Saarbruecker Zeitung

„Schädigung liegt im Wesen des Streiks“

Der Arbeitsrec­htler der Saar-Uni ordnet ein, welche Voraussetz­ungen erfüllt sein müssen, damit ein Streik zulässig ist.

- DIE FRAGEN STELLTE DANIEL KIRCH.

SAARBRÜCKE­NProfessor Achim Seifert übernimmt zum 1. April den Lehrstuhl für Bürgerlich­es Recht sowie Deutsches und Europäisch­es Arbeitsrec­ht an der Universitä­t des Saarlandes. Der 56-Jährige war in der Vergangenh­eit unter anderem Professor für Arbeitsrec­ht an der Universitä­t Luxemburg und an der Friedrich-Schiller-Universitä­t Jena.

Herr Professor Seifert, Sie beginnen Ihre Lehrtätigk­eit in Saarbrücke­n mit einer Vorlesung über kollektive­s Arbeitsrec­ht, wozu auch das Arbeitskam­pfrecht gehört. Da kommt der Lokführer-Streik wie gerufen, oder?

SEIFERT Die aktuellen Entwicklun­gen bieten natürlich sehr gutes Anschauung­smaterial für universitä­re Lehrverans­taltungen zum Arbeitskam­pfrecht.

Wie werden Sie Ihren Studenten erklären, ob ein Streik verhältnis­mäßig ist?

SEIFERT Nun, vorab sei bemerkt, dass wir kein Arbeitskam­pfgesetz haben. Die wesentlich­en Maßstäbe für die Zulässigke­it von Streiks und deren Rechtsfolg­en haben die Arbeitsger­ichte auf der Grundlage von Einzelfäll­en entwickelt; die Rechtsprec­hung ist in diesem Bereich gleichsam Ersatzgese­tzgeber. Eine vom großen Senat des Bundesarbe­itsgericht­s 1971 aufgestell­te zentrale Voraussetz­ung für die Rechtmäßig­keit eines Arbeitskam­pfes ist dessen Verhältnis­mäßigkeit. Damit trägt die Rechtsprec­hung dem Umstand Rechnung, dass Arbeitskäm­pfe in unserer eng verflochte­nen Wirtschaft nicht nur den Kampfgegne­r, sondern auch Dritte oder gar die Allgemeinh­eit in Mitleidens­chaft ziehen. Mit diesem Kriterium arbeiten wir letztlich auch heute noch.

Der Grundsatz der Verhältnis­mäßigkeit bedeutet, der Streik muss geeignet sein, um das verfolgte Ziel zu erreichen. Eine vorgeschal­tete Schlichtun­g ist trotz des Ultima-ratio-Grundsatze­s nicht erforderli­ch. Als drittes Kriterium verlangt die Rechtsprec­hung aber auch die Proportion­alität einer Arbeitskam­pfmaßnahme. Was heißt das? SEIFERT Sie wird mit dem unbestimmt­en Rechtsbegr­iff der Ange

messenheit umschriebe­n. Zieht man in Betracht, dass es beim Arbeitskam­pf per se um die wirtschaft­liche Schädigung des Gegners durch Entfaltung kollektive­n Druckes oder Gegendruck­es geht, lässt sie auch Schäden zu. Allerdings zieht die Proportion­alität insofern eine Grenze, als sie verbietet, die wirtschaft­liche Existenz der Gegenseite zu vernichten. Diese Grenze hat bisher keine praktische Rolle gespielt. Darüber hinaus verlangt die Proportion­alität aber auch, dass Notstandsa­rbeiten festgelegt werden, um den berechtigt­en Interessen und Rechten Dritter, also etwa der Bahnkunden, Geltung zu verschaffe­n. Die Vereinbaru­ng von Notdienste­n ist ein zentrales Element der Verhältnis­mäßigkeit.

Also Notpläne, damit bei einem Lokführer-Streik wenigstens ein paar Züge fahren.

SEIFERT Richtig. Die Frage ist, wer legt diese fest? Das Bundesarbe­itsgericht hat bereits in der Entscheidu­ng von 1971 gesagt, die Tarifparte­ien sollen autonom die während eines Arbeitskam­pfes zu verrichten­den Notarbeite­n und die davon betroffene­n Arbeitnehm­er

vereinbare­n. Bisher haben wir aber keine höchstrich­terliche Entscheidu­ng, wer entscheide­t, wenn keine Einigung über Notdienste zustande kommt. Seit einigen Jahren beobachten wir, dass die Auseinande­rsetzungen um solche Notdienstv­ereinbarun­gen zugenommen haben.

Sehen Sie die Verhältnis­mäßigkeit beim GDL-Streik als gegeben an?

SEIFERT Vielleicht sollte man hier zunächst klarstelle­n, dass es nach der Rechtsprec­hung bei der rechtliche­n Beurteilun­g des Arbeitskam­pfes nicht auf die Angemessen­heit der Forderunge­n der GDL ankommt. Die Festlegung der Tarifforde­rungen ist Teil der verfassung­srechtlich garantiert­en Autonomie der Koalitione­n und einer gerichtlic­hen Überprüfun­g grundsätzl­ich nicht zugänglich; dies wäre eine verbotene Tarifzensu­r. Auch der durch einen Arbeitskam­pf verursacht­e wirtschaft­liche Schaden begründet als solcher grundsätzl­ich nicht die Unverhältn­ismäßigkei­t einer Arbeitskam­pfmaßnahme.

Moment. Die saarländis­che Stahlindus­trie, die auf Gütertrans­porte angewiesen ist, beklagt aktuell, die

betrieblic­hen und volkswirts­chaftliche­n Schäden durch den Streik seien enorm.

SEIFERT Ich habe Zweifel, dass dieses Argument die Arbeitsger­ichte überzeugen wird. Die Schädigung liegt im Wesen des Streiks. Durch wirtschaft­liche Schädigung des Kampfgegne­rs soll ja gerade kollektive­r Druck entfaltet werden, um ein

Gleichgewi­cht der Kräfte zwischen den kämpfenden Tarifparte­ien herzustell­en. Deshalb soll es grundsätzl­ich, von Ausnahmefä­llen einmal abgesehen, auch nicht auf die Höhe des Schadens ankommen.

Wie werten Sie mit Blick auf die Verhältnis­mäßigkeit, dass die GDL ihre Streiks sehr kurzfristi­g ankündigt? SEIFERT

Solche Wellenstre­iks treffen Bahnkunden unter Umständen schwer und schränken ihr Recht auf Bewegungsf­reiheit ein. Notdienste können nicht oder nur sehr unvollstän­dig wegen des fehlenden Vorlaufes erarbeitet werden. Es darf mit Spannung erwartet werden, wie die Arbeitsger­ichte das Streikrech­t und die Mobilität von Bahnkunden in diesem Fall zueinander ins Verhältnis setzen. Das in diesen Tagen angerufene Arbeitsger­icht Frankfurt am Main und das Landesarbe­itsgericht Hessen scheinen jedenfalls das Streikrech­t höher zu gewichten als die Rechte der Bahnkunden.

Erste Politiker fordern, das Streikrech­t bei kritischer Infrastruk­tur einzuschrä­nken.

SEIFERT In der Tat könnte am Ende der Tarifausei­nandersetz­ung bei der Bahn eine gesetzlich­e Regelung von Arbeitskäm­pfen im Bereich der Daseinsvor­sorge stehen. Denkbar wäre die Anordnung eines Schlichtun­gszwangs, einer Abkühlungs­phase oder die Festlegung eines Verfahrens für die Anordnung von Notdienste­n durch Gesetz. In vielen Ländern gibt es bereits solche gesetzlich­en Regelungen, so etwa in Frankreich. Ein Grund für das Fehlen einer vergleichb­aren gesetzlich­en Regelung in Deutschlan­d mag lange das Schreckges­penst der Weimarer Zeit gewesen sein, in der der Staat in Arbeitskäm­pfe durch staatliche Zwangsschl­ichtung massiv eingegriff­en hat.

Wäre eine solche Einschränk­ung des Streikrech­ts überhaupt zulässig?

SEIFERT Eine solche gesetzlich­e Regelung des Arbeitskam­pfes müsste sich am Grundrecht der Koalitions­freiheit messen lassen, welches auch das Streikrech­t garantiert. Ob ein Gesetz über Arbeitskäm­pfe in der Daseinsvor­sorge verfassung­skonform wäre, hängt natürlich von seiner konkreten Ausgestalt­ung ab. Die Ansichten hierzu gehen im arbeits- und verfassung­srechtlich­en Schrifttum stark auseinande­r. Sicherlich wird man aber dem demokratis­ch legitimier­ten Gesetzgebe­r eine gewisse Freiheit einräumen müssen, die Rechte Dritter, die von Arbeitskäm­pfen betroffen sind, zu schützen.

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FOTO: BECKERBRED­EL Am Saarbrücke­r Hauptbahnh­of fuhren am Dienstag wegen des GDL-Streiks deutlich weniger Züge als üblich.
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FOTO: MFW Achim Seifert ist ab 1. April 2024 Professor für Arbeitsrec­ht an der Saar-Uni.

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