„Schädigung liegt im Wesen des Streiks“
Der Arbeitsrechtler der Saar-Uni ordnet ein, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Streik zulässig ist.
SAARBRÜCKENProfessor Achim Seifert übernimmt zum 1. April den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht sowie Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht an der Universität des Saarlandes. Der 56-Jährige war in der Vergangenheit unter anderem Professor für Arbeitsrecht an der Universität Luxemburg und an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Herr Professor Seifert, Sie beginnen Ihre Lehrtätigkeit in Saarbrücken mit einer Vorlesung über kollektives Arbeitsrecht, wozu auch das Arbeitskampfrecht gehört. Da kommt der Lokführer-Streik wie gerufen, oder?
SEIFERT Die aktuellen Entwicklungen bieten natürlich sehr gutes Anschauungsmaterial für universitäre Lehrveranstaltungen zum Arbeitskampfrecht.
Wie werden Sie Ihren Studenten erklären, ob ein Streik verhältnismäßig ist?
SEIFERT Nun, vorab sei bemerkt, dass wir kein Arbeitskampfgesetz haben. Die wesentlichen Maßstäbe für die Zulässigkeit von Streiks und deren Rechtsfolgen haben die Arbeitsgerichte auf der Grundlage von Einzelfällen entwickelt; die Rechtsprechung ist in diesem Bereich gleichsam Ersatzgesetzgeber. Eine vom großen Senat des Bundesarbeitsgerichts 1971 aufgestellte zentrale Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit eines Arbeitskampfes ist dessen Verhältnismäßigkeit. Damit trägt die Rechtsprechung dem Umstand Rechnung, dass Arbeitskämpfe in unserer eng verflochtenen Wirtschaft nicht nur den Kampfgegner, sondern auch Dritte oder gar die Allgemeinheit in Mitleidenschaft ziehen. Mit diesem Kriterium arbeiten wir letztlich auch heute noch.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedeutet, der Streik muss geeignet sein, um das verfolgte Ziel zu erreichen. Eine vorgeschaltete Schlichtung ist trotz des Ultima-ratio-Grundsatzes nicht erforderlich. Als drittes Kriterium verlangt die Rechtsprechung aber auch die Proportionalität einer Arbeitskampfmaßnahme. Was heißt das? SEIFERT Sie wird mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der Ange
messenheit umschrieben. Zieht man in Betracht, dass es beim Arbeitskampf per se um die wirtschaftliche Schädigung des Gegners durch Entfaltung kollektiven Druckes oder Gegendruckes geht, lässt sie auch Schäden zu. Allerdings zieht die Proportionalität insofern eine Grenze, als sie verbietet, die wirtschaftliche Existenz der Gegenseite zu vernichten. Diese Grenze hat bisher keine praktische Rolle gespielt. Darüber hinaus verlangt die Proportionalität aber auch, dass Notstandsarbeiten festgelegt werden, um den berechtigten Interessen und Rechten Dritter, also etwa der Bahnkunden, Geltung zu verschaffen. Die Vereinbarung von Notdiensten ist ein zentrales Element der Verhältnismäßigkeit.
Also Notpläne, damit bei einem Lokführer-Streik wenigstens ein paar Züge fahren.
SEIFERT Richtig. Die Frage ist, wer legt diese fest? Das Bundesarbeitsgericht hat bereits in der Entscheidung von 1971 gesagt, die Tarifparteien sollen autonom die während eines Arbeitskampfes zu verrichtenden Notarbeiten und die davon betroffenen Arbeitnehmer
vereinbaren. Bisher haben wir aber keine höchstrichterliche Entscheidung, wer entscheidet, wenn keine Einigung über Notdienste zustande kommt. Seit einigen Jahren beobachten wir, dass die Auseinandersetzungen um solche Notdienstvereinbarungen zugenommen haben.
Sehen Sie die Verhältnismäßigkeit beim GDL-Streik als gegeben an?
SEIFERT Vielleicht sollte man hier zunächst klarstellen, dass es nach der Rechtsprechung bei der rechtlichen Beurteilung des Arbeitskampfes nicht auf die Angemessenheit der Forderungen der GDL ankommt. Die Festlegung der Tarifforderungen ist Teil der verfassungsrechtlich garantierten Autonomie der Koalitionen und einer gerichtlichen Überprüfung grundsätzlich nicht zugänglich; dies wäre eine verbotene Tarifzensur. Auch der durch einen Arbeitskampf verursachte wirtschaftliche Schaden begründet als solcher grundsätzlich nicht die Unverhältnismäßigkeit einer Arbeitskampfmaßnahme.
Moment. Die saarländische Stahlindustrie, die auf Gütertransporte angewiesen ist, beklagt aktuell, die
betrieblichen und volkswirtschaftlichen Schäden durch den Streik seien enorm.
SEIFERT Ich habe Zweifel, dass dieses Argument die Arbeitsgerichte überzeugen wird. Die Schädigung liegt im Wesen des Streiks. Durch wirtschaftliche Schädigung des Kampfgegners soll ja gerade kollektiver Druck entfaltet werden, um ein
Gleichgewicht der Kräfte zwischen den kämpfenden Tarifparteien herzustellen. Deshalb soll es grundsätzlich, von Ausnahmefällen einmal abgesehen, auch nicht auf die Höhe des Schadens ankommen.
Wie werten Sie mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit, dass die GDL ihre Streiks sehr kurzfristig ankündigt? SEIFERT
Solche Wellenstreiks treffen Bahnkunden unter Umständen schwer und schränken ihr Recht auf Bewegungsfreiheit ein. Notdienste können nicht oder nur sehr unvollständig wegen des fehlenden Vorlaufes erarbeitet werden. Es darf mit Spannung erwartet werden, wie die Arbeitsgerichte das Streikrecht und die Mobilität von Bahnkunden in diesem Fall zueinander ins Verhältnis setzen. Das in diesen Tagen angerufene Arbeitsgericht Frankfurt am Main und das Landesarbeitsgericht Hessen scheinen jedenfalls das Streikrecht höher zu gewichten als die Rechte der Bahnkunden.
Erste Politiker fordern, das Streikrecht bei kritischer Infrastruktur einzuschränken.
SEIFERT In der Tat könnte am Ende der Tarifauseinandersetzung bei der Bahn eine gesetzliche Regelung von Arbeitskämpfen im Bereich der Daseinsvorsorge stehen. Denkbar wäre die Anordnung eines Schlichtungszwangs, einer Abkühlungsphase oder die Festlegung eines Verfahrens für die Anordnung von Notdiensten durch Gesetz. In vielen Ländern gibt es bereits solche gesetzlichen Regelungen, so etwa in Frankreich. Ein Grund für das Fehlen einer vergleichbaren gesetzlichen Regelung in Deutschland mag lange das Schreckgespenst der Weimarer Zeit gewesen sein, in der der Staat in Arbeitskämpfe durch staatliche Zwangsschlichtung massiv eingegriffen hat.
Wäre eine solche Einschränkung des Streikrechts überhaupt zulässig?
SEIFERT Eine solche gesetzliche Regelung des Arbeitskampfes müsste sich am Grundrecht der Koalitionsfreiheit messen lassen, welches auch das Streikrecht garantiert. Ob ein Gesetz über Arbeitskämpfe in der Daseinsvorsorge verfassungskonform wäre, hängt natürlich von seiner konkreten Ausgestaltung ab. Die Ansichten hierzu gehen im arbeits- und verfassungsrechtlichen Schrifttum stark auseinander. Sicherlich wird man aber dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber eine gewisse Freiheit einräumen müssen, die Rechte Dritter, die von Arbeitskämpfen betroffen sind, zu schützen.