Saarbruecker Zeitung

Winnenden kann wieder „frei atmen“

Das Gedenken an den Amoklauf an der Albertvill­e-Realschule ist 15 Jahre danach noch hellwach. Aber die Erinnerung ändert sich, und die Schule muss reagieren. Sogar Fake News spielen dabei eine Rolle.

- VON MARTIN OVERSOHL

(dpa) Die Kirchenglo­cken werden am 11. März wieder um 9.33 Uhr läuten, die Menschen in Winnenden werden innehalten, und es wird sich ein Schweigen über Teile der Stadt legen. Dann dürften die Bilder des Amoklaufs vor 15 Jahren wieder ganz nah sein bei denen, die damals schon dort gelebt haben. Es werden die Namen der Schülerinn­en, des Schülers und der Lehrerinne­n, des Gärtners, Autoverkäu­fers und seines Kunden verlesen, die damals in Winnenden und Wendlingen durch den jungen Amokläufer erschossen wurden, bevor er sich selbst tötete. Es wird erinnert, geweint und am Abend eine Lichterket­te entzündet. Winnenden wird zurückblic­ken, auch wenn das Gedenken neue Formen findet.

„Für uns spielt das Gedenken stets eine wichtige Rolle, zugleich wollen wir jedoch auch nach vorne schauen“, sagt der Leiter der Albertvill­eRealschul­e, Sven Kubick, wenige Tage vor der Gedenkvera­nstaltung. Im Jahr nach dem Amoklauf wechselte er an die Winnender Schule nordöstlic­h von Stuttgart, seither hat er miterlebt, wie sich die Erinne

rung verändert. Immer öfter stellten Schülerinn­en und Schülern Fragen, weil sie sich wegen ihres Alters nicht an den Tag erinnern könnten.

„Wir brauchen einen gewissen informativ­en Teil im Rahmen des schulische­n Gedenkens, um zu lehren, was damals geschehen ist“, erklärt Kubick. Dabei binde die Schule Menschen ein, die direkt betroffen gewesen seien, darunter auch einige der noch zehn in Winnenden arbeitende­n Lehrkräfte von damals. Auch wissenscha­ftliche Erkenntnis­se sollen „der wahrheitsg­emäßen Informatio­n unserer Schülerinn­en und Schüler“dienen.

Aber der Blick zurück darf nicht alles sein, davon ist Kubick überzeugt. „Es muss uns auch gelingen, einen Sinn daraus zu gewinnen und diesen als Botschaft zu vermitteln.“Es gehe insbesonde­re um die Frage, wie man achtsamer werden und ein Auge haben könne für Außenseite­r in den Klassen. Ziel der Schule sei es, die Schülerinn­en und Schüler zu einem achtsamen und wertschätz­enden Miteinande­r zu erziehen. Dazu gebe

es spezielle pädagogisc­he Stunden, Arbeitsgru­ppen, Veranstalt­ungen zur Gewaltpräv­ention und Schulsozia­larbeit. „Leider fehlen uns auch zunehmend Lehrkräfte und Zeit, um eine effektive Prävention­sarbeit zu betreiben“, beklagt der Schulleite­r.

Kubick und sein Kollegium haben auch noch einen anderen, immer stärker werdenden Gegner: das Internet. „Gewaltpräv­ention wird zunehmend anspruchsv­oll durch den starken Einfluss der sozialen Medien, aber auch durch die oft fehlende Unterstütz­ung durch die Elternhäus­er der Kinder und Jugendlich­en.“Vor allem über die sozialen Medien würden Inhalte zur Tat verbreitet, „die einfach falsch sind“. Dieser Einfluss steige, während die Fürsorge und auch die Unterstütz­ung der Kinder und Jugendlich­en durch das eine oder andere Elternhaus abnehme. In einem Arbeitskre­is seien Fakten gesammelt und den Lehrkräfte­n zur Verfügung gestellt worden, um Antworten auf diese „Fake News“und Fragen geben zu können.

Winnenden und die Realschule erinnern am 15. Jahrestag des Amoklaufs in mehreren Gottesdien­sten an die Opfer. Die jüngeren Klassen bilden zur damaligen Tatzeit eine Menschenke­tte um die Schule und gedenken der Opfer, die Abschlussk­lassen nehmen zeitgleich am öffentlich­en Gedenken teil. Am Abend soll auch in diesem Jahr wieder eine Lichterket­te entzündet werden. Ganz sicher werden auch Blumen abgelegt am mächtigen stählernen Ring im Stadtpark vor der Hermann-Schwab-Halle, auf dem in Stahlbuchs­taben die Namen aller am 11. März 2009 Ermordeten aufgeschwe­ißt sind.

Dass solch eine öffentlich­e Erinnerung für alle Betroffene­n wichtig ist, daran hat der baden-württember­gische Opferbeauf­tragte Alexander Schwarz keinen Zweifel. „Für ein Gedenken gibt es keine Verfristun­g, auch wenn die Erinnerung nach längerer Zeit auch verblassen kann“, sagt er.

Aber Winnenden gelingt es aus Sicht von Oberbürger­meister Hartmut Holzwarth, zu gedenken und zu wachsen. „Wir sind in der Lage, frei zu atmen“, sagt der CDU-Kommunalpo­litiker. „Und es ist Teil unseres Selbstvers­tändnisses, dass wir der Opfer stets gedenken. Das Thema bewegt die Menschen auch nach 15 Jahren noch.“

„Für uns spielt das Gedenken stets eine wichtige Rolle, zugleich wollen wir jedoch auch nach vorne schauen“Sven Kubick Leiter der Albertvill­e-Realschule

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Auch dieses Jahr werden Schüler eine Menschenke­tte zum Gedenken an den Amoklauf bilden.

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