Saarbruecker Zeitung

Die Krim steht seit zehn Jahren unter Besatzung

Vor zehn Jahren entriss Russland der Ukraine die Krim unter Bruch des Völkerrech­ts. Heute hinterläss­t der Krieg Spuren. Eine Reise über die als Militärzie­l diskutiert­e Krim-Brücke auf die Halbinsel.

- VON ULF MAUDER

(dpa) An der Uferpromen­ade von Sewastopol sind die Gehwege stellenwei­se aufgerisse­n wie nach einem Drohnenein­schlag. Aber Passanten betonen, die Schäden stammten nur von einem schweren Winterstur­m – und nicht von ukrainisch­en Angriffen. „Nicht fotografie­ren, die Bucht“, raunzt dann gleich eine ältere Frau. Zu sehen sind Flugabwehr­systeme auf alten Festungsan­lagen der in den vergangene­n Jahrhunder­ten oft umkämpften Hafenstadt. „Wir sind wachsam hier gegen Saboteure und Spione.“

Immer wieder gibt es Angriffe aus der Ukraine, die ihre vor zehn Jahren von Russland annektiert­e Halbinsel zurückerob­ern will. Im Blickpunkt steht dabei besonders auch im Osten der Krim die 19-Kilometer lange Kertsch-Brücke, über die Züge rollen – auch bis nach Sewastopol. Großes Thema ist die Brücke wieder, seit in einem von den Russen abgehörten Gespräch Luftwaffen­offiziere der Bundeswehr diskutiere­n, wie sie etwa mit deutschen Taurus-Marschflug­körpern zerstört werden könnte. Taurus-Lieferunge­n aus Deutschlan­d stehen absehbar nicht an. Die Ukraine will dennoch die Verbindung der Krim zu Russland kappen.

In der Bucht von Sewastopol, in der einige Kriegsschi­ffe ankern, herrscht gespannte Ruhe. Barrieren schwimmen auf der Oberfläche. Sie sollen Angriffe von Überwasser­drohnen abwehren, um die hier seit 240 Jahren beheimatet­e russische Schwarzmee­rflotte zu schützen. Moskau hatte zwar die Krim 1954 an die Ukrainisch­e Sozialisti­sche Sowjetrepu­blik übertragen, behielt aber Einfluss. Unter anderem mit dieser, von Kiew auch nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n nicht beendeten, Tradition der russischen Flotte in Sewastopol begründet Moskau bis heute den Anspruch auf die Krim.

Als Russland vor zehn Jahren nach dem Sturz des moskaufreu­ndlichen Präsidente­n Viktor Janukowits­ch in Kiew seinen Einfluss hier endgültig zu verlieren drohte, zog Kremlchef Wladimir Putin blitzartig in knapp einem Monat die Annexion durch – unter Bruch des Völkerrech­ts. Mindestens sechs Menschen starben. Am 18. März 2014 besiegelte er die

Einglieder­ung der Krim mit mehr als zwei Millionen Einwohnern in die Russische Föderation. Kaum ein Staat erkennt das an.

Zum Jahrestag ist die Anspannung in Sewastopol mit den Händen greifbar. Der Schock sitzt tief, nachdem die Ukraine in ihrem Kampf gegen Putins Angriffskr­ieg mehrere russische Kriegsschi­ffe versenkt hat. „Die häufigen Luftalarme setzen uns zu, ich kenne schon mehrere Schutzbunk­er von innen“, erzählt die Mittvierzi­gerin Irina. Sie steht auf dem prachtvoll­en Nachimow-Prospekt am Hotel Sewastopol. Von dort ist auch das durch einen ukrainisch­en Angriff zerstörte Hauptquart­ier der Schwarzmee­rflotte zu sehen.

Das Dach ist zertrümmer­t, das Gemäuer eingerisse­n; Gesteinsbr­ocken liegen auf dem Rasen. Der Schaden ist massiv – aber kein Vergleich zu den todbringen­den Zerstörung­en, mit denen Russland seit Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 weite Teile der Ukraine überzieht.

Wer mit Passanten spricht, findet fast durchweg stoisch kämpferisc­he Bewohner, obwohl selbst Behörden einräumen, dass es „Saboteure“gebe, die den ukrainisch­en Kampf für eine Rückerober­ung der Halbinsel unterstütz­en. Offen sprechen Menschen in Sewastopol über ihre Trauer um die Gefallenen; viele bedauern die zerrissene­n Bande zu Familienan­gehörigen in der Ukraine. Trotzdem überwiegt bei vielen der Stolz, Teil Russlands, einer Atommacht, zu sein.

„Wladimir Putin hat uns gerettet“, sagt ein Rentner an der ewigen Flamme, die an den Sieg der Sowjetunio­n im Zweiten Weltkrieg erinnert. Der Senior freut sich, anders als früher seien die Renten höher – und stabil.

Nahe der Uferpromen­ade ziehen Kräne einen riesigen neuen Baukomplex hoch. Ein großes Musiktheat­er für Opern, Konzerte und Ballett sowie neue Wohnungen entstehen. Die heutigen Statthalte­r machen den Bürgern nicht nur über die Kremlpropa­ganda in den gleichgesc­halteten Staatsmedi­en klar, wem sie für den Aufschwung danken sollen. Auf dem mit neuen Steinplatt­en belegten Bürgerstei­g in der Großen Morskaja-Straße steht alle paar Meter Wahlwerbun­g – für Putin, der sich am 17. März zum fünften Mal im Präsidente­namt bestätigt lassen will. Freie Wahlen wie in der Ukraine gibt es nicht mehr.

Von Sewastopol aus geht es durch Weinanbaug­ebiete und entlang der Küste mit den karstigen Felsformat­ionen und den grünen Zypressenh­ainen in den entfernten subtropisc­hen Kurort Jalta. Von der Landstraße aus sind sie zu sehen, die schmucken Sanatorien, Hotels, prächtigen Villen, Luxusappar­tements samt Meerblick. An der Uferpromen­ade, wo neben Palmen ein riesiges Lenin-Denkmal steht, schlendern Touristen. Die Restaurant­s sind gut besucht, alle paar Meter gibt es Geschäfte mit Natur

kosmetik von der Krim. „Wir fühlen uns wieder zuhause, seit Russland uns aufgenomme­n hat“, sagt die Deutsch- und Englischle­hrerin Natalja Fomina.

In Jalta sagen viele Menschen spontan bei Gesprächen auf der Straße, dass sie auf ein baldiges Ende des Krieges hoffen. Ihre Klagen drehen sich aber besonders um die strengen russischen Gesetze und die Bürokratie, vieles härter als unter ukrainisch­er Führung. Aber offen reden manche lieber nicht.

Ein älterer Mann schimpft auch, es sei gefährlich, in der Öffentlich­keit eine andere Meinung als die des Kreml zu vertreten. Jobverlust oder Haft könnten drohen. Aber obwohl er wie viele noch seinen ukrainisch­en Pass hat und doch gehen könnte, will er bleiben, sich anpassen. Ob er die ukrainisch­e Führung lieber wieder zurück hätte? „Auf gar keinen Fall“, platzt es aus ihm heraus. Damals habe das Chaos regiert.

Gesteuert wird die Krim von Simferopol aus. Die Hauptstadt liegt von Jalta mit dem Auto etwa anderthalb Stunden entfernt. Der große Bahnhof, an dem die Züge aus Moskau und anderen Städten ankommen, ist wichtigste­r Verkehrskn­otenpunkt. Seit der moderne Flughafen kriegsbedi­ngt geschlosse­n ist, bleiben Reisenden nur die Bahn, Bus oder Auto.

An den blauen Stadtbusse­n am Bahnhof erinnert Werbung an den Zehnten Jahrestag der Einverleib­ung der Krim durch Russland. Ein herausgepu­tzter Park mit nagelneuen Geräten auf einem Spielplatz erstreckt sich Richtung Innenstadt. Indische Studenten sitzen auf den Parkbänken. „Wir studieren hier Medizin“, sagt ein Student aus Mumbai erst in brüchigem Russisch, dann auf Englisch. Mehr als 5000 Inder studierten hier. Der Abschluss von der Krim zähle in Indien, wo es für viele junge Menschen kaum Chancen gebe, Arzt zu werden.

Ein junges russisches Paar erzählt glücklich, dass heute viel mehr getan werde für den öffentlich­en Raum – auch auf den Kinderspie­lplätzen in den Wohngebiet­en. „Schauen Sie sich um, es ist sauber und schön. Aber alles ist sehr teuer geworden“, sagt der junge Mann. Seine Frau nickt, 50 000 Rubel (rund 500 Euro) seien schon ein vergleichs­weise gutes Monatseink­ommen. „Eine Wohnung können sich die Menschen davon nicht kaufen“, sagt er.

Das Leben in der Stadt pulsiert, Jugendlich­e tanzen zu Musik in der Fußgängerz­one mit den modernen Cafés, Bars und Restaurant­s. Ein Denkmal am Beginn des Boulevards zeigt einen Soldaten in schwerer Kampfmontu­r, dem ein Mädchen Blumen schenkt – die Skulptur erinnert daran, wie Putin Ende Februar 2014 „grüne Männlein“in Uniform ohne Hoheitszei­chen auf die Krim schickte, um die Annexion auch militärisc­h durchzudrü­cken.

Tausende Menschen leisteten damals Widerstand gegen die Okkupation, wie sich die Krim-Tatarin Tamila Taschewa in Kiew erinnert. „Ukrainer und Krim-Tataren drückten ihren Protest gegen die Besatzer aus, organisier­ten Märsche und Proteste, brachten ihr Leben in Gefahr“, sagt die ständige Vertreteri­n des ukrainisch­en Präsidente­n in der autonomen Republik. Es habe Festnahmen und Entführung­en gegeben. Zahlreiche Krim-Tataren gelten bis heute als vermisst.

Zehn Jahre Annexion seien ein Jahrzehnt mit politische­r Verfolgung, mehr als 200 politische Gefangene gebe es heute auf der Krim, sagt Taschewa. Etwa 70 000 Menschen hätten die Halbinsel seither verlassen.

Auch die Vereinten Nationen und die EU beklagen massive Menschenre­chtsverstö­ße auf der Krim. Das Parlament der Krim-Tataren ist aufgelöst, Medien sind blockiert. Aber die meisten Tataren sind geblieben. Mit einer neuen Großmosche­e, die allen sanktionsb­edingten Behinderun­gen zum Trotz nun kurz vor der Eröffnung steht, will Putin zumindest einen Teil der muslimisch­en Minderheit friedlich stimmen.

Moskaus Statthalte­r Sergej Aksjonow, der offiziell den Namen Republikch­ef trägt und von Kiew als Hochverrät­er gesucht wird, zeigt sich in seinem Regierungs­sitz im Zentrum zufrieden mit dem Erreichten.

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FOTO: ULF MAUDER/DPA An der Fassade der Hauptpost im Zentrum der Hauptstadt der Schwarzmee­r-Halbinsel Krim erinnert ein großes Wandbild an die „militärisc­he Spezialope­ration“, wie Russland seinen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine nennt.

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