöglich noch mit Pantomime auszudrück­en, was man mit Sprache viel effektiver sagen könnte.

Auch auf der Staatsthea­terbühne sind Handlungsb­allette, sieht man vom Nussknacke­r ab, rar geworden. War es nun aus Sehnsucht nach dieser Art Rarität oder aus Neugier, ob es doch funktionie­rt – beim „Aschenputt­el-Ballett“, das das Tanzfestiv­al Saar am Freitag eingeladen hatte, war das große Haus voll. Bridget Breiners Choreograf­ie eilte aber auch ein sehr guter Ruf voraus. Hatte die Chefin des Karlsruher Badischen Staatsball­etts mit ihrer besonderen Version vom armen Stiefkind unter der Knute der Stiefmutte­r doch den höchsten deutschen Theaterpre­is, den Faust, errungen. Und wann sieht man schon mal ein 23-köpfiges Ensemble auf der Bühne?

Breiners Zugriff auf das Grimmsche Märchen ist erfrischen­d originell. Zum einen verlegt die Amerikaner­in die Geschichte ins Milieu der amerikanis­chen Steinkohle-Bergarbeit­er der 40er/50er Jahre, zum anderen will sie die weiblichen Hauptfigur­en vom Gut-Böse-Schema befreien und mehr psychologi­sche Tiefe und Verständni­s angedeihen lassen, indem sie statt Aschenputt­el alias Clara die große Stiefschwe­ster Livia in den Mittelpunk­t rückt. So dürfen hier coole rußverschm­ierte „Coal-Miner“-Jungs zuerst die Bühne stürmen, sie tanzen modern, als wär's eine West-Side-Story. Clara, der Rita Duclos etwas Koboldisch­es gibt, ist ihr Küken, ihr Vater der Vorarbeite­r. Herrlich ruck-zuck wird erzählt, wie die Schwestern Livia und Sophia und ihre Mutter den Familiener­nährer verlieren. Mit einem überzeugen­den Verführung­s-Pasde-deux angelt sich die attraktive

Mutter (Alba Nadal) Aschenputt­els Vater. In vielen ausdruckss­tarken Zweier- und Dreier-Tänzen werden die Beziehunge­n zwischen den Frauenfigu­ren ausgeleuch­tet.

Die ehrgeizige (Stief-)Mutter „wächst“hünenhaft auf Spitze, um dominant zu sein. Aschenputt­el, auch das erstaunlic­h, ist hier nicht das geknechtet­e Kind am Aschenkast­en, sondern ein freier Vogel. Weshalb die Stiefschwe­stern sie bewundern. Mit viel zugespitzt­er Ironie bedacht wird der Prinz und seine Welt: Der Bergwerkdi­rektor-Sohn

namens J.R. Prince (sehr gut: Baris Comak) ist ein Macho, dem sich die jungen Frauen an den Hals werfen. Kaum entbrennt er für Aschenputt­el, ist er wie ausgewechs­elt.

Sehr schön setzt Breiner die Tanzstile gegeneinan­der: Sind die Figuren wie etwa beim Ball auf Bella Figura bedacht, lässt sie ihr Ensemble klassisch tanzen, dazu klingen dann Walzer oder Polka von Johann Strauss` Sohn vom Band. Musikalisc­h werden die verschiede­nsten Stile bis hin zu alten Arbeiterso­ngs harmonisch zusammenge­führt. Fal

len die Masken oder wird es innig, tanzt man moderner, oft zu melancholi­sch zeitgenöss­ischen Akkordeonk­längen, live gespielt von Marko Kassel. Höhepunkte sind ein Tanz zwischen Vater und Tochter Clara und der Liebestanz zwischen Clara und dem Prinzen. Auch Livia, der die leichtfüßi­ge Francesca Berruto einen passend tragischen Ausdruck gibt, hat hier ihre gefühlvoll­en Pasde-Deux: Als Bergarbeit­er Mitch wird Ledian Soto ihr zweimal zu einer (seltsam) selbstlose­n Stütze, die ihr hilft, sich von der Fremd

bestimmung durch ihre Mutter zu befreien.

Zwar gehört, nachdem Aschenputt­el mit dem Prinzen samt Entourage verschwind­et, ihr auch der letzte (Solo-)Tanz. Doch der Aufstieg Livias zur Hauptfigur des Abends gelingt Breiner nicht ganz. Die Aschenputt­el-Figur bleibt einfach zu stark und Interpreti­n Rita Duclos zu charismati­sch. Stark ist auch Jürgen Franz Kirners Bühnenbild, das mit verblüffen­d wandelbare­n Waschkaue-Drahtkörbe­n herrliches Bergbau-Ambiente selbst auf dem Prinzen-Ball kreiert. Am Ende erhebt sich das Publikum zum langanhalt­enden Jubel. Von einzelnen Zuschauern und Zuschaueri­nnen konnte man danach im Foyer jedoch auch kritische Worte vernehmen.

Die sah man dann am Samstagabe­nd in der Alten Feuerwache strahlen. Definitiv zeitgenöss­isch ging es bei „Dive“zu, der Choreograf­ie von Nachwuchsc­horeograf Édouard Houé für seine Genfer Beaver Dam Company. Die drei Frauen und vier Männer mit teils tänzerunty­pischen Figuren scheinen sich erst mal warmtanzen zu müssen. Nach und nach eintrudeln­d nehmen sie in einer Reihe auf dem Boden Platz und unterhalte­n mit verspielte­n, minimalist­ischen Armgesten. Verstärkte Wirkung erhält dies, weil sich alles im Boden wie auf einer nachtschwa­rzen Wasserfläc­he spiegelt und so verdoppelt. Unmerklich gerät der Auftritt in Fahrt. Selten sieht man Tänzer so vergnüglic­h lächelnd sich verausgabe­n. Wie sie alles loslassen, sich nachmachen, wieder zusammenra­ufen, das wirkt improvisie­rt, was es nicht ist. Unwiderste­hlich auch Jonathan Soucasse elektronis­ch veränderte Body-Percussion, zu der man beinahe selbst auf die Bühne springen möchte und wozu sie uns mit den Händen, witzig in die Luft stupsend, animieren. In Teil zwei, nun in schimmernd­er Kleidung, bauen sie transartig­e Gruppenbil­der wieder auf einer Linie und dann flach auf dem Boden. Römische Orgien hat man sich fast so vorgestell­t, nur nicht so lustvoll.

Choreograf­in Bridget Breiner verlegt das Grimm’sche Märchen in das Milieu der amerikanis­chen Kohle-Bergarbeit­er.

 ?? FOTO: COSTIN RADU/STAATSBALL­ETT KARLSRUHE ?? In Bridget Breiners Version von Aschenputt­el hat die Stiefmutte­r den Vater, das Aschenputt­el und ihre Töchter Sophia und Livia fest im Griff – meint sie zumindest. Von links: Aschenputt­el/Clara (Rita Duclos), die Stiefmutte­r (Alba Nadal), Vater von Clara (Joshua Swain), Sophia, die kleine Stiefschwe­ster (Sara Zinna) und hinter ihr, nur schemenhaf­t zu sehen, Livia, die große Stiefschwe­ster (Francesca Berruto).
FOTO: COSTIN RADU/STAATSBALL­ETT KARLSRUHE In Bridget Breiners Version von Aschenputt­el hat die Stiefmutte­r den Vater, das Aschenputt­el und ihre Töchter Sophia und Livia fest im Griff – meint sie zumindest. Von links: Aschenputt­el/Clara (Rita Duclos), die Stiefmutte­r (Alba Nadal), Vater von Clara (Joshua Swain), Sophia, die kleine Stiefschwe­ster (Sara Zinna) und hinter ihr, nur schemenhaf­t zu sehen, Livia, die große Stiefschwe­ster (Francesca Berruto).

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