„Es gibt in Europa kein vergleichbares Projekt“
Die Juristin spricht über „ Justiz ohne Grenzen“– eine Kontaktstelle, um in der deutsch-französischen Grenzregion Justizfragen zu klären.
Sei es Verbraucher-, Arbeits-, Miet-, Immobilien-, Familien-, Erb-, Steuer- oder Strafrecht: Seit einem Jahr bietet „Justiz ohne Grenzen“Rechtshilfe mit deutschen und französischen bilingualen Experten. Hier geben Anwälte, Notare und Gerichtsvollzieher deutschen und französischen Fragestellern erste Informationen zu konkreten juristischen Streitfällen – sie klären auf, welches Gericht wann zuständig ist und informieren auch über Kosten und Möglichkeiten der Mediation. Das ist bisher einzigartig in Europa. Welche Fälle das deutsch-französische Team bekommt, ob sich auch Menschen aus dem Saarland an die baden-württembergisch-elsässische Initiative wenden können und wie lange es das Pilotprojekt noch geben soll, erklärt Projektleiterin Désirée Gagsteiger.
Das Projekt „Justiz ohne Grenzen“bietet kostenlose Rechtshilfe. Wer kann sich an Sie wenden?
GAGSTEIGER Es können sich alle melden, die ein Rechtsproblem mit deutsch-französischem Bezug haben. Wir bieten kostenlose Erstberatungen mit deutschen und französischen bilingualen Anwälten, Notaren und Gerichtsvollziehern. Auch wenn Projektträger der Kontaktstelle für Justizfragen das Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz ist, helfen wir nicht nur bei Streitfällen des Verbraucherrechts, sondern auch im Arbeits-, Miet-, Immobilien-, Familien-, Erb-, Steuer- und Strafrecht. Und auch wenn es ein Interreg-Oberrhein-Projekt ist, das primär auf Südpfalz, Baden und Elsass zielt, erhalten wir Anfragen aus ganz Deutschland und Frankreich und hatten auch schon Anfragen aus dem Saarland.
Warum kam das Projekt zustande?
GAGSTEIGER In 75 Prozent der grenzüberschreitenden Beschwerden, die das Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz (ZEV) jedes Jahr allein im Verbraucherrecht bearbeitet, kann eine außergerichtliche Lösung gefunden werden. Es bleiben aber 25 Prozent, in denen der Rechtsweg eingeschlagen werden muss. Zudem gibt es einen hohen Bedarf in allen anderen Rechtsgebieten, die in der Grenzregion relevant sind. Daher wurde das Pilotprojekt durch eine gemeinsame Initiative der Gerichte in Straßburg und Offenburg sowie des ZEV vor einem Jahr gestartet. Wir wollen es in Zukunft ausweiten und ein europaweites Netz von Kontaktstellen für grenzüberschreitende Justizfragen aufbauen, denn es
gibt in Europa kein vergleichbares Projekt.
Mit welchen Streitfällen kommen die Leute zu Ihnen?
GAGSTEIGERMit 28 Prozent der Anfragen kommen die meisten Fälle aus dem allgemeinen Zivilrecht. Das betrifft das Mietrecht, zum Beispiel, wenn Grenzgänger oder Studierende eine Wohnung in Frankreich gemietet haben. Wir haben aber auch Anfragen zum Verbraucherrecht oder zu Verträgen zwischen Privatpersonen wie Autokauf, sowie Schadensersatzfälle nach Unfällen. Wir hatten etwa den Fall, dass ein Fragesteller einem vermeintlichen Freund Geld geborgt hat, der dann unverhofft ins Ausland gezogen ist. Wir informieren auch zum Familienrecht: Wenn sich etwa ein deutschfranzösisches Paar in Saarbrücken trennt und der Vater ohne Einverständnis der Mutter mit dem Kind nach Saargemünd zieht, kann das ein Fall von Kindesentziehung sein, weil eine Grenze dazwischen ist – auch wenn es nur zehn Kilometer entfernt ist. Auch zum Arbeitsrecht kommen viele Anfragen, vor allem von Franzosen, die in Deutschland arbeiten.
Gibt es einen Bereich, in dem häufig ähnliche Fälle auftreten, vielleicht, weil das französische und das deutsche Recht da viel
unterschiedlicher sind, als es die Leute erwarten?
GAGSTEIGER Ja, das klassische Beispiel kommt aus dem Arbeitsrecht bei unterschiedlichen Fristen zur Erhebung einer Klage gegen eine Kündigung. In Deutschland hat man nur drei Wochen, um gegen eine Kündigung vorzugehen, in Frankreich ist es ein Jahr. Da erleben die Leute schnell böse Überraschungen, denn nach Ablauf der deutschen Drei-Wochen-Frist kann der Arbeitnehmer grundsätzlich nicht mehr gegen die Kündigung vorgehen, auch wenn sie ungerechtfertigt war. Viele Fragen erreichen uns auch zum Immobilien- und Erbrecht. So wissen viele, die ihren Alterssitz in Frankreich haben, nicht, dass im Erbfall französisches Recht greift, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich hatten und im Testament nicht das deutsche Recht gewählt wurde.
Können Sie für Alterswohnsitze in Frankreich einen generellen Tipp geben?
GAGSTEIGER Ich empfehle, im Testament eine ausdrückliche Rechtswahl zu treffen, etwa, dass deutsches Recht anwendbar sein soll. Und Erben sollten darauf achten, dass sie einen französischen Notar kontaktieren, wenn französisches Erbrecht anwendbar ist. Denn anders als in Deutschland, ist in Frankreich kein Nachlassgericht, sondern eben ein Notar zuständig. Ein Notar muss auch dann mandatiert werden, wenn zwar deutsches Erbrecht anwendbar ist, aber eine Immobilie in Frankreich vererbt wird. Der Notar kann aber frei gewählt werden. Zum Beispiel kann man, auch wenn die Immobilie in Südfrankreich steht, einen deutschsprachigen Notar in Grenznähe, etwa aus Saargemünd wählen.
Bekommen Sie mehr Anfragen von Deutschen oder von Franzosen?
GAGSTEIGER Im Moment ist es so, dass wir mit 63 zu 37 Prozent mehr Anfragen aus Frankreich als aus Deutschland erhalten. Ich denke, dass es daran liegt, dass man in Frankreich schon an die pointsjustice gewöhnt ist, die auch kostenlos eine erste Rechtsberatung bieten, aber eben nur im französischen Recht und auch nicht zweisprachig. Deutsche wenden sich bei einem Rechtsproblem meist direkt an einen Anwalt oder wenn vorhanden, ihre Rechtsschutzversicherung.
Die Erstberatung ist kostenlos – wie geht es danach für die meisten Fragesteller weiter?
GAGSTEIGER Wir bieten den Fragestellern erste Informationen und eine individuelle Lösung für ihr Problem. Am Anfang steht ja oft die Frage, ob deutsches oder französisches Recht greift und welcher Experte zuständig ist. Rechtssuchende verbringen also oft viel Zeit auf der Suche nach der richtigen Ansprechperson – dem möchten wir mit dieser zentralen Anlaufstelle entgegenwirken. Bis heute haben wir rund 600 Anfragen bearbeitet, knapp 200 davon in Form von Erstberatungen mit spezialisierten und bilingualen Anwälten, Notaren und Gerichtsvollziehern. Diese Erstberatungen geben den Personen die erforderlichen Instrumente zur Lösung ihres Problems an die Hand. Wer sich für eine Klage entscheidet, muss daraufhin auf eigene Kosten weiter tätig werden. Wir können aufgrund unseres grenzüberschreitenden Netzwerkes zudem auch an andere kompetente Ansprechpartner wie andere grenzüberschreitende Einrichtungen weitervermitteln.
Sie beraten auch zum vereinfachten europäischen Gerichtsverfahren. Wann macht das Verfahren Sinn?
GAGSTEIGER Es gibt zwei Verfahren der EU, um Lösungen zu grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten zu finden, zu denen wir im Verbraucherrecht beraten und unterstützen. Zum einen das Verfahren für geringfügige Forderungen bis 5000 Euro, zum anderen das europäische Mahnverfahren. Die Verfahren sind in der Regel schriftlich möglich und schneller als nationale Gerichtsverfahren, eine Vertretung durch einen Anwalt ist nicht erforderlich. Aber die Verfahren sind für Rechtssuchende nicht einfach, zum Beispiel weil die Formulare in der Sprache des zuständigen Gerichts ausgefüllt werden müssen und die erste Frage die nach dem zuständigen Gericht ist.
Haben Sie genug Kapazitäten, um auf alle Anfragen reagieren zu können?
GAGSTEIGER Die Anfragen steigen, aber unser fünfköpfiges Team mit zwei Juristen und einer juristischen Assistenz hat noch Kapazitäten, um weitere Anfragen anzunehmen. Wir beantworten Anfragen in der Regel innerhalb von maximal 14 Tagen. Außerdem werden wir sehr gut durch das Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz ergänzt, zu dessen knapp 60 Mitarbeitern 40 Juristen zählen, die sich mit der außergerichtlichen Lösungsfindung von Verbraucherrechtsfällen in ganz Europa beschäftigen. Es gibt auf unserer Internetseite auch Beiträge mit Informationen zu zahlreichen Rechtsfragen des grenzüberschreitenden Lebens, wo man sich bereits im Vorhinein in beiden Sprachen informieren kann.
Wie lange soll es „Justiz ohne Grenzen“geben?
GAGSTEIGER Das Pilotprojekt läuft zunächst über drei Jahre bis zum 31.12.2025. Wie schon gesagt, denken wir an eine Verstetigung nach 2025 und eine nationale beziehungsweise europaweite Ausweitung auch mit neuen Finanzpartnern. Die steigenden Anfragen und die positiven Rückmeldungen der Rechtssuchenden zeigen den konkreten Bedarf einer solchen Kontaktstelle für grenzüberschreitende Justizfragen, die in Europa bisher einzigartig ist.
Weitere Informationen unter www. cec-zev.eu/de/themen/justiz-ohne-grenzen. Dort findet sich auch das Kontaktformular, um eine Rechtsberatung anzufragen.