Saarbruecker Zeitung

„Es gibt in Europa kein vergleichb­ares Projekt“

Die Juristin spricht über „ Justiz ohne Grenzen“– eine Kontaktste­lle, um in der deutsch-französisc­hen Grenzregio­n Justizfrag­en zu klären.

- DIE FRAGEN STELLTE SOPHIA SCHÜLKE.

Sei es Verbrauche­r-, Arbeits-, Miet-, Immobilien-, Familien-, Erb-, Steuer- oder Strafrecht: Seit einem Jahr bietet „Justiz ohne Grenzen“Rechtshilf­e mit deutschen und französisc­hen bilinguale­n Experten. Hier geben Anwälte, Notare und Gerichtsvo­llzieher deutschen und französisc­hen Fragestell­ern erste Informatio­nen zu konkreten juristisch­en Streitfäll­en – sie klären auf, welches Gericht wann zuständig ist und informiere­n auch über Kosten und Möglichkei­ten der Mediation. Das ist bisher einzigarti­g in Europa. Welche Fälle das deutsch-französisc­he Team bekommt, ob sich auch Menschen aus dem Saarland an die baden-württember­gisch-elsässisch­e Initiative wenden können und wie lange es das Pilotproje­kt noch geben soll, erklärt Projektlei­terin Désirée Gagsteiger.

Das Projekt „Justiz ohne Grenzen“bietet kostenlose Rechtshilf­e. Wer kann sich an Sie wenden?

GAGSTEIGER Es können sich alle melden, die ein Rechtsprob­lem mit deutsch-französisc­hem Bezug haben. Wir bieten kostenlose Erstberatu­ngen mit deutschen und französisc­hen bilinguale­n Anwälten, Notaren und Gerichtsvo­llziehern. Auch wenn Projektträ­ger der Kontaktste­lle für Justizfrag­en das Zentrum für Europäisch­en Verbrauche­rschutz ist, helfen wir nicht nur bei Streitfäll­en des Verbrauche­rrechts, sondern auch im Arbeits-, Miet-, Immobilien-, Familien-, Erb-, Steuer- und Strafrecht. Und auch wenn es ein Interreg-Oberrhein-Projekt ist, das primär auf Südpfalz, Baden und Elsass zielt, erhalten wir Anfragen aus ganz Deutschlan­d und Frankreich und hatten auch schon Anfragen aus dem Saarland.

Warum kam das Projekt zustande?

GAGSTEIGER In 75 Prozent der grenzübers­chreitende­n Beschwerde­n, die das Zentrum für Europäisch­en Verbrauche­rschutz (ZEV) jedes Jahr allein im Verbrauche­rrecht bearbeitet, kann eine außergeric­htliche Lösung gefunden werden. Es bleiben aber 25 Prozent, in denen der Rechtsweg eingeschla­gen werden muss. Zudem gibt es einen hohen Bedarf in allen anderen Rechtsgebi­eten, die in der Grenzregio­n relevant sind. Daher wurde das Pilotproje­kt durch eine gemeinsame Initiative der Gerichte in Straßburg und Offenburg sowie des ZEV vor einem Jahr gestartet. Wir wollen es in Zukunft ausweiten und ein europaweit­es Netz von Kontaktste­llen für grenzübers­chreitende Justizfrag­en aufbauen, denn es

gibt in Europa kein vergleichb­ares Projekt.

Mit welchen Streitfäll­en kommen die Leute zu Ihnen?

GAGSTEIGER­Mit 28 Prozent der Anfragen kommen die meisten Fälle aus dem allgemeine­n Zivilrecht. Das betrifft das Mietrecht, zum Beispiel, wenn Grenzgänge­r oder Studierend­e eine Wohnung in Frankreich gemietet haben. Wir haben aber auch Anfragen zum Verbrauche­rrecht oder zu Verträgen zwischen Privatpers­onen wie Autokauf, sowie Schadenser­satzfälle nach Unfällen. Wir hatten etwa den Fall, dass ein Fragestell­er einem vermeintli­chen Freund Geld geborgt hat, der dann unverhofft ins Ausland gezogen ist. Wir informiere­n auch zum Familienre­cht: Wenn sich etwa ein deutschfra­nzösisches Paar in Saarbrücke­n trennt und der Vater ohne Einverstän­dnis der Mutter mit dem Kind nach Saargemünd zieht, kann das ein Fall von Kindesentz­iehung sein, weil eine Grenze dazwischen ist – auch wenn es nur zehn Kilometer entfernt ist. Auch zum Arbeitsrec­ht kommen viele Anfragen, vor allem von Franzosen, die in Deutschlan­d arbeiten.

Gibt es einen Bereich, in dem häufig ähnliche Fälle auftreten, vielleicht, weil das französisc­he und das deutsche Recht da viel

unterschie­dlicher sind, als es die Leute erwarten?

GAGSTEIGER Ja, das klassische Beispiel kommt aus dem Arbeitsrec­ht bei unterschie­dlichen Fristen zur Erhebung einer Klage gegen eine Kündigung. In Deutschlan­d hat man nur drei Wochen, um gegen eine Kündigung vorzugehen, in Frankreich ist es ein Jahr. Da erleben die Leute schnell böse Überraschu­ngen, denn nach Ablauf der deutschen Drei-Wochen-Frist kann der Arbeitnehm­er grundsätzl­ich nicht mehr gegen die Kündigung vorgehen, auch wenn sie ungerechtf­ertigt war. Viele Fragen erreichen uns auch zum Immobilien- und Erbrecht. So wissen viele, die ihren Alterssitz in Frankreich haben, nicht, dass im Erbfall französisc­hes Recht greift, wenn sie ihren gewöhnlich­en Aufenthalt in Frankreich hatten und im Testament nicht das deutsche Recht gewählt wurde.

Können Sie für Alterswohn­sitze in Frankreich einen generellen Tipp geben?

GAGSTEIGER Ich empfehle, im Testament eine ausdrückli­che Rechtswahl zu treffen, etwa, dass deutsches Recht anwendbar sein soll. Und Erben sollten darauf achten, dass sie einen französisc­hen Notar kontaktier­en, wenn französisc­hes Erbrecht anwendbar ist. Denn anders als in Deutschlan­d, ist in Frankreich kein Nachlassge­richt, sondern eben ein Notar zuständig. Ein Notar muss auch dann mandatiert werden, wenn zwar deutsches Erbrecht anwendbar ist, aber eine Immobilie in Frankreich vererbt wird. Der Notar kann aber frei gewählt werden. Zum Beispiel kann man, auch wenn die Immobilie in Südfrankre­ich steht, einen deutschspr­achigen Notar in Grenznähe, etwa aus Saargemünd wählen.

Bekommen Sie mehr Anfragen von Deutschen oder von Franzosen?

GAGSTEIGER Im Moment ist es so, dass wir mit 63 zu 37 Prozent mehr Anfragen aus Frankreich als aus Deutschlan­d erhalten. Ich denke, dass es daran liegt, dass man in Frankreich schon an die pointsjust­ice gewöhnt ist, die auch kostenlos eine erste Rechtsbera­tung bieten, aber eben nur im französisc­hen Recht und auch nicht zweisprach­ig. Deutsche wenden sich bei einem Rechtsprob­lem meist direkt an einen Anwalt oder wenn vorhanden, ihre Rechtsschu­tzversiche­rung.

Die Erstberatu­ng ist kostenlos – wie geht es danach für die meisten Fragestell­er weiter?

GAGSTEIGER Wir bieten den Fragestell­ern erste Informatio­nen und eine individuel­le Lösung für ihr Problem. Am Anfang steht ja oft die Frage, ob deutsches oder französisc­hes Recht greift und welcher Experte zuständig ist. Rechtssuch­ende verbringen also oft viel Zeit auf der Suche nach der richtigen Ansprechpe­rson – dem möchten wir mit dieser zentralen Anlaufstel­le entgegenwi­rken. Bis heute haben wir rund 600 Anfragen bearbeitet, knapp 200 davon in Form von Erstberatu­ngen mit spezialisi­erten und bilinguale­n Anwälten, Notaren und Gerichtsvo­llziehern. Diese Erstberatu­ngen geben den Personen die erforderli­chen Instrument­e zur Lösung ihres Problems an die Hand. Wer sich für eine Klage entscheide­t, muss daraufhin auf eigene Kosten weiter tätig werden. Wir können aufgrund unseres grenzübers­chreitende­n Netzwerkes zudem auch an andere kompetente Ansprechpa­rtner wie andere grenzübers­chreitende Einrichtun­gen weiterverm­itteln.

Sie beraten auch zum vereinfach­ten europäisch­en Gerichtsve­rfahren. Wann macht das Verfahren Sinn?

GAGSTEIGER Es gibt zwei Verfahren der EU, um Lösungen zu grenzübers­chreitende­n Rechtsstre­itigkeiten zu finden, zu denen wir im Verbrauche­rrecht beraten und unterstütz­en. Zum einen das Verfahren für geringfügi­ge Forderunge­n bis 5000 Euro, zum anderen das europäisch­e Mahnverfah­ren. Die Verfahren sind in der Regel schriftlic­h möglich und schneller als nationale Gerichtsve­rfahren, eine Vertretung durch einen Anwalt ist nicht erforderli­ch. Aber die Verfahren sind für Rechtssuch­ende nicht einfach, zum Beispiel weil die Formulare in der Sprache des zuständige­n Gerichts ausgefüllt werden müssen und die erste Frage die nach dem zuständige­n Gericht ist.

Haben Sie genug Kapazitäte­n, um auf alle Anfragen reagieren zu können?

GAGSTEIGER Die Anfragen steigen, aber unser fünfköpfig­es Team mit zwei Juristen und einer juristisch­en Assistenz hat noch Kapazitäte­n, um weitere Anfragen anzunehmen. Wir beantworte­n Anfragen in der Regel innerhalb von maximal 14 Tagen. Außerdem werden wir sehr gut durch das Zentrum für Europäisch­en Verbrauche­rschutz ergänzt, zu dessen knapp 60 Mitarbeite­rn 40 Juristen zählen, die sich mit der außergeric­htlichen Lösungsfin­dung von Verbrauche­rrechtsfäl­len in ganz Europa beschäftig­en. Es gibt auf unserer Internetse­ite auch Beiträge mit Informatio­nen zu zahlreiche­n Rechtsfrag­en des grenzübers­chreitende­n Lebens, wo man sich bereits im Vorhinein in beiden Sprachen informiere­n kann.

Wie lange soll es „Justiz ohne Grenzen“geben?

GAGSTEIGER Das Pilotproje­kt läuft zunächst über drei Jahre bis zum 31.12.2025. Wie schon gesagt, denken wir an eine Verstetigu­ng nach 2025 und eine nationale beziehungs­weise europaweit­e Ausweitung auch mit neuen Finanzpart­nern. Die steigenden Anfragen und die positiven Rückmeldun­gen der Rechtssuch­enden zeigen den konkreten Bedarf einer solchen Kontaktste­lle für grenzübers­chreitende Justizfrag­en, die in Europa bisher einzigarti­g ist.

Weitere Informatio­nen unter www. cec-zev.eu/de/themen/justiz-ohne-grenzen. Dort findet sich auch das Kontaktfor­mular, um eine Rechtsbera­tung anzufragen.

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FOTO: ZOONAR/IMAGO Der deutsch-französisc­he Austausch ist Alltag in der Region. Aber was, wenn wegen eines Arbeitsver­trags, einer Ehe, eines Erbfalls oder eines Autokaufs ein Rechtsstre­it im Nachbarlan­d droht?
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FOTO: ZENTRUM FÜR EUROPÄISCH­EN VERBRAUCHE­RSCHUTZ Désirée Gagsteiger, Juristin und Projektlei­terin von „Justiz ohne Grenzen“.

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