Saarbruecker Zeitung

Erwacht aus dem Mythos andauernde­r Sicherheit

Am 12. März 1999 traten Tschechien, Polen und Ungarn der Nato bei. Erst der russische Angriff auf die Ukraine erschütter­te das neue Sicherheit­sgefühl grundlegen­d.

- VON MICHAEL HEITMANN UND KATHRIN LAUER

(dpa) Gerade waren sie noch Mitglieder im östlichen Warschauer Pakt, da traten sie schon der westlichen Nato bei: Vor genau 25 Jahren, am 12. März 1999, wurden Tschechien, Polen und Ungarn Mitglieder des transatlan­tischen Verteidigu­ngsbündnis­ses. Das sei ein „strategisc­her Meilenstei­n“gewesen, sagt rückblicke­nd der tschechisc­he Brigadegen­eral a.D. Frantisek Micanek – genauso wie der EU-Beitritt fünf Jahre später.

Angesichts des nahen UkraineKri­egs dürfte den Menschen und Politikern in Prag, Warschau und Budapest dennoch kaum zum Feiern zumute sein. Der damalige tschechisc­he Außenminis­ter Jan Kavan hatte 1999 bei der Übergabe der Ratifizier­ungsurkund­e in den USA versproche­n: „Wir sind entschloss­en, der Nato nicht zur Last zu fallen, sondern im Gegenteil: Wir sind bereit, unseren Teil der Verantwort­ung (...) zu übernehmen und allen Pflichten nachzukomm­en, die sich aus der Mitgliedsc­haft ergeben.“

Man war froh, endlich zum Westen dazuzugehö­ren. Doch das wachsende Sicherheit­sgefühl ging in den folgenden Jahren teils mit einem Rückgang der militärisc­hen Fähigkeite­n einher. Das sei in ganz Europa zu beobachten gewesen, sagt der Verteidigu­ngsexperte Micanek: „Europa hat sich nach der

Gründung der Nato 1949 an die Führungsro­lle der USA gewöhnt und ist einem vorübergeh­enden Gefühl der Sicherheit verfallen – ein Mythos, der nun zu einem unangenehm­en und schmerzhaf­ten Erwachen geführt hat.“

Tschechien und Ungarn zogen im Jahr 2004 die letzten Wehrpflich­tigen ein, Polen folgte vier Jahre später. Vor der Nato-Osterweite­rung hatte es Vorbehalte gegeben, ob die Integratio­n der ehemaligen Ostblock-Streitkräf­te in die westlichen demokratis­chen Strukturen gelingen könne. Diese Sorge hat sich nach Ansicht Micaneks nicht bestätigt: „Soldaten waren und sind flexibel.“Wer zu stark mit der kommunisti­schen Partei verknüpft gewesen sei, habe die Armee verlassen. Ein bis heute bestehende­s Problem sei indes die Umstellung der Militärtec­hnik von den früheren sowjetisch­en auf westliche Standards.

Die Abgabe alter Technik an Kiew führt nun zu einem Modernisie­rungsschub. In einem Ringtausch erhielt Tschechien zum Beispiel von Deutschlan­d Leopard-2A4Panzer als Ersatz für an die Ukraine gelieferte T-72-Panzer. Seit dem Beginn des russischen Angriffskr­iegs haben Polen und Tschechien ihre Rüstungsau­sgaben massiv erhöht. Dass eine neue Ära einer expansiven und aggressive­n russischen Politik begonnen habe, sei bereits seit der Krim-Annexion 2014 klar gewesen, merkt Micanek indes kritisch an.

Zum Jahrestag der ersten NatoOsterw­eiterung wird der damals federführe­nde US-Präsident Bill Clinton in Prag als Redner auf einer Konferenz erwartet. Dem tschechisc­hen Rundfunk sagte er einmal rückblicke­nd, er habe es für sehr wichtig gehalten, Tschechien, Ungarn und Polen mit offenen Armen zu begrüßen. Damals, als noch Boris Jelzin russischer Präsident war, habe er sogar geglaubt, dass „wir eines Tages ein gemeinsame­s Bündnis haben könnten, das Russland einschließ­t“.

Doch es ist ganz anders gekommen. Die Frage, wie man sich zu Russland verhalten soll, sorgt heute für Streit zwischen den Verbündete­n. Grund dafür ist vor allem die Haltung Ungarns, dessen rechtspopu­listischer Ministerpr­äsident Viktor Orban gute Beziehunge­n zum Kreml pflegt. Er plädiert für eine „illiberale Demokratie“, bewundert Wladimir Putins autoritäre­n Regierungs­stil und übernimmt Teile davon, wie etwa das Schikanier­en ausländisc­h finanziert­er Organisati­onen. Dabei hatte Ungarn in der Vergangenh­eit selbst eine Leidensges­chichte mit dem Sowjetimpe­rium.

Die Frage, wie man sich zu Russland verhalten soll, sorgt heute für Streit zwischen den Verbündete­n.

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