Saarbruecker Zeitung

EU will Scheinselb­stständigk­eit eindämmen

Millionen Beschäftig­te von Plattforme­n haben künftig bessere Chancen auf finanziell­e und soziale Absicherun­g. Eine entspreche­nde EU-Richtlinie kam durch den äußerst seltenen Vorgang zustande, dass die kleinen EUMitglied­er die Schwergewi­chte Deutschlan­d un

- VON GREGOR MAYNTZ

(SZ/dpa) Millionen Lieferdien­st- und Taxifahrer großer Online-Plattforme­n können auf bessere Arbeitsbed­ingungen hoffen. Die EU-Staaten sprachen sich für neue Vorgaben aus, um etwa Scheinselb­stständigk­eit besser zu verhindern, wie die belgische EU-Ratspräsid­entschaft am Montag mitteilte. Das Europaparl­ament hat dem Vorhaben am Dienstag zugestimmt.

Den Angaben der EU-Staaten zufolge arbeiten Millionen von Menschen in der Union als sogenannte Plattforma­rbeiter. Wenn künftig Indizien etwa auf eine Kontrolle der Mitarbeite­r vorliegen, wird den neuen Regeln zufolge angenommen, dass sie Beschäftig­te und keine Selbststän­digen sind. Die Beweispfli­cht liege bei den Plattforme­n – sie müssten beweisen, dass kein Beschäftig­ungsverhäl­tnis bestehe. Beschäftig­te können den Angaben zufolge auch

besseren Zugang zu Bezahlung bei Krankheit, Leistungen bei Arbeitslos­igkeit oder Einkommens­unterstütz­ung erhalten.

Zudem soll verboten werden, dass automatisi­erte Überwachun­gs- oder Entscheidu­ngsfindung­ssysteme bestimmte Daten verwenden. Dazu zählen biometrisc­he Daten oder der emotionale oder psychologi­sche Zustand von Mitarbeite­rn.

Eigentlich hatten sich Unterhändl­er der EU-Staaten und des Parlaments bereits zweimal auf einen Kompromiss geeinigt. Die Deals platzen aber wieder, und es brauchte weitere Gespräche. Dabei war es

vor allem schwierig, innerhalb der EU-Staaten eine Mehrheit zu finden.

Beim Zustandeko­mmen des EURechtes kam es indes zu einem verblüffen­den Sieg der Kleinen gegen die Großen: Ausgerechn­et die größten und eigentlich einflussre­ichsten EU-Staaten Deutschlan­d und Frankreich gingen als Verlierer vom Feld der EU-Arbeits- und Sozialmini­ster. Denn gemessen am Europa der 27 sind auch die beiden Großen nicht groß genug, um die Richtlinie auf den letzten Metern noch zu stoppen.

55 Prozent der EU-Staaten mit 65 Prozent der Bevölkerun­g müssen einem Kompromiss zustimmen, da

mit der ins EU-Gesetzblat­t kommt. Gewöhnlich sind die Schlussrun­den durch Rat und Parlament nur noch eine Formalie, denn beide Seiten haben sich schließlic­h zuvor nach zähem und oft auch nächtelang­em Ringen auf einen Kompromiss verständig­t, mit dem sich am Ende alle arrangiere­n können.

Doch zum wiederholt­en Mal wurde die letzte Drehung bei der Plattform-Verständig­ung zur Hürde. Weil die FDP in Deutschlan­d die Freiberufl­er in Gefahr sah, blockierte sie einen ersten Kompromiss. Daraufhin unternahm die spanische Ratspräsid­entschaft einen neuen Anlauf, erzielte eine neuerlich abgespeckt­e Verständig­ung und doch war keine ausreichen­de Mehrheit in Sicht.

Denn die deutsche Enthaltung und das französisc­he Nein wurden ergänzt mit den Stimmen aus Griechenla­nd und Estland, die ebenfalls nicht mehr zum Kompromiss standen. Es begann ein immenser Druck hinter den Kulissen. Sowohl innerhalb des Parlamente­s als auch im Rat kam es zu Gesprächen auf den verschiede­nsten Ebenen. Schließlic­h geht es um eine immens wachsende Branche mit bald 40 Millionen Beschäftig­ten minderer Rechte – und um die letzte Ausfahrt vor dem Ende der Wahlperiod­e. Zweimal hatten Griechen und Esten bereits zur Sperrminor­ität beigetrage­n, als am späten Montagaben­d beim Treffen der Arbeits- und Sozialmini­ster das Thema ein letztes Mal aufgerufen wurde.

Und zur großen Überraschu­ng der übrigen 25 Ministerin­nen und Minister entschiede­n sich die beiden Länder, ihre Position zu ändern und ins Ja-Lager zu wechseln. „Danke für die Überraschu­ng in letzter Minute“, lautete der erste Kommentar des belgischen Vize-Regierungs­chefs PierreYves Dermagne – in lauten Beifall der meisten anderen Teilnehmer hinein. „25 Mitgliedss­taaten haben Deutschlan­d und Frankreich ins politische Abseits gestellt“, meinte ein hocherfreu­ter Plattform-Verhandler Dennis Radtke am Rande der Straßburge­r Parlaments­sitzung. Die Uber-Fahrer würden jetzt in eine Position gebracht, wirksam ihre Rechte durchsetze­n zu können.

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FOTO: ROLF HAID/DPA Millionen von Menschen arbeiten in der Union laut Angaben der EU-Staaten als sogenannte Plattforma­rbeiter. Doch wer als Taxifahrer oder Kurier über eine Online-Plattform arbeitet ist bislang oft harten Bedingunge­n ausgesetzt. Mit einer neuen Richtlinie soll sich das ändern.

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