EU will Scheinselbstständigkeit eindämmen
Millionen Beschäftigte von Plattformen haben künftig bessere Chancen auf finanzielle und soziale Absicherung. Eine entsprechende EU-Richtlinie kam durch den äußerst seltenen Vorgang zustande, dass die kleinen EUMitglieder die Schwergewichte Deutschland un
(SZ/dpa) Millionen Lieferdienst- und Taxifahrer großer Online-Plattformen können auf bessere Arbeitsbedingungen hoffen. Die EU-Staaten sprachen sich für neue Vorgaben aus, um etwa Scheinselbstständigkeit besser zu verhindern, wie die belgische EU-Ratspräsidentschaft am Montag mitteilte. Das Europaparlament hat dem Vorhaben am Dienstag zugestimmt.
Den Angaben der EU-Staaten zufolge arbeiten Millionen von Menschen in der Union als sogenannte Plattformarbeiter. Wenn künftig Indizien etwa auf eine Kontrolle der Mitarbeiter vorliegen, wird den neuen Regeln zufolge angenommen, dass sie Beschäftigte und keine Selbstständigen sind. Die Beweispflicht liege bei den Plattformen – sie müssten beweisen, dass kein Beschäftigungsverhältnis bestehe. Beschäftigte können den Angaben zufolge auch
besseren Zugang zu Bezahlung bei Krankheit, Leistungen bei Arbeitslosigkeit oder Einkommensunterstützung erhalten.
Zudem soll verboten werden, dass automatisierte Überwachungs- oder Entscheidungsfindungssysteme bestimmte Daten verwenden. Dazu zählen biometrische Daten oder der emotionale oder psychologische Zustand von Mitarbeitern.
Eigentlich hatten sich Unterhändler der EU-Staaten und des Parlaments bereits zweimal auf einen Kompromiss geeinigt. Die Deals platzen aber wieder, und es brauchte weitere Gespräche. Dabei war es
vor allem schwierig, innerhalb der EU-Staaten eine Mehrheit zu finden.
Beim Zustandekommen des EURechtes kam es indes zu einem verblüffenden Sieg der Kleinen gegen die Großen: Ausgerechnet die größten und eigentlich einflussreichsten EU-Staaten Deutschland und Frankreich gingen als Verlierer vom Feld der EU-Arbeits- und Sozialminister. Denn gemessen am Europa der 27 sind auch die beiden Großen nicht groß genug, um die Richtlinie auf den letzten Metern noch zu stoppen.
55 Prozent der EU-Staaten mit 65 Prozent der Bevölkerung müssen einem Kompromiss zustimmen, da
mit der ins EU-Gesetzblatt kommt. Gewöhnlich sind die Schlussrunden durch Rat und Parlament nur noch eine Formalie, denn beide Seiten haben sich schließlich zuvor nach zähem und oft auch nächtelangem Ringen auf einen Kompromiss verständigt, mit dem sich am Ende alle arrangieren können.
Doch zum wiederholten Mal wurde die letzte Drehung bei der Plattform-Verständigung zur Hürde. Weil die FDP in Deutschland die Freiberufler in Gefahr sah, blockierte sie einen ersten Kompromiss. Daraufhin unternahm die spanische Ratspräsidentschaft einen neuen Anlauf, erzielte eine neuerlich abgespeckte Verständigung und doch war keine ausreichende Mehrheit in Sicht.
Denn die deutsche Enthaltung und das französische Nein wurden ergänzt mit den Stimmen aus Griechenland und Estland, die ebenfalls nicht mehr zum Kompromiss standen. Es begann ein immenser Druck hinter den Kulissen. Sowohl innerhalb des Parlamentes als auch im Rat kam es zu Gesprächen auf den verschiedensten Ebenen. Schließlich geht es um eine immens wachsende Branche mit bald 40 Millionen Beschäftigten minderer Rechte – und um die letzte Ausfahrt vor dem Ende der Wahlperiode. Zweimal hatten Griechen und Esten bereits zur Sperrminorität beigetragen, als am späten Montagabend beim Treffen der Arbeits- und Sozialminister das Thema ein letztes Mal aufgerufen wurde.
Und zur großen Überraschung der übrigen 25 Ministerinnen und Minister entschieden sich die beiden Länder, ihre Position zu ändern und ins Ja-Lager zu wechseln. „Danke für die Überraschung in letzter Minute“, lautete der erste Kommentar des belgischen Vize-Regierungschefs PierreYves Dermagne – in lauten Beifall der meisten anderen Teilnehmer hinein. „25 Mitgliedsstaaten haben Deutschland und Frankreich ins politische Abseits gestellt“, meinte ein hocherfreuter Plattform-Verhandler Dennis Radtke am Rande der Straßburger Parlamentssitzung. Die Uber-Fahrer würden jetzt in eine Position gebracht, wirksam ihre Rechte durchsetzen zu können.